27. September 2006

"Menschliches Versagen" und "Antiquiertheit des Menschen"

Die Unfallstelle des Transrapid war noch nicht geräumt, da wußten die Staatsanwälte in Osnabrück laut Presse schon, wie es zu dem Unglück gekommen war. Noch am Freitag, dem Tag des Unglücks, meldete die FAZ: "Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß "menschliches Versagen" das Unglück ausgelöst hat." Und am selben Tag wurde das Geschehen auch schon in seinen wirtschaftlichen Zusammenhang eingebettet. So schrieb der Tagesspiegel unter der Überschrift "Der Faktor Mensch":
Das furchtbare Unglück im Emsland ereignete sich zu einer Zeitpunkt, als der Bundesverkehrsminister in Peking gerade Gespräche über einen weiteren Ausbau der Bahnlinie zum Flughafen von Schanghai führte. Dass Wolfgang Tiefensee seinen Besuch in China abbrach, nachdem er von der Katastrophe erfuhr, war ein Gebot des Respekts vor den Opfern und ihren Angehörigen. Ein Eingeständnis technischen Versagens der Magnetschwebebahn kann man daraus nicht ableiten. Nach allem, was wir zur Stunde wissen, ist das Unglück auf menschliches Versagen zurückzuführen.
Nichts wußte man in Wahrheit "zur Stunde", also am Abend des Tags, an dem sich das Unglück ereignet hatte. Auch jetzt, nach mehr als einer halben Woche, weiß man noch nicht, wie es dazu gekommen ist. Die Rekonstruktion von Unfällen ist immer aufwendig und langwierig, weil ein Unglück nicht seine eine "Unfallursache" hat, wie sie im Polizeibericht steht ("Unfallursache war überhöhte Geschwindigkeit"), sondern weil es aus der kausalen Verkettung vieler Faktoren entsteht.



Inzwischen gibt es Äußerungen von Leuten, die es auch nicht wissen, die aber immerhin in Betracht ziehen, daß "menschliches Versagen" noch keine erschöpfende Antwort auf die Frage ist, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Heute schreibt die FAZ:
Auch der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Winfried Hermann, geht von fehlenden Sicherheitsvorkehrungen auf der Transrapid-Strecke aus. Er sagte am Dienstag in einem Radiointerview: "Es ist zumindest nicht nur menschliches Versagen, sondern auch technisches Mangelwerk, muß man fast sagen." Auf welche "sich verdichtenden Hinweise" er sich genau stützt, wurde allerdings nicht deutlich.
Und auch die Staatsanwaltschaft Osnabrück scheint sich jetzt darauf zu besinnen, daß sie die Aufgabe hat, eine Untersuchung zu führen, und nicht deren Ergebnis forsch vorwegzunehmen. Aus demselben Artikel:
Die Rekonstruktion des genauen Unfallhergangs kann nach Angaben der Staatsanwaltschaft Osnabrück noch lange dauern. (...) Experten des Eisenbahnbundesamtes prüfen das Sicherheitskonzept der Versuchsanlage (...) Die Ermittlungen werden derzeit mit der Befragung von Zeugen des Unglücks fortgesetzt.


Was diese Ermittlungen ergeben, das werden wir in einigen Wochen, vielleicht einigen Monaten wissen. Aber die armen Menschen, denen schon am Tag des Unglücks "menschliches Versagen" zugeschrieben wurde, werden diesem Makel nicht mehr loswerden. Zusätzlich zu dem fürchterlichen Leid, das das Geschehen dieses Tags für sie ohnehin bedeutet.




Im Titel dieses Beitrags stehen zwei auf den ersten Blick sehr disparate Begriffe. Ich versuche jetzt, die Verbindung zwischen ihnen sichtbar zu machen.

