I.
„Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen schon Wirklichkeit sein. Hier ist ein Märchen von übermorgen. Es gibt keine Nationalstaaten mehr. Es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien im Weltraum. Man siedelt auf fernen Sternen. Der Meeresboden ist als Wohnraum erschlossen. Mit heute noch unvorstellbaren Geschwindigkeiten durcheilen Raumschiffe unser Milchstraßensystem. Eines dieser Raumschiffe ist die Orion, winziger Teil eines gigantischen Sicherheitssystems, das die Erde vor Bedrohungen aus dem All schützt.“
So, nicht ohne leicht dräuende Pathetik, begann vor 56 Jahren die Einleitung, als in der einzigen genuinen Science-Fiction-Serie, die das Fernsehen der alten Bundesrepublik je hervorgebracht hat, der Schnelle Raumkreuzer Orion unter dem Kommando von Major Cliff Allister McLane, gespielt von Dietmar Schönherr, am 8. September 1966 zum ersten Mal von der Meeresbasis 104 in die unendlichen Weiten abhob – genau 9 Tage vor dem Erstflug der NGG-1701 Enterprise der Sternenflotte unter Commander James Tiberius Kirk auf dem amerikanischen Fernsehsender NBC. (Übrigens lagen die Einschaltquoten für die beiden Folgen nicht so sehr auseinander, „Angriff aus dem All“ kam in der ARD auf eine Zuschauerquote von 37 Prozent; „The Man Trap“ erzielte ein Nielsen Rating von 25,1.)
Die sieben Folgen der von Rolf Honold konzipierten Serie für die Produktionsfirma Bavaria spielten in einem nicht weiter konkretisierten „Jahr 3000“; in ihrer damaligen ersten Inkarnation fand „Star Trek“ in einem ebenso konturlos-ausgesparten „23. Jahrhundert“ statt; die genaue Konkretisierung der „Sternzeit“, mit der auch die Logbucheinträge, mit denen jede Folge in diesem Kosmos seitdem anhebt, erfolgte erst während der ersten Staffel des Nachfolgers „The Next Generation“ im Jahr 1987. Keiner der damaligen Macher konnte damals ahnen, daß in diesen Wochen, 56 Jahre später, tatsächlich ein Raumschiff mit dem Namen „Orion“ zu seinem ersten Flug „am Rande der Unendlichkeit“ aufbrechen würde, um eine neue Epoche beim Aufbruch der Menschheit in unsere unmittelbare kosmische Umgebung einzuleiten. Eine kleine weitere Parallele sei vermerkt: während die „Enterprise“ laut dem Intro der deutschen Synchronfassung mit „400 Mann Besatzung“ unterwegs war, „um ferne Galaxien zu erforschen“, verzichtete der Original-Auftakt darauf; dort hieß es „its five-year mission: to seek out new worlds and new civilizations.“ Während der Raumkreuzer der Schnellen Kampfverbände eine Stammbesatzung von 5 Personen aufwies (Sicherheitsoffizier Tamara Jagellovsk, gespielt von Eva Pflug, wurde dem eigenmächtigen Kapitän bekanntlich nach seiner Strafversetzung als Schießhund zur Seite gestellt), ist die – tatsächliche -„Orion“ für vier Raumfahrer ausgelegt. Bei dieser 26 Tage dauernden Erprobung der Kapsel und ihrer Systeme sind wie bei den beiden Missionen von Apollo 4 und Apollo 6 nur ein mit zahlreichen Meßinstrumenten versehene Raumanzug und zwei künstliche Torsi in Form weiblicher Oberkörper, Moonikins genannt, in den gepolsterten Schalensitzen an Bord – und als Maskottchen und Anzeiger für die Schwerelosigkeit die Stofffigur eines nicht ganz unbekannten Beagles, der sich sonst lieber auf dem Dach seiner Hundehütte fliegend als „das berühmte Fliegeras des Ersten Weltkriegs“ „dogfights“ mit dem Roten Baron liefert. So wie der Name des neuen Mondprogramms, Artemis, ein Echo auf „Apollo“ darstellt, wo auch hier: zum einen wäre sein Schöpfer Charles M. Schulz, am 10. Tag der Mission, dem 26. November, 100 Jahre alt geworden; zum anderen ist es nicht Snoopys erster Ausflug zum Erdtrabanten: die Mondlandefähre beim Flug von Apollo 10 im Mai 1969, deren Probeabstieg bis auf 14 km an die Oberfläche heranführte, trug seinen Namen als Funkrufkennung; während die Raumkapsel „Charly Brown“ getauft wurde.
Begleiten wir die Orion – noch ohne Besatzung - bei ihrem Patrouillendienst am Rande der Unendlichkeit.
