20. November 2012

Ein Interview über "Zettels Raum"

In der "Welt" ist heute ein Interview zu lesen, das Cora Stephan mit mir geführt hat. Ich habe die Erlaubnis erhalten, es hierher zu übernehmen.



Blogger "Zettel"
"Mutter Staat bedroht unsere Freiheiten"

"Zettel" bloggt anonym über alles, was Aufklärung verdient: vom Dosenöffner bis zum Islam. Ein Interview über Medien, Liberalismus und einen fürsorglichen, immer mehr ideologisch gefärbten Staat.
Von Cora Stephan

Die Blogosphäre kennt nur wenige wie ihn: "Zettel" ist das Pseudonym eines der produktivsten deutschen Blogger, der in "Zettels Raum" fast täglich das Weltgeschehen und die deutsche Befindlichkeit kommentiert. Auch wenn die "Achse des Guten" weit vorn liegt – "Zettel" kommt gleich dahinter, ein Einmannbetrieb mit wenigen Helfern. Nur per Mail ist das Interview mit dem Mann möglich, der auf seine Anonymität Wert legt.

Die Welt: Warum wollen Sie, der eremitierte Hochschullehrer, nicht sagen, wer Sie im bürgerlichen Leben sind?

Z: Eremitiert triffts ganz gut … Oder meinten Sie …?

Die Welt: Emeritiert, natürlich.

Z: Fängt ja gut an.

Die Welt: Heißt ja auch "Zettels Raum". Da kann man sich schon mal verzetteln, oder? Überhaupt: Was treiben Sie da? Posten Sie Ihren erweiterten Zettelkasten? Ist der Raum ein Traum, befindet er sich im Himmel oder in der Hölle?

Z: Im Untertitel von "Zettels Raum" steht "Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt". So heißt ein Hauptwerk des großen deutschen Aufklärers Christian Wolff, erschienen 1720. Ich glaube nicht, dass die Erde eine Hölle ist, und ich glaube erst recht nicht, dass man den Himmel auf Erden schaffen kann. Aber an die Kraft der Aufklärung glaube ich schon. Ein bisschen stelle ich mir "Zettels Raum" wohl wie einen virtuellen Hörsaal vor.

Die Welt: Und an "Zettels Traum" haben Sie nicht gedacht? Ich schon ...

Z: Ja, das ist natürlich eine kleine Hommage an den von mir sehr verehrten Arno Schmidt.

Die Welt: Sie schrecken in Ihrem Blog vor nichts zurück – und Sie lassen auch nichts aus: nicht den Dosenöffner oder den Islam. Und so geht’s vom Lotto zum Klima und von Olympia nach Arabien. Alles gleich interessant oder alles gleich wichtig?

Z: Alles interessant für mich; und hoffentlich auch für den Leser. "Gleich interessant" natürlich nicht. Manches dient der Auflockerung. Es gibt spezielle Formate wie die Glossen unter "Kurioses, kurz kommentiert" und wie "Zettels Meckerecke"; dort leiste ich mir das Vergnügen der Polemik. Sehen Sie es vielleicht wie eine Menükarte, aus der sich der Leser das aussuchen kann, was ihm mundet.

Ursprünglich war "Zettels Raum" als eine Art Feuilleton gedacht gewesen. Der erste Artikel, erschienen am 5. Juni 2006, befasste sich mit den Vorzügen von Kopfbahnhöfen. Mein Vorbild waren die Feuilletons, die Sebastian Haffner Anfang der Dreißigerjahre schrieb und die ich kurz zuvor mit Genuss gelesen hatte.

Die Welt: Feuilleton? "Zettels Raum" wird mittlerweile vor allem als politischer Blog wahrgenommen.

Z: Ja, so hat sich das dann entwickelt. Das liegt zum Teil an der Politik, die ständig Themen liefert, die nach einem Kommentar rufen. Die Rückmeldung spielt auch eine Rolle. Politische Artikel werden häufiger gelesen als die anderen.