"Die Antiquiertheit des Menschen" ist das Hauptwerk von Günther Anders, eine Sammlung von Einzeluntersuchungen. Zitiert wird meist seine Medienkritik. Aber der erste Band beginnt mit einem aus meiner Sicht weitaus originelleren Kapitel, das auch den Titel des Werks am besten illustriert: "Über prometheische Scham". Dort arbeitet Anders den Gedanken aus, daß der Mensch im Zeitalter dessen, was er die Zweite Industrielle Revolution nennt, zunehmend hinter den von ihm geschaffenen Geräten zurückbleibt und er in die Situation gerät,
die von den Geräten verlangt wird: durch die der Gerätebedienung. (...) die Schwierigkeiten der Bedienung: die der Einarbeitung, die des immer drohenden Versagens, schließlich die des effektiven Versagens, die gehören ja zur Bedienungssituation wesentlich dazu. (...) Und obwohl er dort, wo das Gerät herrscht, nun nichts mehr zu suchen hat und fehl am Ort ist, hat er doch an seinem Platz zu verweilen, weil nicht dazusein, gleichfalls über seine Kräfte geht.
Anders zieht hieraus weitgespannte anthropologische Konsequenzen; man kann seine Beschreibung aber auch sehr konkret-praktisch verstehen: Die Arbeitssituation des Menschen, der mit Maschinen zu tun hat, überfordert ihn im Grunde ständig. Sie überfordert ihn deswegen, weil er - sein Körper, sein Gehirn - nicht dazu "ausgelegt" ist, die "Anforderungen" zu erfüllen, die diese Geräte stellen.



Dazu gehört, daß Menschen fehleranfällig sind. Insofern ist der Mensch, technisch betrachtet, eine Fehlkonstruktionen; Günther Anders zitiert einen Offizier, der den Menschen als halt "faulty", als nun mal fehlerhaft, bezeichnet hat.

Wir machen ständig Fehler; im Kontext unserer technischen Umwelt und nach deren Normen. Wir machen sie zwangsläufig deshalb, weil die Funktionsmerkmale unseres Gehirns sich in einem ganz anders beschaffenen Handlungskontext entwickelt haben, in dem das, was unter den heutigen Bedingungen fehlerhaft ist, adaptiv gewesen war. Wenn man einen Speer schleudert, dann kommt es nicht auf die präzise Flugbahn an; wenn man den Trajectory einer Rakete berechnet, sehr wohl. Wenn dem Steinzeitjäger, der einem Beutetier nachsetzte, ein unerwartetes Hindernis begegnete, dann konnte er es umgehen oder überwinden. Wenn einem Transrapid ein unerwartetes Hindernis begegnet, dann gibt es keine Ad-Hoc-Abhilfe.



"Menschliches Versagen" begleitet alles, was wir in der, sagen wir, Kooperation mit technischen Geräten tun. Beim Schreiben dieses Textes unterläuft mir ständig menschliches Versagen in Gestalt von Tippfehlern. Das Verhalten eines Formel-1-Piloten wimmelt nur so von menschlichem Versagen - er kommt von der Ideallinie ab, schätzt den Abstand zu einem Konkurrenten falsch ein, so daß er ihn mit seinem Auto berührt, berücksichtigt die Nässe der Fahrbahn zu wenig und so weiter.

Der ganze Reiz derartiger Veranstaltungen besteht im Grunde im Auftreten solcher Fälle von menschlichem Versagen. Gäbe es sie nicht, dann könnte man die Leistungsfähigkeit der einzelnen Autos messen und danach ein Computerprogramm die Reihung beim Zieleinlauf berechnen lassen.

Nun sind aber menschliche Fehler oft folgenreich. Verhindern kann man sie nicht. Also besteht die Kunst des Sicherheitsingenieurs, des Softwareergonomen darin, ihre Folgen zu neutralisieren.

Jeder von uns vertippt sich. Wenn ein Tippfehler oder eine Fehlpositionierung der Computermaus zum Löschen einer Datei führen würde, dann läßt das aber der Softwareergonom nicht zu. Er baut eine Sicherheitsfrage ein. Er sorgt dafür, daß auch eine gelöschte Datei wiederherstellbar ist, und so fort.

Ebenso ist es bei Nuklearkraftwerken, bei der Eisenbahn und eben auch beim Transrapid. Die Sicherheitstechnologie dient wesentlich dazu, es sicherzustellen, daß menschliche Fehler keine katastrophalen Folgen haben.

Die Fehler sind nicht vermeidbar; sie liegen in unserer menschlichen Natur. Vermeidbar ist aber, daß sie größeren Schaden anrichten.



Wenn es in einem solchen komplexen System wie einem Nuklearkraftwerk oder einer Transrapid-Versuchsstrecke zu "menschlichem Versagen" mit katastrophalen Folgen kommen konnte, dann bedeutet das also zwangsläufig das Versagen von Sicherheitsvorrichtungen.

Oder anders gesagt: "Menschliches Versagen" und "mangelnde Sicherheitsvorrichtungen" sind keine Alternativen. Sondern menschliches Versagen kann sich in genau dem Maß fatal auswirken, in dem die Sicherheitsvorrichtungen unzureichend sind.