28. Mai 2008

Zettels Meckerecke: Oskar Lafontaine läßt uns an seiner Bildung teilhaben. Nebst zweimal Dittsche

Oskar Lafontaine ist ein gebildeter Mann. Wer daran Zweifel hatte, der lese die Rede, die er auf dem Cottbuser Parteitag seiner Partei gehalten hat.

Wenn er diese Rede gelesen hat, dann wird er sich in seinen Zweifeln bestärkt finden. Denn wie Lafontaine da mit Angelesenem, aber Unverstandenem um sich wirft, das ist schon beeindruckend.

Oder verbirgt sich hinter scheinbar Unverstandenem am Ende doch mehr Verstandenes, als es scheint?



Schauen wir zu. Nehmen wir zunächst eine Textpassage, die mit einem Marx- Engels- Zitat beginnt, einem Zitat aus der "Deutschen Ideologie":
"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken. Das heißt, die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht." Diese Analyse der Vordenker der Arbeiterbewegung hatte Goethe schon seinem Faust vorweg genommen. "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln."
Wow! Goethe als Vorläufer des historischen Materialismus!

Da sehen wir doch einmal nach, wo dieses Zitat steht. Es steht im "Faust I", in der Szene "Nacht". Dort unterhalten sich Faust und Wagner, tja, worüber? Darüber, wie das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt? Nicht so ganz.

Wie in allen Passagen dieses Gesprächs verkündet auch hier Wagner einen Gemeinplatz, und Faust rückt ihn zurecht, ironisiert ihn mit galligem Witz, macht sich darüber lustig:
Wagner:

Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht.

Faust:

O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Wie wir sehen, sind die "Herren", von denen da Faust spricht, mitnichten die Herrschende Klasse, wie Lafontaine sich das offenbar vorstellt; sondern es sind diejenigen, die sich über den Geist früherer Zeiten ihre Gedanken machen.

Und das "bespiegeln", wozu dem Genossen Lafontaine offenbar das "Widerspiegeln" bei Marx und Engels einfiel, hat damit, hat mit ökonomischer Basis und kulturellem Überbau auch nichts zu tun.

Sondern als der Phänomenologe, der er auch hier ist, läßt Goethe den Faust einen sehr Goethe'schen Gedanken formulieren: Daß wir nur das erkennen können, was in uns selbst angelegt ist ("Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken").

Lafontaine hat so ungefähr das Dümmste gemacht, was einem beim Zitieren passieren kann: Er hat zwei Wörter ("Herren", "bespiegeln") in einem Zitat entdeckt und sich um sie herum einen Sinn dieser Textstelle ausgedacht, der mit derem tatsächlichen Inhalt ungefähr so viel zu tun hat wie ein alter Schuh, den jemand aus dem See angelt, mit dem erhofften Zander.

Das war also wohl nichts, Lafontaine. Setzen, sechs.



Vielleicht ist es um Lafontaines zur Schau getragenen Bildung besser bestellt, wenn wir in die Gegenwart gehen, ins Zwanzigste Jahrhundert? Denn auch aus der Moderne fliegen Lafontaine die Zitate nur so zu - Walter Benjamin, Horkheimer, Ardorno, Majakowski. Das volle Programm, würde Dittsche sagen.

Und Peter Hacks zitiert er, der gebildete Oskar Lafontaine. Ihn bringt er in seiner Rede folgendermaßen unter:
Heute appelliere ich an euren Mut, gegen den Strom zu schwimmen, damit der Zorn des Peter Hacks, den er in einem Vers über die Partei niedergeschrieben hat, uns nicht eines Tages trifft: "Sie haben keine Traute, ihr Busen ist verwirrt. Und wer je auf sie baute, hat sich verdammt geirrt." So soll es nicht heißen über uns, liebe Freundinnen und Freunde! Aber dafür müssen wir uns wirklich anstrengen!
Auch da wollen wir wieder einen Blick auf das vom Autor tatsächlich Gemeinte werfen. Die Zeilen, die Lafontaine zitiert, stammen aus dem Gedicht "Die Partei", das Hacks nach der Wende schrieb. Man findet es bei Peter Hacks.de abgedruckt:
Peter Hacks

Die Partei

Von zwei Millionen blieben
Kaum eine Handvoll grad.
Es hat sie aufgerieben
Gorbatschows Verrat.

Sie haben keine Traute.
Ihr Busen ist verwirrt.
Und wer je auf sie baute,
Hat sich verdammt geirrt.

Ach, Volk, du obermieses,
Auf dich ist kein Verlaß.
Heute willst du dieses.
Morgen willst du das.

Doch wenn sich die Dinge ändern,
Die Dinge und das Glück,
Von ihren Grabesrändern
Humpeln sie kichernd zurück.

Und lassen das Gekränkel
Und zeigen und kichern dabei
Auf ihrer Kinder und Enkel
Viermillionenpartei.

in: ders., Werke, Bd. 1, S. 303
(c) Eulenspiegel Verlag, Berlin 2003
Ein Gedicht also, in dem Hacks seine Verachtung für "Gorbatschows Verrat" und für das Volk, das "obermiese" ausdrückt, das sich von der SED abwandte.

Ein Gedicht, in dem er beklagt, daß "die Partei" (also die PDS) nicht mehr die alte SED ist. Aber wenn sich erst einmal "die Dinge ändern, die Dinge und das Glück" ... Dann, so teilt uns Hacks seine Hoffnung, vielleicht seine Erwartung mit, werden es am Ende statt der zwei Millionen, die in der DDR zur SED gehörten, in der Bundesrepublik vier Millionen sein. Dann ist Schluß mit dem "Gekränkel".

Ob sich auch hier, wie bei Goethe, der Genosse Lafontaine nicht um den Sinn des Textes gekümmert hat, aus dem er zitiert?

Man weiß es nicht, sagt Dittsche, um ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Und zwar korrekt zitiert.



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