31. Dezember 2022

2022. Ein paar zerstreute Blicke in den Rückspiegel



Pilatus: Der kleine Chelm ist ein Widerporst!
Legionär: Wie bitte?
Pilatus: Ein Widerporst!
Legionär: Ja, natürlich.
Pilatus: Weißt du, solche Purchen scheinen hier unheimlich prutal vorzugehen – plutperaucht!
Legionär: Ja, ich glaube, geraucht hat er auch.
(„Das Leben des Brian“)

Nein, kein halbwegs gutsortierter Jahresrückblick. Zum einen habe ich mir dies in den vergangenen Jahren, seit ich zu diesem Netztagebuch Beitrage, immer verkniffen. Zum anderen werden in solchen Rückschauen in „richtigen“ Medien kurz die prägnanten Momente der letzten zwölf Monate aufgelistet, die Namen derer, die von der irdischen Bühne abgetreten sind, noch einmal aufgezählt, die „Filme des Jahres“ genannt: es sind punktuelle Ereignisse. Während es sich bei dem, was sich mir eingeprägt hat, um Prozesse handelt, um Entwicklungen, die über den zeitlichen Rahmen eines Jahres hinausgehen, und die für die anstehenden Jahre erhebliche Folgen haben werden – wenn sich auch noch nicht abzeichnet, in welchem Maß.

Es sollen eher leicht zerstreute Impressionen beim Blick in den Rückspiegel werden. Und es handelt sich um Bruchstücke aus höchst unterschiedlichen Ebenen. Auf der Netzseite „TV Tropes“, in der sich die Standardfiguren und dramatischen Situationen gesammelt finden, anhand sich die Menschheit ihre Geschichten erzählt, seit das Erzählen von Geschichten erfunden worden ist, findet sich die Kategorie „Murder, Arson and Jaywalking“ für allerlei Beispiele in Film und Literatur, bei denen nicht zuletzt zur Amüsierung des Publikums höchst triviale Dinge in eine Liste mit schwerwiegenden Themen gemischt werden. Und auch meine kleine Themenliste ist ein solches Beispiel für „Mord, Brandschatzen und Falschparken“ („jaywalking“ meint im Englischen das achtlose Überqueren einer Straße, ohne nach rechts oder links zu schauen), oder um beim Beispiel des Prian zu bleiben: "Staatsstreich, Meuchelmord und Kippen wegwerfen." Mir ist schon klar, daß sich die Neuordnung der Welt durch einen Krieg etwas von der Durchsicht der Neuzugänge auf meinen Bücherregalen unterscheidet. (Allerdings hält der Kleine Zyniker fest, daß sich die Reduzierung eines großen Teils der „zweitstärksten Armee“ der Welt an der Front im Osten der Ukraine auf ihren Schrottwert laut offizieller russischer Lesart achtlos weggeworfenen Zigarettenkippen verdankt.)

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I. – Der Krieg

Womit ich beim wichtigsten Thema das Jahres bin. Ich würde den Krieg, der seit 311 Tagen in der Ukraine ausgetragen wird, sogar noch um einiges gewichtiger einschätzen als mein geschätzter Kollege Llarian: nämlich als den dritten Weltkrieg. Oder zumindest als den bewaffneten Konflikt, der einem „dritten Weltkrieg“ in diesem Jahrhundert am nächsten kommt. Das mag angesichts der verheerenden Kosten und Zerstörungen, die die Ukraine zu tragen hat, die aber für „den Westen“ im Vergleich zu den beiden „großen Kriegen“ von 1914-18 und 1939-45 noch überaus überschaubar sind, maßlos übertrieben, ja frivol klingen. Und trotzdem glaube ich, für diese Einschätzung gute Gründe zu haben. Bei der Invasion am vom 24. Februar handelt es sich eindeutig um ein imperialistisches Projekt, mit dem Putin den alten Status Quo der Sowjetunion wieder herstellen will, durch militärische Gewalt und ohne jegliche Rücksicht auf die Folgen, auch nicht für das eigenen Land und seine Zukunft. Darin unterscheidet sich Russland Situation nicht von der des Dritten Reichs im August 1939. Und genau wie vor 80 Jahren darf ausgeschlossen werden, daß der Westen mit Russland nach dem Ende der Kampfhandlungen wieder bruchlos zum Status quo ante zurückkehren wird. Im Fall Deutschlands und Japans war dies erst nach einer kompletten militärischen Niederlage und nach einem politischen Bruch mit der Vergangenheit denkbar. Solange Putin und seine Clique an der Macht sind, solange Russland nicht bereit ist, moralisch die Alleinschuld an Gewalt, Mord, an der Verschleppung und den Angriffen auf die Zivilbevölkerung anzuerkennen und dafür Wiedergutmachung zu leisten, werden die Sanktionen in Kraft bleiben.

