18. Dezember 2022

"Wenn die Sojus aber nun ein Loch hat..."





(Sojus MS-22, zwei Stunden nach Auftreten der Leckage)

Ich bleibe beim Thema Raumfahrt.

Zuvor aber ein kurzer Ausgriff auf meine eigene Lesebiographie – auch wenn dies zunächst etwas exzentrisch anmuten mag. (Und zudem habe ich diese kleine Serie zum neuen Mondlandeprogramm Ende März mit einer solchen Reminiszenz begonnen.)

I.

Es gibt Daten, die sich durch äußere, weltpolitische Ereignisse unauslöschbar ins Gedächtnis eines jeden einprägen, der „dabei war“ – und sei es nur als Zuschauer am Fernsehbildschirm. Jeder, der alt genug war, um „es bewußt mitzuerleben,“ weiß, wo er sich befand, als Präsident Kennedy in Dallas erschossen wurde, als in Berlin Tausende auf die Mauer kletterten, und als die erste schwarze Rauchwolke aus dem Nordturm des World Trade Center aufzusteigen begann. Das erste solche „simultan erlebte“ Ereignis dürfte der Brand der „Hindenburg“ in Lakehurst am 6. Mai 1937 gewesen sein. Marshall McLuhan mag eher ein wildgewordener Fabulierer ohne empirische Bodenhaftung gewesen sein, aber mit seinem Befund, daß erst durch die „magischen Kanäle“ der elektronischen Nachrichtenmedien ein „global village,“ ein mediales Weltdorf, entsteht, lag er genau richtig. (Der kleine Pedant merkt an, daß McLuhan in seinem Buch „Understanding Media“ von 1964 diese „magische Fernwirkung“ eben nicht den elektrischen Massenmedien wir Radio und Fernsehen zuschreibt.)

Und für das private Erleben gilt dies ebenfalls. Einem reinen Zufall verdanke ich es, daß ich etwa, nun, nicht „weiß,“ aber im Nachhinein leicht feststellen kann, daß meine allererste Begegnung mit dem wichtigsten dieser magischen Kanäle, dem Fernsehen, am Sonntag, dem 24 März 1968, um ziemlich genau 17:47 stattgefunden hat. Das ist nun keine Wunderwirkung eines „gußeisernen Gedächtnisses“ (Arno Schmidt) eines damals Siebenjährigen. Denn in der „Flimmerkiste,“ die mein Onkel, den meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern im Schlepptau am Wochenende regelmäßig besuchten, seiner Familie gerade spendiert hatte und das wir als technisches Wunderwerk natürlich bestaunten, lief zu diesem Zeitpunkt die erste Wiederholung der „Raumpatrouille Orion“ (die an dieser Stelle schon Thema war) – und die Szene, in der Hasso Sibjörnson und Atan Shubashi (gespielt von Claus Holm und Friedrich Beckhaus) die Raumstation MZ-4 betreten und die dort in der Bewegung eingefrorene Besatzung finden, hat sich mir unvergesslich eingeprägt. Und diese Szene findet sich in der ersten Folge, „Angriff aus dem All,“ bei Minute 32, eine halbe Stunde nach dem Sendebeginn um 17:15 in der ARD.

­

Ebenso kann ich leicht ermitteln, daß unser eigener ersten Fernseher am späten Dienstagnachmittag des 19. August 1969 von zwei schwer außer Atem geratenen Angestellten unseres lokalen Radiohändlers in unser Wohnzimmer im Obergeschoß gewuchtet wurde. Bei der ersten Sendung, die nach dem Abendessen gemeinsam gesehen wurde, mußte Major Nelson Himmel und Hölle (im Wortsinn) in Bewegung setzen, um seinen bezaubernden, aber leicht zerstreuten Lampengeist Jeannie davor zu bewahren, auf den Mond geschossen zu werden (auch dies im Wortsinn) – womit wir wieder beim Thema wären. Der erste Teil des Vierteilers „Genie, Genie, Who’s Got the Genie,“ im Original die Folge 77, war in den USA im Januar 1968 als Teil der dritten Staffel gelaufen und wurde vom ZDF unter dem Titel „Jeannie und die Mondsafeknacker“ an jenem Tag mit Sendebeginn um 19:05 ausgestrahlt. Ich muß zugeben, daß mir beim Nachlesen die Handlung dieser Folge(n) ebenso albern und unlogisch vorkommt wie den damaligen Kritikern, die darin den „Haisprungmoment“ von „I Dream of Jeannie“ erkannten – aber als Gedächtnisstütze zum Festmachen der zeitlichen Wegmarken eignet sich derlei offensichtlich gut.