II.
(Die Bilder stammen von einer der Kameras, die an den Enden der 11 m langen Solarpaneel-Flügel montiert sind.)
Heute nachmittag hat sich die Orion – die realiter gegebene „Orion“ – endgültig auf den „Rücksturz zur Erde“ begeben, wie es vor 56 Jahren im Drehbuch genannt wurde. Um 17:43 Mitteleuropäischer Zeit (und um 11:43 ET, Eastern Time, nach der Ortszeit der Bodenkontrolle in Florida) zündete das Haupttriebwerk des Raumschiffs für 217 Sekunden, drei Minuten, nachdem die Orion auf der Sicht des Deep Space Network im Funkschatten des Mondes verschwunden war. Diese längste Zündung während der ganzen Mission brachte die Kapsel auf den Kurs, an dessen Ende sie am kommenden Sontag, dem 11. Dezember, um 19 Uhr 06 mitteleuropäischer Zeit, vor der amerikanischen Pazifikküste in der Nähe der kalifornischen Hafenstadt landen wird. Anders als bei den Apollo-Missionen vor einem halben Jahrhundert kommt dabei kein Flugzeugträger zum Einsatz, sondern ein „Amphibious Transport Dock“ (als LPD, „Landing Platform Dock“ abgekürzt), die John P. Murtha, die über ein Hubschrauberdeck verfügt. Es ist übrigens die erste Wasserlandung eines amerikanischen Raumschiffs, seit die letzte gebaute Apollo-Kapsel am 24 Juli 1975 von der gemeinsamen Apollo-Sojus-„Freundschaftsmission“ aus dem All zurückkehrte. (Dieser Flug und die drei Starts zur ersten amerikanischen Raumstation Spacelab waren nur möglich geworden, weil der US-Kongress im Januar 1971 die letzten drei geplanten Mondlandungen gestrichen hatte, die Hardware – die Raumkapseln und Saturn-V-Raketen, aber schon weitgehend fertiggestellt waren.)
Es war die dritte „Erdbedeckung“ aus Sicht der Raumkapsel. Zu der ersten war es am 22. November beim ersten Vorbeiflug am Mond, gekommen, zu der zweiten kurz nach dem Erreichen des erdfernsten Punkts der Mission, am 28. November, gut zwei Stunden, bevor eine Zündung des OMS, des Onboard Maneuvering System, für die Dauer von 105 Sekunden um 22 Uhr 54 (MEZ) das Raumschiff aus seiner „eigentlichen“ Mondumlaufbahn, dem „NRHO“, den „Near Rectilinear Halo Orbit“ auf Kurs für das heutige Swingby-Manöver brachte, bei dem die Annäherung auf gut 130 km dafür sorgt, daß die Masse unseres Trabanten den Löwenanteil an der Kursänderung übernimmt.
Bislang hat dieser Probeflug die Erwartungen der Ingenieure und der Flugleitung weit übertroffen. Bis zu diesem Zeitpunkt (ich tippe diese Zeilen am 19. Tag der Mission, bei 15 Stunden und 40 Minuten, während die Kapsel 244.600 Meilen von der Erde entfernt ist und den Mond bereits 16.440 Meilen hinter sich gelassen hat). Vor dem heutigen Manöver waren in den vier Treibstofftanks des Versorgungsmoduls „Bremen“ mehr als 75 Kilogramm Treibstoff mehr vorhanden als ursprünglich geplant; diese Tanks, die jeweils 2000 Liter fassen und von denen zwei mit Stickstoffoxyden und zwei mit Hydrazin gefüllt sind, stehen unter einem Druck von rund Atmosphären. Die Auswertung der Messdaten in den beiden „anthropomorphen Phantomen“ (*), die das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit auf Patrouillenfahrt am Rand der Unendlichkeit geschickt hat, erfolgt erst im Anschluß an die Landung. Die beiden Meßpuppen, die die Namen „Helga“ und „Zohar“ tragen, sind weiblichen Oberkörpern nachgebildet und bestehen aus insgesamt 34 Scheiben, auf denen rund 10.000 Meßpunkte angeordnet sind.. Weibliche Körperorgane reagieren, das haben 40 Jahre Raumfahrterfahrung ergeben, empfindlicher auf die erhöhte Strahlenbelastung im All; die neuen Mondmissionen führen wie ihre Vorläufer vor einem halben Jahrhundert über den Bereich der Van-Allen-Gürtel hinaus, unterhalb derer das Magnetfeld der Erde die hochenergetische Strahlung der Sonne ablenkt und abschirmt; allerdings hielten sich die Raumfahrer damals auch nur knapp eine Woche dort auf, während die Dauer der Artemis-Missionen je nach dem Stand von Erde und Mond zueinander zwischen 26 und 42 Tage dauern wird. (*Das Wort „Geisterschiff“ verkneife ich mir an dieser Stelle).