Und vor allem darf man davon ausgehen, daß die Entscheider im Westen gemerkt haben, daß Putins verhängnisvolle Entscheidung auch aus den eignen Versäumnissen der Vergangenheit resultiert ist: aus der Ablehnung im Jahr 2008, ein Assoziierungsabkommen mit dem Ziel des Beitritts zur NATO zu akzeptieren (eine entscheidende Rolle bei dieser Ablehnung hat Angela Merkel gespielt) und der Verzicht auf die in der Ukraine stationierten Atomwaffen und deren Trägerraketen im Budapester Abkommen von 1994 – Raketen, die in der vergangenen Woche zur Bombardierung der ukrainischen Zivilbevölkerung eingesetzt worden sind. In beiden Fällen – als Atommacht wie als NATO-Mitglied - darf angenommen werden, daß Putin von einer tatsächlichen Invasion Abstand genommen hätte.

Vor allem ist davon auszugehen, daß die Regierungen des Westens eingesehen haben, daß der Ausgang des Kriegs zwingend der sein muß, daß Russland – in welcher Gestalt auch immer – nie wieder in der Lage sein wird, an eine Neuauflage zu gehen; egal welche „Dolchstoßlegende“ der Kreml um das Versagen des eigenen Militärs stricken wird, wie groß das Bedürfnis nach Rache auf sein mag. Russland war bis zu diesem Jahr einzig als Rohstofflieferant für den Rest dieser Welt von Belang – als Quelle von Erdgas, Rohöl und Kohle. Gerade Europa, gerade die EU wird alles daransetzen, um sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen und sich nie wieder in sie zu begeben. Dabei muß notwendigerweise auf die „normative Kraft des Faktischen“ gesetzt werden: Putins Regime hat mit dem 24. Februar gezeigt, daß es sich nicht an geltende Verträge hält und daß die Folgen, die aus den eigenen Verbrechen folgen, im politischen Kalkül keine Rolle spielen.

Um es klar zu sagen: als Wirtschaftsmacht, als Mitspieler auf der Weltbühne hat Putin mit seinem Überfall sein eigenes Land von der zukünftigen Weltkarte gelöscht. Was vor unseren Augen abläuft, ist das Ende des jetzt an einer Front heißgewordenen Kalten Krieges, und es ist die UdSSR 2.0, die ihn verliert und verlieren wird.

Es geht aber nicht nur um diesen einen imperialistischen Konflikt. Der einzige andere verbliebene Konflikt, der das Zeug hat, sich zu einem wirklichen „harten“ Krieg zwischen dem Westen und einer anderen Großmacht auszuweiten, ist der Anspruch der Volksrepublik China auf Taiwan. Ohne Zweifel wird man in der chinesischen Parteiführung und an der Spitze der Generalität genau verfolgen, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt; daß eine gnadenlos überschätzte Armee kein Garant für den Erfolg einer solchen Invasion ist (zumal die beiden chinesischen Staaten eine Wasserstraße von 140 Kilometern Breite trennt). Staatspräsident Xi Jinping hat sich in den letzten Monaten dezidiert neutral zum Krieg in der Ukraine geäußert.

Dies ist aber nicht nur abgeschlossener Stoff des abgelaufenen Jahres. Zu einer militärischen Entscheidung, bis die Waffen ruhen und an den Wideraufbau des Landes gegangen werden kann, ist es noch weit – auch wenn die meisten Beobachter mittlerweile davon ausgehen, daß die Ukrainischen Streitkräfte spätestens bis zum Ende des Jahres 2023 den allergrößten Teil des von Russland besetzen Territoriums befreit haben wird (viele sehen das bis zum Sommer kommen). Auf jeden Fall können wir davon ausgehen, daß am Ende die Landkarte neu aufgestellt wird - so wie nach 1918, 1945 oder 1989. Es wäre nicht überraschend, wenn sich die "zentrale Achse" der EU von London, Paris und Berlin" auf das Dreieck Prag - Warschau - Kyiv verlagert.

