19. Mai 2008

Wir Achtundsechziger (7): Eine deutsche, eine sehr deutsche Bewegung

Daß es um 1970 herum weltweit zu einer Jugendbewegung kam, lag - so habe ich argumentiert - an einem Umbruch der Generationen: Die Moral der Generation der Eltern und der Großeltern, die diese unter den harten Anforderungen der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts hatten haben müssen, paßte nicht mehr für eine in Frieden und wachsendem Wohlstand aufgewachsene Generation.

Das war weltweit so. In San Francisco und in Paris, in Berlin und in Prag, in Rom und selbst in Peking lebte es sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre ungleich besser, als diejenigen es jemals kennengelernt hatten, die in den Kriegs- und Krisenzeiten ab 1914 aufgewachsen waren.

Das neue Lebensgefühl, die neuen Lebensansprüche der Nachkriegsgeneration suchten sich ihre Moral. Das war - so meine These - der Kern dieser Bewegung und der Grund dafür, daß es eine weltweite Bewegung war.

Aber vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit einer Generation gab es große nationale Unterschiede. Überall zeigte sich nationale Prägung, wurden nationale Traditionen aufgegriffen.

Der Mai 1968 in Frankreich war eine Inszenierung nach dem Vorbild der Grande Révolution. Die Hippies an der amerikanischen Westküste waren Nachfahren der Pioniere, die einst diesen Westen erobert hatten; das war eine Grass Root Revolution, ein Zurück zu den Wurzeln.

In Prag versuchte man, leise und mit List dem Kommunismus zu entkommen, so wie es in der Tradition eines kleinen Volks lag, das sich traditionell auf diesem Weg gegen die Großen ringsum zu behaupten versucht hatte. In Italien agierten die Brigate Rosse in der Tradition der sehr italienischen Verquickung von Politik und Verbrechen, die sich bis in die Zeit der Borgias zurückverfolgen läßt; halb Garibaldi, halb Rinaldo Rinaldini.



Auch in Deutschland war die Jugendrevolte durch solche nationalen Besonderheiten geprägt; sie trug die Spuren der Romantik ebenso wie diejenige der Hegel- Marx'schen Tradition, die Politik philosophisch zu überhöhen.

Aber dann gab es auch noch Aktuelleres, Zeitgeschichtlicheres. Es gab die Prägung, die diese Generation durch die vorausgehenden Jahrzehnte deutscher Geschichte erfahren hatte.

Es war eine widersprüchliche Prägung. Einerseits waren diese jungen Leute, wie man zu sagen pflegt, "die Kinder ihrer Eltern". Sie waren von diesen viel mehr beeinflußt, als sie dachten. Sie waren ihren Eltern viel ähnlicher, als sie es wahrhaben wollten.

Andererseits rebellierten sie gegen diese Eltern, erbitterter als irgendwo sonst, außer in China. Beides zusammen machte das Spezifische dieser deutschen Variante der globalen Jugendbewegung aus. Zu beiden Aspekten nun ein paar Erläuterungen.



Seine eigene Ähnlichkeit mit anderen merkt man selten; man sieht stets eher die Unterschiede. Daß Kinder ihren Eltern ähnlich sehen, bemerken Außenstehende sofort, die Kinder selbst selten. So ist es auch mit Charakterzügen, mit Einstellungen und Anschauungen.

1968 war die Bonner Republik so alt, wie jetzt die Berliner Republik ist: Knapp zwanzig Jahre. Die Nazi- Zeit lag kaum länger zurück als heute die Zeit der DDR. Die Achtundsechziger waren so wenig in einer Umgebung mit einer stabilen, selbstverständlichen freiheitlich- demokratischen Tradition aufgewachsen wie ihre heutigen Altersgenossen, die in Rostock oder Cottbus groß wurden.

Und auch die Weimarer Republik, die heute nur noch Stoff von Geschichtsbüchern ist, war noch gegenwärtig. Wer um 1950 herum geboren war, dessen Eltern hatten sie noch als Kinder oder Jugendliche, dessen Großeltern hatten sie als Erwachsene erlebt. Mein Großvater hatte Geld aus der Inflationszeit aufbewahrt und erzählte mir, wie er später in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos wurde und was das für die Familie bedeutete.

Auch das Politikverständnis nicht nur der Nazizeit, sondern eben auch noch der Weimarer Zeit war für die Achtundsechziger lebendige Vergangenheit. Ein Verständnis von Politik, das im Andersdenkenden den Feind sah, den man bekämpfte, oft buchstäblich bis aufs Messer. Die Weimarer Republik war durchzogen gewesen von politischer Gewalt; von den Bluttaten der Freicorps und der Roten Ruhrarmee, von den Morden an Rosa Luxemburg und Walter Rathenau, vom Terror der SA und der Rotfront in den Jahren ihres Untergangs.