III:
Die mehrmalige Verschiebung des Starts von „Artemis 1“ hat, ganz ungeplant, mehrere solcher „terminlicher Reime“ mit sich gebracht. Die ersten beiden Startversuche am 30. August und 3. September scheiterten bekanntlich an Lecks, die bei der Betankung mit flüssigem Wasserstoff austraten; der dritte Versuch, der für den 29. September geplant war, fiel durch den Hurrikan Ian buchstäblich ins Wasser. So kam es zu dem Echo mit dem Start des Schnellen Raumkreuzers aus Bayern (erinnert sich noch jemand an das Zukunftsprojekt „BavariaOne“ von Ministerpräsident Söder?) und der ungewollten Hommage an den Vater von Snoopy. Auch der „letzte Erdaufgang hinter dem Mond“ aus Sicht eines Raumschiffs, das für eine menschliche Besatzung ausgelegt ist, reimt sich so: zum letzten Mal wurden menschliche Augen vor fast auf den Tag genau vor einem halben Jahrhundert Zeugen dieses Schauspiels, als das Kommandomodul von Apollo 17 am 16. Dezember 1972 seinen 75. und letzten Mondumlauf vollendete und sich um 17 Uhr 54 Houstoner Zeit mit dem TIB, den Transearth Injection Burn, ebenfalls auf den Weg zurück zur Erde machte. Man sollte angesichts der nie wirklich ganzzahligen Verhältnisse in kosmischen Angelegenheiten hier ein wenig Nachsicht üben: selbst ein irdisches Jahr ist etwas länger als 365 Tage, was uns alle vier Jahre einen Schalttag beschert, die die Elliptizität der Mondbahn hat zur Folge, daß nicht bei jeder Sonnenfinsternis die Scheibe unseres Muttergestirns vollständig verdeckt wird. Während die Landung der tatsächlichen „Orion“ am 11. Dezember um wie erwähnt 19:06 erfolgt, fand der finale Rücksturz des Schnellen Raumkreuzers an einem 10. Dezember, um 21:15 statt.
IV.
Ein letztes Beiseit noch zur den "phantastischen Abenteuern des Raumschiffs Orion" (um der Serie ihren korrekten Titel zu geben): Der Bayerische Rundfunk hatte sich zur Entstehung des Serie zusammen mit dem Südwestfunk nur deshalb auf die immensen Produktionskosten von 400.000 DM pro Folge eingelassen, weil man hoffte, diese Investitionen durch den Verkauf der Senderechte ans ausland wieder einspielen zu können (da der Aufwand das Budget der beiden Sendeanstalten sprengte, wurden noch der NDR und der WDR für die Finanzierung mit an Bord geholt). Der Verkauf der Rechte in die USA zerschlug sich; nicht wegen "Star Trek", sondern weil die deutsche Serie noch in schwarzweiß gedreht worden war (der Start des Farbfernsehens erfolgte erst Ende 1967). Letztendlich darf man in diesem Scheitern wohl eine "felix culpa" rblicken, wie es der Kirchenvater Augustinus formuliert hat. Bei einer Ausstrahlung in den Vereinigten Staaten wäre es sicher manchem Zuschauer aufgefallen, daß sich Drehbuchautor Honold bei der vierten Folge, "Hüter des Gesetzes", sagen wir "sehr intensiv" von einer Erzählung von Isaac Asimov hat inspirieren lassen, nämlich der Roboter-Story "Reason", der zweiten in Asimovs Zyklus über die bekannten drei Robotergesetze, Im April 1941 in "Astounding Science Fiction" erschienen, in der ein von strenger Logik geleiteter lechkumpel auf einem einsamen Posten in der Tiefe des Alls ebenfalls auf die Idée fixe verfällt, er sei aufgrund seiner Unfehlbarkeit ein höheres Wesen und sich daraufhin zum unberitten Tyrannen zum Wohl der menschlichen Mitbesatzung entwickelt.