Mit absoluter Wahrscheinlichkeit darf man aber jetzt schon feststellen, daß Putin seiner Vision des "Nowa Rossija," des Neuen Rußland, in der nach seiner sowjetischen Optik Russland, Weißrussland und die Ukraine eine untrennbare Einheit bilden, für immer zerstört hat. Natürlich ist es übertrieben, wenn erklärt wird, in diesem Krieg "würde die Ukraine geboren." Der amerikanische Historiker Timtohy Snyder hat festgestellt, daß es "die Ukraine" schon vor dem 23. Februar 2022 gegeben haben muß - sonst häte sie nicht geschlossen und entschlosen den Invasoren Widerstand leisten und dabei erfolgreich sein können. Aber für das Selbstverständnis dieser Nation wird dieser Krieg für Generationen hinaus, DAS konstituierenden Ereignis sein, an dem sich die Sicht auf die eigene Geschichte, die eigene Nation ausrichten wird. Ein wie auch immer geartete "Einheit" mit dem faschistischen Aggressor (und dieses Adjektiv hat sich die russiche Armee voll und ganz in den letzten Monaten verdient) ist von nun an undenkbar. Und vor allem: dieser Krieg ist auch ein moralischer Prüfstein. Er ist schwarzweiß. Was immer man den früheren ukrainischen Regierungen seit der Unabhängigkeit 1991 vorwerfen mag, ob unter Leonid Kutschma oder Janukowitsch, ob an der Korruption der Oligarchen im Zuge der postsojwetishcen Umgestaltgung, ob an der Beteiligung rechtsextremer Milizen in der letzten Phase des "Euromaidan" - all das ist angesichts des Mordens, der Verbrechen von Putins Soldateska gegenstandslos. Es ist, als würde man der polnischen Regierung nach dem August 1939 Vorwürfe aufgrund ihrer Behandlung der deutschen Minderheit in den zwenziger und dreißiger Jahren machen. Solche scheinbaren "Aufrechnungen" sind im deutschen historschen Gedächtnis zurecht verpönt.

II. - Deutschland

In diesem Punkt hat Llarian eine gute Liste von Einzelpunkten genannt. Was mich betrifft, so hat sich in den letzten 11 Monaten der Eindruck zur Gewißheit verfestigt, den ich in Bezug auf dieses Land, sein politisches Klima und seine Eliten seit spätestens 2015 habe: diesem Land ist nicht mehr zu helfen. Es hat keine Zukunft mehr. Die politische Riege, deren Untätigkeit und völlige Weltfremdheit wir seit Jahren vorgeführt bekommen, ist durch nichts mehr von ihrem stur eingehaltenen Kurs auf den Eisberg abzubringen. Spätestens die weltgeschichtliche Zäsur vom 24. Februar hätten jede Regierung, die noch zu planvollem Handeln in der Lage ist, dazu bringen müssen, den seit Jahren verfolgten Atomausstieg zurückzunehmen und den Ausfall der russischen Gaslieferungen wenigstens ansatzweise zu kompensieren – zumindest bis zum Ende der Kampfhandlungen und mit einer Option auf Weiterverlängerung – wenn man denn der Ansicht gewesen wäre, man müsse eine solche Entscheidung so bemänteln, um nicht Wähler zu verschrecken, die vom grünen Zeitgeist geblendet sind. Stattdessen ist nur eine unter Bauchschmerzen akzeptierte Laufzeitverlängerung von drei Monaten (!) herausgekommen. Auch die von Kanzler Scholz im Februar beschworene „Zeitenwende“ hat sich als nichts als hohle rhetorische Sprechblase entpuppt: nicht einmal die Aufstockung des Militärbudgets auf das vertraglich festgelegte Level von zwei Prozent des BIP, das die NATO seit Jahren von der Bundesregierung einfordert, dürfte umgesetzt werden. Stattdessen weigert sich der Bundeskanzler, der Ukraine die Leopard-Panzer zu liefern, die sie zu einer wirksamen Verteidigung genötigt. Eine besonders perfide Volte der letzten Monate bestand darin, daß Scholz sich bei dieser Verweigerung darauf berufen hat, daß andere Staaten dieses Model ja auch nicht liefern würden, aber persönlich verhindert hat, daß Spanien seine Leopard an die Ukraine geliefert hat.

