20. März 2008

Zettels OsterfragerEi (2): Warum gilt die Mathematik als grau und langweilig?

In der Schule habe ich mich immer für Mathematik interessiert und bin darin auch gut gewesen. Meist hatte ich eine Eins; nur nicht in dem Jahr, in dem wir die Logarithmen- Rechnung hatten. Die fand ich langweilig, und außerdem habe ich mich beim Nachschlagen und Rechnen ständig vertan. Aber das übrige - von der Euklidischen Geometrie bis zur Analysis und Analytischen Geometrie -, das fand ich immer sehr spannend.

Wie, lieber Leser, reagieren Sie auf dieses Bekenntnis? Ich vermute, ich bin Ihnen dadurch nicht sympathischer geworden. Ja, wenn ich geschrieben hätte: "In der Schule habe ich mich immer für Literatur interessiert und habe viel gelesen", dann hätte ich damit vermutlich in Ihren Augen gewonnen.

Aber Mathematik? Geben Sie's zu: Vor Ihrem geistigen Auge steht jetzt Zettel, ein vielleicht intelligenter, aber etwas verschrobener, weltfremder Mensch. Einer, dem es vermutlich an Phantasie fehlt und an Wärme; sonst hätte er sich als Schüler ja nicht in die abstrakte, blutleere Welt der Zahlen geflüchtet.

Nur ist sie ja nicht abstrakt und blutleer, die Mathematik. Sie kann sinnlich sein wie ein erotischer Roman, spannend wie ein Krimi. Sie hat einen ästhetischen Reiz, der von wenigen Kunstgattungen überboten wird. Die Mathematik ist bunt und aufregend.



Kennen Sie nicht diese Spannung, wenn man für einen mathematischen Satz einen Beweis sucht, dies und jenes probiert, und plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Ja, so, genau so, muß es gehen! Haben Sie das nie gehabt, diesen Musterfall eines Aha- Erlebnisses?

Nicht immer geht es so, genau so. Manchmal erweist sich der Geistesblitz als ein fahles Flämmchen, das schnell wieder verlischt. Aber wenn man es dann gefunden hat und jenes magische Q.E.D. unter die letzte Gleichung schreibt - was ist dagegen der Augenblick, wenn der Kommissar im Krimi die Verdächtigen um sich versammelt und den Fall aufklärt!

Er ist ein kleiner Triumph, dieser erfolgreiche Beweis. Aus einer Vermutung ist Gewißheit geworden. Und besonders schön ist es, wenn man einen "eleganten" Beweis gefunden hat. Denn Eleganz ist eine Grundkategorie der Mathematik. Wer spricht da von grau und langweilig?



Haben Sie nie den ästhetischen Reiz der Euklidischen Geometrie erlebt? Dieses perfekten Gebäudes, schöner als die meisten Werke der Architektur?

Es beginnt mit dem Punkt, dann kommt die Linie (die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten), die Gerade (die ins Unendliche erweiterte Linie). Es wird definiert, was ein Kreis ist, welche Dreiecke es gibt. Es werden Axiome eingeführt, allen voran das Parallelen- Axiom. Es beginnt mit dem Fundament, dem grundsoliden; wie auch sonst.

Und nachdem - um die Metapher zu wechseln - dieses kleine Schatzkästlein gefüllt ist wie ein Lego- Baukasten, Anfängerstufe, baut Euklid (und bauen seine Nachfolger; im Mathematik- Unterricht wird das ja selten Personen zugeordnet) daraus dieses gewaltige, perfekte Gebäude der Geometrie - erst in der Ebene, dann für Körper.

Es wird immer komplexer, aber es entsteht nie etwas, das nicht solide auf dem Vorausgehenden ruhen würde. Es hat alles eine wunderbare Logik. Nichts bleibt im Ungewissen. Etwas gilt entweder, oder es gilt nicht nicht. Und wenn es gilt, dann gilt es mit - ja, eben, mit mathematischer Gewißheit.



Und das alles kann man sowohl sehen als auch berechnen! Das war für mich, durch die ganze Schulzeit, das vielleicht größte Wunder der Mathematik, weit über die euklidische Geometrie hinaus: Diese Übereinstimmung des Gesehenen mit dem Gedachten.

Man kann einen Winkel in einem Dreieck berechnen, und man kann ihn mit dem Winkelmesser messen. Wenn man keinen Fehler gemacht hat, dann deckt sich das eine mit dem anderen. Man kann eine Parabel berechnen - die "Kurvendiskussionen", auch so ein Lieblingsthema meiner Schulzeit! - und sie dann säuberlich in die cartesianischen Koordinaten eintragen: Und siehe, sie verläuft genauso wie berechnet.

Anschauliche Geometrie und Algebra, analytische Geometrie: Da werden Geist und Materie miteinander verknüpft, die Idéa mit dem Sinnlichen, von dem Platon meinte, es liefere uns für sich genommen nie Wahrheit, sondern immer nur Doxa, nur Meinung.



Sie ist also nicht nur spannnend, die Mathematik, und sie ist nicht nur schön, sondern sie hat auch eine erhebliche philosophische Dimension. Viele große Philosophen waren der Mathematik verfallen, von den Pythagoräern und Platon über Descartes und Leibniz bis zu Wittgenstein und Bertrand Russell. Viele andere haben sie, wie Kant und Schopenhauer, geschätzt und betrieben, auch wenn sie in ihr nichts Eigenständiges geleistet haben.

Auf einen schönen Satz von Leibniz zur Mathematik bin ich vor ein paar Tagen gestoßen; und zwar in englischer Übersetzung. Deutsch heißt der Satz: "Indem Gott rechnet und die Dinge denkt, entsteht die Welt", und Leibniz schrieb ihn (auf Latein) an den Rand eines Manuskripts, des Dialogus.

Gefunden habe ich diesen Satz in einer aktuellen Meldung der vergangenen Woche. Sie berichtet über den diesjährigen Preisträger des Templeton Prize, des höchstdotierten aller Wissenschafts- Preise, der für Arbeiten an der Grenze zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und Theologie verliehen wird.

Dieser diesjährige Preisträger ist der polnische Theologe, Philosoph, Kosmologe und Mathematiker Michael Heller; und in einem Interview mit dem New Scientist zitierte er diesen Satz von Leibniz.

Er hatte ihn auch in einer Erklärung anläßlich der Zuerkennung des Preises zitiert, und dazu gesagt:
Things thought through by God should be identified with mathematical structures interpreted as structures of the world. Since for God to plan is the same as to implement the plan, when "God calculates and thinks things through," the world is created.

Dinge, die Gott denkt, lassen sich mit mathematischen Strukturen identifizieren, interpretiert als Strukturen der Welt. Da es für Gott dasselbe ist, zu planen und den Plan zu verwirklichen, wird, wenn "Gott rechnet und die Dinge denkt", die Welt erschaffen.


Das ist, natürlich, der pure Platonismus, gewürzt mit einem kräftigen Schuß George Berkeley. Nein, lieber Leser, nicht jeder, der sich an der Mathematik erfreut, muß so weit gehen wie der Theologe Heller.

Aber auch wenn man nur das Spannende an der Mathematik sieht, das Ästhetische - wäre das nicht eigentlich Grund genug, sie bunt und attraktiv zu finden, statt grau und langweilig?

Warum also finden sie so viele Leute grau und langweilig, die Mathematik?



Wie bei der der ersten Frage in dieser kleinen Serie, zu der die Diskussion weitergeht, ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen.

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