Daß die Achtundsechziger Bewegung in Deutschland in einem Ausmaß in politischer Kriminalität endete, wie das außer in China nirgendwo auf der Welt der Fall war, muß meines Erachtens in diesem Zusammenhang gesehen werden. So sehr die Achtundsechziger gegen ihre Eltern und Großeltern aufbegehrten - in vielem dachten sie wie diese.

Daß Politik nicht darin besteht, die Welt zu verändern, sondern Interessen auszugleichen; daß dem Andersdenkenden derselbe Respekt zusteht, den man für die eigene Meinung in Anspruch nimmt; daß Politik nicht auf der Straße gemacht wird, sondern in Wahlkabinen und in den Parlamenten - diese demokratischen Selbstverständlichkeiten waren den meisten deutschen Achtundsechzigern keineswegs selbstverständlich.

Die Reeducation, so nötig und so erfolgreich sie gewesen war, hatte noch nicht wirklich zu einer tiefgreifenden Änderung der Mentalität vieler Deutscher geführt; auch nicht in der Generation der in der Nachkriegszeit Geborenen. Der demokratische Firniß war noch dünn.

Und bei einer Minderheit war er so dünn, daß sie sich sogar das Recht nahm, Menschen zu ermorden, nur weil sie nicht dieselbe politische Gesinnung hatten wie sie selbst.



Insofern also waren die Achtundsechziger "Kinder ihrer Eltern". Andererseits wollten sie das eben nicht wahrhaben. Wie die Anderen weltweit rebellierten sie gegen die Eltern. Aber es war eine sehr spezielle Rebellion, eine viel problembeladenere.

Die Woodstock-Generation in den USA fand die Eltern spießig und angepaßt. Die Generation des Mai '68 in Frankreich fand sie unentschlossen und mutlos, weil sie nicht die Revolution machen wollte. Die deutschen Achtundsechziger aber sahen in ihren Eltern sehr oft moralische Versager, wenn nicht Handlanger des Verbrechens.

Je mehr meine Generation sich mit den Verbrechen der Nazis befaßte - und das geschah in den fünfziger, den sechziger Jahren durchaus, auch in der Schule -, umso drängender wurde die Frage, wie die Generation der Eltern so etwas hatte zulassen können, wieso die meisten sogar in irgendeiner Form mitgemacht hatten.

Einen Dialog darüber gab es kaum. Die Eltern - Menschen, die es ihr Leben lang schwer genug gehabt hatten - verstummten vor den Anklagen, dem selbstgerechten Moralisieren ihrer Kinder. Es war, was das Politische anging, eine Nicht- Kommunikation zwischen den Generationen, wie man sie sich heute als Jüngerer vermutlich kaum vorstellen kann.

Viele der Achtundsechziger wußten noch nicht einmal, was ihre Eltern eigentlich zwischen 1933 und 1945 gemacht, welche Funktionen und Ämter sie gehabt, was sie im Krieg erlebt hatten. Es war ein allgemeines Schweigen.

Wie lebt man als junger Mensch mit einer solchen Belastung? Es gab verschiedene Auswege. Man konnte sie einfach ignorieren, es sich im Konsum gut gehen lassen. Das taten sehr viele. Aber die Engagierteren, die Sensibleren suchten einen anderen Weg.



Was ich jetzt beschreibe, das ist eine Vermutung. Ich kann es nicht beweisen, aber es kommt mir plausibel vor: Mir scheint, daß viele der Achtundsechziger diesen, sagen wir, Schweige- Konflikt mit den Eltern zu bewältigen versuchten, indem sie das taten, was sie an ihren Eltern vermißten: Sie zogen in den Widerstand. Stellvertretend für die Eltern. Sie wollten das nachholen, was diese ihrer Ansicht nach versäumt hatten.

Die deutsche Achtundsechziger Bewegung bekam dadurch etwas Gespenstisches, Unwirkliches. Sie war ein Kampf gegen den Faschismus. Nur gab es diesen ja nicht mehr.

Also mußte man ihn erfinden. Die kommunistische Propaganda aus der DDR lieferte dazu viel an Grundlegung. Eine Kampagne nach der anderen rollte mit dem Ziel, einen führenden Politiker der Bundesrepublik als Nazi zu verunglimpfen; von dem "SA-Mann Schröder" (langjähriger Außen- und Innenminister; 1969 Heinemann als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten unterlegen) über den "NS-Propagandisten Kiesinger" bis zu dem "KZ-Baumeister Lübke" und dem "Kommentator der NS-Gesetze Globke".