Es ist, als sei die Truppe in Berlin kategorisch nicht imstande, von einer einmal gefaßten Haltung auch nur einen Millimeter abzuweichen. „Handeln“ erschöpft sich für sie einzig im Absondern leerer Phrasen. Wie gesagt, ist dies seit Jahren bereits der Fall: spätestens mit der Schleifung des Landesgrenzen im Herbst 2015 sehen wir dieses Muster. Aber in den letzten 12 Monaten hat sich gezeigt, daß diese zementierte Unfähigkeit ebendies ist: in Stein gehauen und nicht mehr korrigierbar.

Dabei ist festzuhalten, daß es sich bei diesen Entscheidungen eben nicht um „Raketenwissenschaft“ handelt, sondern im Fall der Budgetierungen und der Laufzeitverlängerung um vergleichsweise schlichte Parlamentsentscheide und im Fall der Panzerlieferung um einen Richtungsentscheid des Kanzleramts. Mit anderen Worten: dieses Land und seine Bedienungsmannschaft hat mal wieder bei einem relativ simplen Stresstest versagt. Und dieser Haltung setzt sich bruchlos nach dem Ende der Merkel-Ära fort. Das Scholz’sche Versagen hat im gesamten Westen nur Kopfschütteln und Befremdung ausgelöst; mittlerweile ist es Konsens, daß man sich auf Deutschland nicht mehr verlassen darf.

III. – Die Wissenschaft

Immerhin gab es in diesem Jahr auch einiges Positive zu vermerken (jedenfalls wenn man von der Interessenlage her wie ich grundiert ist): der Start und die Inbetriebnahme des James Webb-Weltraumteleskops, der erste Probeflug der „Orion“-Raumkapsel als erster Schritt zu einem neuen bemannten Mondflugprogramm, die Meldung vom Anfang dieses Monats, das am Lawrence-Livermore- Institut in Kalifornien bei der Entwicklung der Wasserstofffusion der „Break-Even-Point“ erreicht worden ist. Aber auch hier handelt es sich um „Prozesse,“ um Einzelpunkte auf einer Reihe von Ereignissen, die in die Vergangenheit zurückreichen und um Jahrzehnte in die Zukunft reichen. Bis die ersten Astronauten erneut ihre Spuren im Mondstaub hinterlassen, werden die Kalender mindestens das Jahr 2025 anzeigen, das JWST hat seine Arbeit gerade erst aufgenommen und dürfte noch in 20 Jahren Bilder und Daten zur Erde funken, und von irgendeiner praktischen Nutzung der Fusionsenergie ist die Menschheit noch so weit entfernt, daß sich noch nicht ansatzweise sagen läßt, ob dies je von Erfolg gekrönt sein wird.

Bei der Wasserstofffusion geht es darum,unter ähnlichen Bedingungen, wie sie auf der Sonne herrschen, Wasserstoffkerne dazu zu bringen, zu Helium zu verschmelzen und dabei Energie freizusetzen. Sollte dies in einem praktisch nutzbaren Maßstab möglich werden, so würde damit eine praktisch unerschöpfliche Energiequelle erschlossen. Bislang ging es bei diesen Forschungen immer nur darum, diesen Verschmelzungsvorgang überhaupt auszulösen. Beim Versuch am 5. Dezember 2022 ging es darum, daß bei dem eigentlichen Experiment, bei dem eine etwa nußgroße Goldkugel mit der Energie des leistungsstärksten Lasers der Welt beschossen wurde, eine solche Verschmelzung in einem Maß ausgelöst wurde, deren gelieferte Energie größer war als die der 192 Laserstrahlen. Das ist ein Schritt, an dem diese Forschung seit gut 50 Jahren arbeitet. Die Strahlen aus kohärentem Licht enthielten eine Energie von 2,05 Megajoule (MJ), bei der durch die Implosion der Goldkugel ausgelösten Fusion wurden 3,5 MJ freigesetzt – allerdings nur über den Zeitpunkt einer billionstel Sekunde. Und vor allem: um einen Laserstrahl von dieser Energie zu erzeugen, war ein Energieaufwand von gut 500 MJ notwendig. Von einer Technik, die eine solche Reaktionen stabil und über Jahre hinweg aufrechterhalten kann, kann also in keiner Weise die Rede sein. Allerdings könnte es sich um einen entscheidenden Schritt auf dem Weg dahin handeln – auch wenn bis dahin mindestens noch einige Jahrzehnte verstreichen werden.