Und einem noch krauseren, geradezu surrealem Zufall verdanke ich es, daß ich, ohne es damals protokolliert zu haben, mit einem Mausklick kalendarisch ermitteln kann, daß meine zweite und bislang letzte Lektüre von Robert A. Heinleins SF-Roman „The Door Into Summer“ vom 14. bis zum 17. Juni 1997 stattgefunden hat, vor 25 Jahren also.

Wie viele passionierte SF-Leser („Nerd“ klingt so … nerdig), habe ich zwischen dem Alter zwischen 14 und 19 Jahren eine Phase durchgemacht, in der ich praktisch nichts anderes gelesen habe. Allerdings gehörte Heinlein, trotz seiner Status als „einer der großen Drei“ (neben Isaac Asimov und Arthur C. Clarke) nicht dazu. In den späten siebziger Jahren hatten die Taschenbuchverlage, zumindest die deutschen, seine frühen Romane, auf die sich sein durchaus verdienter Ruhm stützt, nicht mehr im Programm, und was etwa im Heyne-Verlag im Rahmen seiner Science-Fiction-Reihe herauskam, waren Übersetzungen seines Spätwerks – „I Will Fear No Evil“ (1970), 1973 als „Das geschenkte Leben“ und „Time Enough for Love“ (1973), im März 1976 als „Die Leben des Lazarus Long“ – bei denen schon die ersten Rezensionen ausreichten, um mich gründlich von der Lektüre abzuschrecken. (Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich halte „I Will Fear...“ nach wie vor für das SF-Pendant zu Gore Vidals „Myra Breckinridge,“ Norman Mailers „Ancient Evenings“ oder Günter Grass‘ „Die Rättin,“ was den Tiefpunkt der bisherigen Karrieren ihrer Verfasser angeht. Alle vier Autoren haben sich später freilich alle Mühe gegeben, diese Limbolatte noch weit zu unterbieten.)

Tout court: in den späten 1990er Jahren, zwei Jahrzehnte später, habe ich mich entschlossen, diese für das Genre nicht ganz kleine Bildungslücke aufzufüllen und mich peu à peu durch Heinleins Romane der späten vierziger und fünfziger Jahre zu lesen; einschließlich der zwölf Jugendromane von „Rocket Ship Galileo“ (1947) bis „Have Space Suit – Will Travel“ (1958), die im Jahrestakt beim Verlag Charles Scribner’s Sons erschienen sind. „The Door Into Summer“ war neben „Farnham’s Freehold“ die Ausnahme von meinem früheren Lektüre-Boykott gewesen. Ich habe das Buch zuerst im Taschenbuchnachdruck der Übersetzung von Tony Westermayr von 1963 gelesen, der Anfang 1980 bei Goldmann erschienen ist. Allerdings waren mir die meisten Details aus der Entfernung von fast zwei Jahrzehnten entfallen.

In dem Roman, im Januar und Februar 1955 im Zeitlauf von 13 Tagen niedergeschrieben, geht es darum, daß der Protagonist, Daniel Boone Davis, Ingenieur und Erfinder des Staubsaugerroboters, von seinem Geschäftspartner und dessen schlechterer Hälfte um seinen Firmenanteil betrogen und im Wortsinn kaltgestellt wird. Dan hatte Belle Darkin in der Hoffnung, sie für sich gewinnen zu können, ausreichend Anteile an seiner Firma überschrieben, daß die beiden ihn per Mehrheitsentscheid ausbooten und um die Patente für seine Weiterentwicklungen bringen können. Um zu verhindern, daß Dan sich auf den Rechtsweg begibt oder auf andere Weise lästig fällt, und um keinen Mord zu riskieren, wird er betäubt und mit gefälschter Identität per Kälteschlaf aus dem Jahr 1970 (*), in dem das Buch beginnt, ins Jahr 2000 expediert.