Die Welt: Das ist nun nicht gerade Mainstream, was Sie schreiben. Sie nennen Ihr Blog "liberal-konservativ", was immer das ist.

Z: Es ist liberal, ohne linksliberal zu sein. Ich bin ein in der Wolle gefärbter Liberaler. Auch ein "Wirtschaftsliberaler", weil mir scheint, dass Private das meiste besser können als der Staat. Wirklich am Herzen liegen mir aber die Bürgerrechte. Ich bin vor allem ein Bürgerrechtsliberaler. Im 19. Jahrhundert stand man als Liberaler vor allem gegen den Polizeistaat und trat für größere Befugnisse der Parlamente ein. Es war der strenge, der oft autoritäre "Vater Staat", gegen den man bürgerliche Freiheiten zu erkämpfen und zu sichern trachtete. Heute aber werden unsere Freiheiten durch "Mutter Staat" bedroht – durch den fürsorglichen, den auch immer mehr ideologisch gefärbten Staat, der in alle Lebensbereiche hineinregieren will. Der uns Bürger vielleicht nicht mehr als Untertanen sieht, aber als Unbeholfene. Denen also geholfen werden muss; von der Wiege bis zur Bahre und in allen Bereichen ihres Denkens, Wertens und Verhaltens.

Dazu wurden zwei Instrumente geschaffen, gewissermaßen Passepartouts: Schutz der Umwelt und Förderung der Gesundheit. Was immer jemand in seinem persönlichen Bereich tut – es wird sich meist irgendwie auf die Umwelt und/oder seine Gesundheit beziehungsweise die anderer auswirken. Also kann man stets dort ansetzen; mit Verboten wie beim Rauchen, über die Steuerpolitik wie bei der Ökosteuer und der EEG-Umlage. Vor allem aber mit "Erziehung". Jetzt sollen ja die Dicken erzogen werden. Die Herrschenden sind heute nicht mehr die Unternehmer oder die "Reichen"; sie haben wenig zu melden. Beherrscht wird unsere Gesellschaft immer mehr von der Schicht der Ideologen, der Berater, der Multiplikatoren, Helfer und Erzieher. Sie begleiten uns, um das berühmte Wort Kants zu variieren, auf dem Weg in eine neue selbst verschuldete Unmündigkeit. Dagegen richtet sich mein konservativer Liberalismus.

Die Welt: Ihr Blog war im März 2011 besonders lesenswert – Sie haben täglich die Lage in Fukushima kommentiert, übrigens gänzlich anders als in anderen Medien. Wer jetzt Rätsel raten möchte, könnte Sie für einen Atomphysiker halten. Aber Sie verraten ja nichts ...

Z: Stimmt. Mehr als "Naturwissenschaftler" gebe ich nicht zu. Aber im Ernst: Ich habe damals versucht, der irrationalen Reaktion in Deutschland – dem, was ich seither hartnäckig mit dem Topos "kollektive Besoffenheit" belege – durch sachliche und möglichst präzise Informationen zu begegnen. Ähnlich habe ich aufzuklären versucht, als über Thilo Sarrazins erstes Buch Unwahrheiten verbreitet wurden; als Leute sich anmaßten, zum Beispiel über seine Aussagen zur Erblichkeit der Intelligenz ein Urteil zu fällen, die offenkundig den Stand der Forschung zu diesem Thema gar nicht kannten. Es gibt aber auch Themen, über die ich kaum schreibe, weil ich zu wenig davon verstehe; aus den Bereichen der Ökonomie und Jurisprudenz zum Beispiel.

Die Welt: Nanu? Ihre Beiträge zur Euro-Krise lesen sich anders. Sie halten sich überhaupt selten thematisch zurück. Mal so gefragt: Reicht Ihnen die Aufklärung nicht, die täglich in unseren "Qualitätsmedien" stattfindet?