Aber immerhin fällt auf, daß es „solche Bilder“ eben gibt – am prägnantesten vielleicht auf den Aufnahmen der „Orion“-Kapsel, auf denen die blaue Murmel unseres Heimatplaneten hinter der Scheibe des Erdmonds verschwindet. Es sind unmittelbar erfaßbare Symbole, „greifbar“ nachgerade, die vom Fortschritt der Wissenschaft und der Technik künden – so wie sich vor einem halben Jahrhundert die Bilder von den Astronauten vor der Flagge im Mondstaub und der Bild der blauen Erde, die über dem grauen Mondhorizont aufsteigt, ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeprägt haben. Vielleicht ist es tatsächlich so, daß die Vision zu solchem Fortschritt, zu einem Optimismus, der auf Technik und Umsetzbarkeit, auf schiere „Machbarkeit“ vertraut, solcher Bilder bedarf. Daß hier, wie schlicht auch immer, ein kleiner Gegenpol gesetzt wird zu der seit jetzt drei Generationen unablässig gepredigten Feindschaft gegen alles Technische, „gegen Atom…,“ „gegen Gene…,“ „gegen den Klimawandel hilft nur völliger Verzicht…“ Kurz: gegen die zeitgeistliche Haltung, der wir die Misere unseres Atomausstiegs letztlich verdanken.

Und vielleicht ist es einfach so, daß es solche „bildmächtigen Großprojekte“ einfach geben muß, an denen sich eine solche optimistische Einstellung festmachen kann. Die Ersetzung eines Smartphones durch das nächste Modell, der Fortschritt vom Kathoden-Fernseher über den Flachbildschirm, vom VHS-Rekorder zur DVD bis zum Video-Streamingdienst zeigt diese Qualität jedenfalls nicht. Beim Rückblick über die Geschichte der letzten, nun, 130 Jahre fällt auf, daß es immer, wenn man solche positiven kollektiven Haltungen ausmachen kann, um ähnlich gelagerte Unternehmungen ging: um die Fortschritte in der Luftfahrt, den „Wettlauf zum Pol“, die Popularisierung der Relativitätstheorie in den 1920er Jahren, die Entdeckung der geologischen „Tiefenzeit“ der Erde und den Schätzen, di die Archäologie aus der Tiefe grub – von Kulturen, von denen niemand zuvor gewußt hatte, daß es sie überhaupt jemals gegeben hatte.

Vielleicht mag es ein bißchen schlicht (und unangenehm pathetisch) klingen: aber für mich sind solche Bilder der absolute Gegenpol zu den Kaspereien unreifer Jugendlicher in den Medienberichten, denen die große Kunst der Vergangenheit einzig nur zum Vorwand dient, um sich daran festzukleben, um ihre dürftigen Sprüchlein aufzusagen und womöglich sogar daran glauben, damit „etwas gegen den unmittelbar bevorstehenden Klimakollaps“ zu bewirken. Es ist nicht nur die himmelschreiende Naivität, die frappant an Weltuntergangssekten früherer Tage erinnert, es ist vor allem diese durch nichts, NICHTS abgemilderte reine Negativität dieser Brut, deren Penetranz ins Auge springt. Das hat diese „wirklich allerletzte Generation“ übrigens mit der Trans-Sekte gemein, deren Programm ebenfalls nur in Hysterie und nachgerade pathologischer Wirklichkeitsverneinung besteht. Aber das ist ein anderes Thema. Es ist nur bezeichnend, daß es außer solchen entgleisten Sumpfblüten aus dem Bereich "symbolisch Zeichen setzen!" für unsere Medien nichts mehr Berichtenswertes zu geben scheint.