(*In dem realiter „Myra Breckinridge,“ „I Will Fear No Evil,“ Arno Schmidts „Zettels Raum“ und Harry Mulischs „De verteller, of Een idioticon voor zegelbewaarders“ erschienen sind – vier absolut unlesbare Scharteken, die jede den Anspruch darauf erheben, ein Chimborasso der Literatur zu sein.)

Die weitere Handlung des Buchs interessiert an dieser Stelle nicht (der Held trifft auf einen anderen Erfinder, der zufälligerweise gerade eine Zeitmaschine erfunden hat, die es ihm ermöglich, ins Jahr 1970 zurückzureisen und Rache zu nehmen), sondern die Art und Weise, mit der Heinlein die zweite Zukunft seines Romans seinen Lesern und dem Ich-Erzähler en passant präsentiert: mit der Lektüre einer Tageszeitung, die es, auch für Daniel überraschend, im Jahr 2000 immer noch gibt. Eager Beaver ist übrigens der Allzweck-Roboter in Menschengestalt, um dessen Vermarktung seine Kompagnons Dan betrogen haben und der ein Verkaufsschlager geworden ist.

Obwohl ich gerade dreißig Jahre Fastenzeit hinter mir hatte, galt meine Aufmerksamkeit nicht dem Essen; der Zimmerservice hatte eine Zeitung neben das Frühstück gelegt: die „Greater Los Angeles Times“ für Mittwoch, den 13. Dezember 2000.

Zeitungen hatten sich nicht sehr verändert. Das Format war das alte, sie war auf Hochglanzpapier gedruckt, und die Bilder waren entweder in Farbe oder dreidimensional; mir wurde der Trick hinter dieser Technik nicht klar. In meiner Jugend hatte es Stereobilder gegeben; als Kind war ich fasziniert gewesen von den Bildern, die man in den fünfziger Jahren an Tiefkühltheken finden konnte, auf denen die Fertiggerichte gezeigt wurden. Aber dafür waren ziemlich dicke Kunststoffschichten nötig gewesen, in denen Reihen von winzigen Prismen eingebettet waren; diese hier waren einfach flach auf normalem Papier gedruckt. Und trotzdem zeigten sie Tiefe.

Ich gab’s auf und widmete mich dem Rest der Ausgabe. Eager Beaver hatte sie auf ein Lesegestell gelegt und zunächst dachte ich, ich würde nur die erste Seite lesen können, denn ich schaffte es nicht, sie aufzuschlagen. Es war, als ob die Zeitung schockgefroren wäre.

Schließlich berührte ich zufällig die rechte untere Ecke des Blatts; es rollte sich hoch und zur Seite; offenbar hatte es etwas mit statischer Aufladung zu tun. Beim erneuten Antippen dieser Stelle konnte ich mühelos weiterblättern.

Die Hälfte der Meldungen waren so altbekannt, daß mir ganz nostalgisch zumute wurde: „Ihre Sternzeichen von heute … Bürgermeister weiht neuen Stausee ein … Sicherheitsmaßnahmen führen zur Einschränkung der Pressefreiheit, erklärt New Yorker Experte … Ungewöhnlich warmes Wetter gefährdet Wintersport … Pakistan droht Indien …“

Andere Meldungen waren neu, aber sofort verständlich: „SHUTTLEVERBINDUNG ZUM MOND wegen Geminiden-Meteoren unterbrochen – Raumstation erleidet zwei Lecks; keine Todesopfer. Vier Weiße in Kapstadt gelyncht – UN zum Eingreifen aufgefordert. Leihmütter streiken für bessere Bezahlung; fordern das Verbot privater Verträge.“ (**)


Und als ich an jenem Mittwoch, dem 25. Juni 1997, um etwa 23:25 Uhr diese Passage gelesen hatte, fiel mir dabei ein, daß ich wie üblich den ganzen Tag über versäumt hatte, die Nachrichten zu verfolgen. Nicht so sehr aus Neugierde, sondern um mir den Kontrast von Heinleins imaginiertem Jahr 2000 und der krass-konkreten Wirklichkeit des Jahres 1997 („close enough for business purposes“) handgreiflich vor Ohren zu führen, schaltete ich fünf Minuten später das Radio ein. Und die erste verlesene Meldung lautete…

… daß die Raumstation an jenem Tag ein Leck erhalten hatte. Ohne Todesopfer.

II.