Z: Die Qualität dieser Qualitätsmedien liegt deutlich unter dem internationalen Standard. Vor allem mangelt es fast durchweg an einer klaren Trennung zwischen Bericht­erstattung und Meinung. In der "Washington Post" und der "New York Times" können Sie beispielsweise täglich deutlich artikulierte Kommentare lesen. Bei der "Washington Post" geht das von ganz links bis ganz weit rechts. Kolumnisten wie Charles Krauthammer und Jennifer Rubin würden mit ihren konservativen Auffassungen bei uns schon sarraziniert werden. Aber das findet eben auf den Meinungsseiten statt. Bei der Berichterstattung werden Sie keine politischen Präferenzen in die eine oder andere Richtung entdecken können. Nun vergleichen Sie das mit unseren Qualitäts­medien.

Oder nehmen Sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Dank Gebührenfinanzierung schwimmt es in Geld. Aber man hat es nicht fertiggebracht, einen aktuellen Nachrichtensender auf die Beine zu stellen; nur diesen verschnarchten Sender Phoenix, dessen Maximum an Aktualität darin besteht, die Bundespressekonferenz zu übertragen. Nichts, das BBC und France24, das CNN und al-Dschasira vergleichbar wäre. Das sind beispielsweise Quellen, aus denen ich mich mit Informationen versorge. Sehr viel an Hintergrundkenntnissen beziehe ich auch von dem Informationsdienst Stratfor, dessen Abonnement zwar teuer ist, aber sein Geld wert. Dann verfolge ich die amerikanische und die französische Presse; je nach Aktualität auch die englisch- und französischsprachigen Blätter der kleineren Länder.

Die Welt: Und warum geschieht das nicht unter Ihrem bürgerlichen Namen? Warum bestehen Sie auf Anonymität?

Z: Man sollte nicht zusammenwachsen lassen, was getrennt gehört. Unter Pseudonym zu schreiben hat ja eine lange und durchaus ehrwürdige Tradition. Durch die Nicks und Pseudos im Internet ist das wiederbelebt worden. Wenn Sie nach meinem bürgerlichen Namen googeln, finden Sie im Augenblick ungefähr 14.000 Einträge. Das ist ein wissenschaftlicher Diskussionszusammenhang. Zu "Zettels Raum" gibt es ungefähr 70.000 Fundstellen. Es sind zwei getrennte Welten, und so soll es bleiben. Als Wissenschaftler muss man sich auf ein enges Gebiet konzentrieren. Jetzt genieße ich es, ein wenig hierhin zu gucken und dorthin. Ich lese das, was ich schon immer lesen wollte; aus sehr unterschiedlichen Bereichen. Das Schreiben für "Zettels Raum" gibt dem eine gewisse Struktur. Es zwingt einigermaßen zur Disziplin.

Die Welt: Wer sind Ihre Mitautoren? Was wissen Sie über Ihre Leser?

Z: "Zettels Raum" war bis 2009 ein Einmannunternehmen. Ich habe dann nach und nach Autoren eingeladen, deren Beiträge in dem Forum "Zettels kleines Zimmer", das "Zettels Raum" ergänzt, mir als besonders qualifiziert aufgefallen waren. Anders als ich sind sie beruflich aktiv; können also nur gelegentlich schreiben. Darunter sind unter anderen ein Historiker, ein Germanist, zwei Mathematiker und ein Theologe. Was die Leser betrifft: Ich kann noch nicht einmal ihre Zahl gut schätzen. Wahrscheinlich bewegt sich das zwischen 50.000 und 100.000 Besuchern im Monat. Was das für Leute sind, was sie denken, kann man naturgemäß nicht wissen. Ein wenig beurteilen kann ich das für die Teilmenge der Leser, die sich im Forum anmelden, um dort zu kommentieren und zu diskutieren. Soweit es sich aus gelegentlichen Bemerkungen entnehmen lässt, sind das fast durchweg Leute mit einem abgeschlossenen Studium oder Studenten. Ganz überwiegend Männer, die meisten zwischen 30 und 50 Jahre, oft in leitenden Positionen.

Die Welt: ... also ein elitärer Männerklub.