IV. – Kunst & Kultur & ähnliches

Und damit komme ich zum letzten und subjektivsten Punkt, gewissermaßen dem Falschparken: auch wenn es ein rein persönlicher Eindruck ist, hat sich mir, und das nicht erst im Lauf des Jahres 2022, die Ansicht aufgedrängt, daß es im Sachen „Kunst und Kultur“, was deren Gegenwart betrifft, nichts zum besten bestellt ist. Womöglich liegt es an mir persönlich, am Älterwerden, an der eigenen Lesebiographie, dem Gefühl, „aller schon zehnmal und besser vorgesetzt bekommen zu haben“ – aber keiner der Romane, die sich im Lauf der letzten zwölf Monate auf meinem Regal eingefunden haben, hat es geschafft, mehr als ein rein distanziertes Interesse, ein bloßes Registrieren auszulösen. Damit scheine ich allerdings nicht völlig allein zu sein, soweit man das Echo in den Rezensentenspalten als Maßstab nehmen darf. Nicht einmal Uwe Tellkamps „Der Schlaf in den Uhren“ hat bei Lesern oder Kritikern mehr als ein lauwarmes Achselzucken ausgelöst (und das völlig unabhängig, wie man zu den persönlichen Ansichten des Autors steht) – was erstaunlich ist, da sein Vorgänger „Der Turm“ 2008 so etwas wie DAS Buch des Jahres war – durch Mundpropaganda von Leser zu Leser weiterempfohlen und zum Bestseller geworden und sich als ein Psychogramm aus dem „inneren Exil“ der Spätphase der DDR eingeprägt hat – also ob Thomas Mann dem Autor aus dem Jenseits die Feder geführt hätte. Nicht Cormac McCarthys Doppelroman „The Passenger“ und "Stella Maris“ hat einen solchen „buzz,“ eine solche Frisson ausgelöst, ohne den große Literatur nicht auskommt; nicht Emily St. John Mandels „Sea of Tranquillity,“ nicht Anthony Doerrs „Cloud Cuckoo Land,“ nicht John M. Fords aus dem Nachlaß veröffentlichter Roman „Aspects“ – und beim letzten handelt es sich um ein Buch, das bei seiner Ankündigung vor zwei Jahren durchaus eine beträchtliche Erwartungshaltung ausgelöst hat. Wie gesagt: es mag meine ganz persönliche Gleichgültigkeit sein – aber der Eindruck des „abgeschlossenen Sammelgebiets“ ist nicht von der Hand zu weisen.

Wobei ich in diesem Fall zwei Ausnahmen machen muß – nur handelt es sich hier nicht um belles lettres, sondern um zwei Sachbuchtitel, die für mich zu den beiden wichtigsten Titeln zählen, die im 21. Jahrhundert überhaupt erschienen sind. Zum einen Peter Zeihans „The End of the World is Just the Beginning: Mapping the Collapse of Civilization” (Harper Business, Juni 2022, 512 Seiten), in dem der Autor unter Abdeckung zahlreicher Facetten von Demographie über Energieversorgung über geopolitische Interessen die These verficht, daß die weltpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, wie sie die letzten 30 Jahre geprägt haben, in dieser Jahr unweigerlich an ihr Ende gekommen sind und für den größten Teil der Welt eine erhebliche Entwicklung zum Schlechteren unausweichlich ist. (Zeihan hat die letzten Korrekturen am Text während der ersten zwei Monate der russischen Invasion in der Ukraine vorgenommen & keinen Anlaß gesehen, von seinen Befunden abzuweichen; in seinem ersten Buch, „The Accidental Superpower,“ hat er im Herbst 2014 (!) genau diesen Krieg, genau diese Invasion für das Jahr 2022 vorhergesagt). Das Wirtschaftsmodell der billigen Energie, des globalen Schutzes der Warenströme, das die Pax Americana nach dem Zweiten Weltkrieg garantiert hat – all das liegt hinter uns und wird sich nie wieder einstellen. Dabei zuckt der Autor über das Gespenst der angeblichen „Klimakatastrophe“ nur die Schultern: die Entwicklung der Technik in den letzten 150 Jahren hat den Menschen weltweit eine solche Unabhängigkeit und einen solchen Schutz beschert, daß, selbst wenn sich die weltweiten Temperaturen infolge der Industrialisierung erhöhen sollten, die Folgen nichts als eine Quantité negligéable darstellen. Dagegen werden sich die Folgen der demographischen Implosion, der Migerationsströme, der Überalterung sämtlicher Gesellschaften außerhalb Afrikas, in den kommenden Jahrzehnten sehr handfest bemerkbar machen - und das schon im Laufe dieses Jahrzehnts. Weniger Produzenten bedeuten entsprechend weniger Steuern und entsprechend weniger Kapital für staatliches Handeln; schrumpfende Absatzmärkte bedeuten weniger Konsumenten und somit weniger Kapitalgenerierung. Gegen diese längst in Gang gesetzten und unaufhaltsamen Entwicklungen ist jedes Gerede von Automatisierung und „Effizienzsteigerung“ reine Illusion.