Beim Nachschauen über den wenig bekannten Illustrator, der nur mit "Rey Isip" zeichnet, ist man wieder einmal erstaunt über die Internationalität der Zeichner, die in jenen frühen Jahren die großformatigen Hefte des Genres bebilderten. Boris Dolgov, der viele frühe Texte von Ray Bradbury für "Weird Tales" illustriert hat, war in Russland geboren; Alex Schomburg entstammte einer deutschstämmigen Familie aus Puerto Rico, Frank R. Paul, der namhafteste Bildgeber der ersten 10 Jahre dieser Magazine, ist 1884 in Bad Radkersburg in Österreich geboren, und "Rey Isip", mit vollem Namen Pagsilang Rey Isip, ist am 1. Januar 1911 auf den Philippinen geboren und 1928 mit sinem älteren Bruder in die USA ausgewandert. Während der ersten Jahre seiner Karriere als kommerizieller Künstler lieferte er von 1939 bis 1941 Zeichnungen für diverse SF-Mgazine ab, davor er sich auf das aufblühende Medium der Comichefte konzentrierte.
(Pagsilang Rey Isip)
V.
Trotzdem könnte man in leicht frivoler Stimmung auf die Idee verfallen, es könnte „höheren Orts“ eine Instanz mit Humor geben, die sich mit solchen kleinen Schnörkeln bemerkbar macht (so wie etwa die Simulationshypothese des englischen Philosophen Nick Bostrom als jeu d’esprit die Möglichkeit vorschlägt, daß wir, samt unserer gesamten wahrgenommenen Umwelt, nur als Programm, eben als Simulation, existieren, ein Szenario, das aus der „Matrix“-Trilogie oder „Welt am Draht“ geläufig sein sollte, ganz zu schweigen von den Programmen, die sich auf dem Holodeck der Enterprise NGC-1701-D unter Captain Jean-Luc Picard tummeln). Die „Orion“ – die virtuelle Orion – flog bekanntlich unter dem Kommando von Cliff McLane. Dieser Name ist nun nicht besonders ungewöhnlich, aber doch erheblich weniger verbreitet als etwa Smith oder Miller oder im Deutschen Müller oder Meier. Eine Nachsuche in diversen Datenbanken für Ahnen- und Verwandtschaftsforschung ergibt, daß es weltweit in den unterschiedlichen Schreibweisen des Namens gibt: für „McLane“ 7561 (davon 7260 in den USA), „McLaine“ 24302 (USA: 23736), „McClain“ 60395 (in den USA 60297) und für „McClaine“ weltweit 1272; davon in den Vereinigten Staaten 1258. Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2014. Bislang sind im Lauf der letzten 61 Jahre gut 620 Menschen ins All gestartet; in den USA sind seit dem Juni 1959 insgesamt 334 Kandidaten als Astronauten ausgesucht worden (einschließlich der ersten „Mercury 7“). Da für die „erste Staffel“ der anstehenden bemannten Mondmissionen nur US-amerikanische Staatsbürger zur Auswahl standen, kommen mithin maximal 92582 Kandidaten mit einer dieser Namensvarianten in Frage – einschließlich Kindern, Rentern und Gebrechlichen. Im Dezember 2020 hat die NASA ein erstes Team von 18 Personen vorgestellt, die ab 2024 die Besatzung der nächsten „Artemis“-Missionen stellen sollen. Und unter diesen Namen findet sich – richtig! – der Name McClain: genauer: Anne McClain, geboren 1977 in Spokane, seit 2013 im Astronautenteam der NASA, mit einem Abschluß als Luftfahrtingenieur an der Militärakademie in West Point und der Universität Bath und vom Dezember 2018 bis Juni 2019 220 Tage lang Teil der Expeditionen 68 und 69 auf der Internationalen Raumstation.
Rein rechnerisch liegt die Wahrscheinlichkeit, daß jemand unter diesen 18 Kandidaten ist, bei einer Gesamtbevölkerung der USA von 320 Millionen bei 1 zu 18,3 Millionen; bei der Häufigkeit dieses Namens (in allen Varianten) liegt diese Wahl um den Faktor 200 höher als es erwartbar ist. Und jetzt liegt die Chance, daß demnächst ein Raumschiff namens Orion mit jemandem namens McLane an Bord aus Patrouillenflug am Rand der Unendlichkeit startet, bei 1:4,5. Wie gesagt – mitunter möchte mal gerne abergläubisch werden und das als ein Zeichen nehmen, daß wir uns nicht nur in der Matrix befinden, sondern daß zumindest manche ihrer Programmier einen Sinn für Humor bewahrt haben. (Der Kleine Zyniker verweist auf Poecilotheria metallica, auch als „Blaue Ornament-Vogelspinne“ bekannt, oder die Quokkas aus Australien und fragt: wie kannst du eigentlich daran zweifeln?)
Da ich für meine bisherigen Beiträge zum Thema „eine wirkliche Mondrakete“ stets eine Titelmelodie gewählt habe, ist die heutige Auswahl natürlich „alternativlos,“ um das Lieblingswort einer großen Politikerin des 21. Jahrhunderts zu gebrauchen.
U.E.
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