Schon diese formelhafte Wiederholung der jeweiligen herabsetzenden Bezeichnung zeigt, wie hier Propaganda am Werk war. Aber wir Achtundsechziger glaubten dieser Propaganda nur allzu bereitwillig, die, aus der DDR gesteuert, über Medien wie "Konkret" verbreitet wurde und Mainstream- Medien wie den "Spiegel" und den "Stern" nicht unerheblich beeinflußte. Sie bewies für viele von uns, daß der Adenauer- Staat nur eine Fortsetzung des NS-Staats war; daß die "herrschenden Kreise", die den Nazis an die Macht verholfen hatten, weiter an den Schalthebeln saßen.

Wir glaubten das so sehr, daß der unglückliche Schuß eines überforderten Polizisten, der Benno Ohnesorg tötete, als Fanal eines neuen Faschismus gesehen, daß die Schüsse eines verwirrten Sonderlings auf Rudi Dutschke der "Springer- Presse" in die Schuhe geschoben wurden.

Es paßte ja alles ins Bild. Der Faschismus stand wieder vor der Tür; so bildete man es sich ein.

Aber diesmal, so dachten viele, würde man es nicht machen wie die Eltern. Man würde sich wehren. Das war der Nährboden dafür, daß die RAF-Mörder auf so viel heimliche, teils auch gar nicht so heimliche Zustimmung, ja auf Unterstützung rechnen konnten. Denn die hatten sie; die "klammheimliche Freude" des "Tupamaro" war kein Einzelfall.



Die Wahnvorstellung vom neuen Faschismus, den es zu bekämpfen gelte, stand in einem fast absurden Gegensatz zu einer Realität, die den Rebellierenden so viel Freiheiten ließ, wie sie sich nur wünschen konnten.

Jedenfalls war das in den ersten Jahren so.

Man "besetzte" an den Universitäten Dekanate und Rektorate; und die Rektoren und Dekane holten nicht etwa die Polizei, um dem Recht zur Geltung zu verhelfen, sondern sie verzogen sich in irgendwelche andere Räume, in denen der Betrieb notdürftig weiterging. Das "Sprengen" von ungeliebten Lehrveranstaltungen und Klausuren (in Statistik zum Beispiel) war an der Tagesordnung; und keiner der Täter wurde der Universität verwiesen.

Es war also einerseits eine Bereitschaft da, Gewalt anzuwenden; man kämpfte ja gegen den "Faschismus". ("Faschistoid" wurde zur beliebten Vokabel; so nannte man alles, das man bekämpfte und was so offensichtlich nicht faschistisch war, daß man dafür einen Ersatznamen brauchte). Und andererseits hatte man in den ersten Jahren der "Bewegung" die Erfahrung gemacht, wie leicht man "die Herrschenden" ins Bockshorn jagen konnte.

Beides zusammen führte ebenso zur Arroganz und maßlosen Selbstüberschätzung der K-Gruppen wie zum Terror der RAF.

Man führte, davon war man überzeugt, einen gerechten Kampf. Und der Gegner war schwach, ein "Papiertiger". So hatte man es bei Mao gelesen, und die "Praxis" der Aktionen, mit denen mißliebige Professoren fertiggemacht, mit denen Häuser widerrechtlich besetzt und Andersdenkende eingeschüchtert wurden, schien ihm Recht zu geben.

Diese "Herrschenden" waren sogar so dumm und naiv, daß sie im Mai 1970 einer "Ausführung" von Andreas Baader zustimmten und diesen so miserabel bewachen ließen, daß ihn mutige Revolutionäre befreien konnten. Was stand da dem "Bewaffneten Kampf in Westeuropa" noch im Weg?

Es war ein in seiner fürchterlichen Logik durchaus konsequenter Weg, der von dem kommunistisch gesteuerten linken "Widerstand" in der Adenauer- Zeit über die Rebellion der Jahre 1967 bis 1969 in die Kriminalität führte. Man kann das an der Lebensgeschichte von Ulrike Meinhof beispielhaft ablesen, der ich hier in ZR einmal eine kleine Serie gewidmet habe.



Viel mehr noch als in Deutschland wird in diesen Tagen in Frankreich auf die Achtundsechziger Zeit - dort als "Mai '68" firmierend - zurückgeblickt. Der Nouvel Observateur bietet im Web sogar eine tägliche Auswahl von Meldungen des jeweiligen Tags vor vierzig Jahren an.

Dort, in Frankreich kann man ganz überwiegend mit Stolz, die Jüngeren wohl auch ein wenig mit Neid, auf diese bewegte Zeit zurückblicken. Wir Deutsche können das nicht. Was als fröhliche Befreiung vom Muff der tausend Jahre begonnen hatte, endete bei uns mit der Bewunderung von Pol Pot, mit Entführungen und Morden.

Mir scheint im Rückblick, daß die Nachkriegszeit nicht 1967 oder 1968 zu Ende ging, als diese Bewegung begann, sondern erst im Herbst 1977, als sie so blutig endete, daß danach alle ihre Träume ausgeträumt waren.

Dies ist die letzte Folge der Serie "Wir Achtundsechziger". Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.