Ebenso unbeeindruckt von allen Ankündigungen der „Klimakatastrophe“ und den Appellen zum Ausstieg aus der „CO2-Wirtschaft“ – am besten sofort! – ist Alex Epstein in seinem Buch „Fossil Future: Why Global Human Flourishing Requires More Gasa, Oil, Coal and Natural Gas – Not Less“ (Portfolio Books, Mai 2022). Epstein versammelt auf seinen 480 Seiten noch mehr Belege, Statistiken, Daten als Zeihan und legt in einem Plädoyer von noch nicht dagewesener Dichte den Nachweis vor, daß sich das Wohlergehen, daß sich die Menschheit seit dem Ende des Sozialismus erfreut, einzig und allein der massiven Anwendung fossiler Brennstoffe verdankt. Das Ende der Welthungers, die problemlose Versorgung von jetzt acht Milliarden Menschen, der Anstieg der weltweiten Lebenserwartung auf über 70 Jahre weltweit und mehr als 80 Jahre in der entwickelten Welt – all das wäre undenkbar ohne die intensive Nutzung fossiler Energien. Mehr als 80 Prozent des weltweiten Energiebedarfs werden dadurch bedeckt – nicht zuletzt fast die Gänze der landwirtschaftlichen Produktion, von der Erzeugung von Kunstdünger, dem Transport von Saatgut, der Ernte und dem Transport der Ernte und der Weiterverarbeitung zu Endprodukten wären ohne eine solche Nutzung absolut undenkbar. Epstein verweist darauf, daß entgegen dem Alarmgeschrei aller Gretas die nachweisbare Anzahl der Menschen, die den Unbillen des Klimas und der Naturkatastrophen zum Opfer gefallen sind, in den letzten 100 Jahren um 98 Prozent – im Worten: um das FÜNFHUNDERTFACHE – gesunken ist; daß die Menschheit durchaus in der Lage ist, sich an Orten wohnlich niederzulassen, die nach dem Maßstäben der Vormoderne praktisch unbewohnbar wären, von Alice Springs bis Dubai, von Anchorage bis Reykjavik, daß Kälte zehnmal mehr Menschen tötet als Hitze und daß wir infolge der „Shale Revolution“ auf Jahrhunderte mit sicher fossiler Energie versorgt sein werden – immer vorausgesetzt, diese einzigartige Erfolgsschiene der Menschheit wird nicht durch ideologische Blindheit und Fanatismus torpediert. Epstein weist darauf hin, daß es Grünen und „Ökos“ stets nur vordergründig um „die Zukunft der Menschheit“ geht. Sobald ihre Ideologie es ihnen vorschreibt, sind Naturschutzgebiete kein Hindernis, um sie zugunsten „alternativer Energien“ zu roden; ihr einziges Mantra ist der Verzicht, der Rückbau, die Zerstörung genau jener Grundlagen, die unsere Unabhängigkeit von den Launen und den Zumutungen des Wetters erst möglich gemacht haben. Um Epstein zu zitieren: „Fossile Brennstoffe haben nicht etwa dazu beigetragen, eine gute Natur zu zerstören, sondern haben es erst möglich gemacht, aus einer lebensfeindlichen Natur einen bewohnbaren Planeten zu machen.“



Und wenn ich es so recht überlege, dann könnten es durchaus solche faktengesättigten Feststellungen sein, die mir das Vergnügen am immergleichen erzählten Hin und Her zusätzlich ein wenig verleidet haben.

PS.

Im Original von „The Life of Brian” sagt Pilatus, dessen Spwachfehler ihm die Ausspwache des „r“ vefwehrt, übrigens:

Pilatus: Hohoho, the little wascal has spiwit.
Centurio: Has what, sir?
Pilatus: Spiwit.
Centurio: Yes. He did, sir.
Pilatus: No, no. SPIWIT. Um … bwawado. A touch of dewwing-do.
Centurio: Oh… About eleven, sir.
U.E.

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