Z: Frauen sind tatsächlich leider unterrepräsentiert. Es gibt aber ausgezeichnete Autorinnen. Hinter manchem geschlechtsneutralen Pseudonym verbirgt sich eine Frau. Als "elitär" würde ich eine solche Zusammensetzung nicht bezeichnen. Viele kommen aus "MINT-Fächern" – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – oder sind Ökonomen. Aber es gibt auch Historiker, Literaturwissenschaftler, Theologen, etliche gelernte Philosophen. Es sind Leute, die von ihrem Beruf her gewohnt sind, sachlich zu diskutieren und präzise zu argumentieren. Es geht in diesem Forum ruhiger und rationaler zu als bei den meisten politischen Diskussionen im Internet.

Die Welt: Sie haben am 3. November vorhergesagt – richtig, wie sich erwiesen hat –, wer der nächste amerikanische Präsident sein wird. War das ein großes oder nur ein kleines Risiko?

Z: Es war kein großes Risiko. Ich habe den Wahlkampf ziemlich aufmerksam verfolgt und dazu eine Serie geschrieben, die mehr als 40 Folgen umfasste. Es gab in diesem Wahlkampf Auf- und Abstieg für beide Kandidaten, aber am Ende zählte die Wahlarithmetik. Romney hatte seit der Debatte am 3. Oktober eine Aufholjagd hingelegt; aber es reichte nicht, um hinreichend viele der kritischen Staaten, der "swing states", zu gewinnen. Das zeichnete sich in der letzten Oktoberwoche ab. Dann kam auch noch "Sandy", wo Obama auftrat wie Gerhard Schröder 2002 bei der Elbeflut. Man kann das ja alles im Internet ebenso verfolgen wie ein Korrespondent, der sich physisch vor Ort befindet; oft besser.

Beim Wahlparteitag der Demokraten Anfang September zum Beispiel hatte "Spiegel online" zwei Mann akkreditiert, Sebastian Fischer und Marc Pitzke. Die beiden berichteten vergnatzt, wie man sie in der Veranstaltungshalle in den "Windschatten der Lautsprecher" gesetzt hatte; noch dazu ganz oben unter das Dach in den Bereich, wo man der Fama nach wegen der großen Höhe "Nasenbluten bekommt". Ich habe mir das bei CNN angesehen, ohne akustischen Windschatten und versehen mit den trefflichen Kommentaren der CNN-Journalisten. Kein Wunder, dass ich besser berichten konnte als die Leute von "Spiegel online".

Oder nehmen Sie die Demoskopie. In den deutschen Medien herrscht die Unsitte, gelegentlich die eine oder andere Umfrage herauszupicken und aus ihr einen Trend abzuleiten. Vor Wahlen gibt es aber in den USA gewaltige Mengen an Umfragedaten. Manchmal erscheinen an einem einzigen Tag um die 20 Umfragen; Gallup und einige andere befragen täglich ungefähr je tausend Menschen. Eine einzelne Umfrage besagt also exakt nichts. Man muss die Daten "aggregieren", sie gewichten und zusammenfassen. Quellen, die das machen, nutze ich. Wenn man sich ein wenig Mühe gibt, kann man als Blogger bei dem, was heutzutage an Informationen zur Verfügung steht, durchaus besser sein als viele professionelle Journalisten.

Die Welt: Wollen Sie diesen ehrbaren Berufsstand abschaffen? Bislang sieht die gesammelte Schwarmintelligenz nicht gerade wie eine echte Alternative zum Journalismus aus.

Z: Schwarmintelligenz findet man ja in "Zettels Raum" weniger; keinen Schwarm und hoffentlich keine Schwärmerei. Ernsthaft: Ich sehe das, was ich versuche, überhaupt nicht als Alternative zum Journalismus. Solch ein Blog lebt ja vom Journalismus. Ich bin Zweitverwerter. Die Informationen, die ich verwende, stammen von Journalisten, die dafür oft vor Ort recherchiert haben; das könnte ich ja gar nicht. Was ich kommentiere, haben in den meisten Fällen Journalisten oder Publizisten geschrieben. Ohne den Journalismus wäre das Bloggen nichts.




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