(Das beschädigte Modul der MIR, aufgenommen vom Space Shuttle Atlantis im September 1997 während der Mission STS 86)

Es handelte sich vor 25 Jahren, 17 Monate vor dem Start des ersten Moduls der Internationalen Raumstation ISS, naturgemäß um die russische Raumstation MIR. Am Tag zuvor der das Transportraumschiff Progress M-34, das Anfang April von Baikonur aus mit Versorgungsgütern gestartet war, abgekoppelt worden, um einen neuen Andockversuch durchzuführen. Zweck des Manövers war ein Test, ob dieser Vorgang allein durch die Handsteuerung von der Station aus sicher durchzuführen war; zu diesem Zweck war das automatische Steuerungssystem „Kurs“ (russisch: Курс) ausgeschaltet worden. Bei dem Andockversuch um 10:18 Mitteleuropäischer Zeit am Folgetag, bei dem der Kosmonaut Wassili Zbilijew die manuelle Fernsteuerung übernommen hatte, kollidierte die 7 Tonnen schwere Kapsel mit einer Geschwindigkeit von gut 10 Stundenkilometern mit dem Spektr-Modul der Station, beschädigte ein Sonnensegel und sorgte durch die Verkantung des Moduls dafür, daß der Stutzen, der das Modul mit dem Rest der Station verband, undicht wurde. Spektr war erst zwei Jahre zuvor, am 1. Juni 1995, an die MIR angedockt worden und diente seitdem als Quartier bei den Besuchen der amerikanischen Astronauten. Die Luft entwich nur langsam, aber um die innere Luke schließen zu können, mußten die Kosmonauten die Stromkabel zu den vier Sonnenpaneelen an der Außenseite des Moduls kappen; dadurch sank die Stromversorgung der MIR um 60 Prozent.

Bei einem „internen Raumspaziergang“ wurde zwei Monate später, im August 1997, diese Luke von den Kosmonauten Anatoli Solojwew und Pawel Winogradow durch eine neu gefertigte ersetzt, die mit isolierten Öffnungen zur Durchleitung der Stromkabel versehen war und so die Stromversorgung der MIR weitgehend wieder hergestellt; aber das Spektr-Modul blieb weiter ohne Druck und unbewohnt, bis die MIR Ende März 2001 ihr Ende im Pazifischen Ozean fand.

(Der Kleine Chronist der Populärkultur merkt an, daß SPECTR auch der Name der finsteren Übeltäterorganisation war, die im Kosmos des Agenten 007 - „My name is Bond, James Bond“ - von Ernst Stavro Blofeld geleitet wird, einschließlich eines auf Satellitenfang ausfliegenden Raumschiffs im Film „You Only Live Twice“ von 1967, für den übrigens niemand Geringeres als Roald Dahl das Drehbuch geliefert hat. Und des weiteren merkt er an, daß die Weltraumkarambolage von 1997 an die Havarie des Kernkraftwerks Tschernobyl elf Jahre zuvor erinnert. Auch dort war ein erprobtes Sicherheitssystem – zweie sogar – ausgeschaltet worden, um ein neues testen zu können. Als der Reaktorblock 4 in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 auf „überkritisch“ gefahren wurde, sorgten die sich widersprechenden Anweisungen in den Betriebsmanualen dafür, daß die Fächer der Brennstäbe noch weiter aus dem dämpfenden Graphitkern herausgefahren wurden. Dieses „Gaswegnehmen“ führte zum genauen Gegenteil des Beabsichtigten und verstärkte die Wirkung fatal. Heinleins Raumstation, die im Roman keine weitere Rolle spielt, befindet sich in geostationärer Umlaufbahn.)

III.

Langer Rede kurzer Sinn: vielleicht erklärt das Obige, warum mich vorgestern, am Donnerstag, ein heftiges Déjà Vu befiel, als ich kurz nach Mittag die ersten Meldungen las, daß es „auf der Raumstation," in diesem Fall der Internationalen Raumstation ISS, "zu einem Leck gekommen ist," das möglicherweise ein starke Auswirkungen auf die Missionen der nächsten Zeit haben wird – nicht an einem 13. Dezember, sondern dem 15., und auch nicht im Jahr 2000, sondern im Jahr 2022. (Was an die alte „Frage an Radio Eriwan“ erinnert: Stimmt es, daß Pawel Petrowitsch in der Lotterie ein Auto gewonnen hat? Antwort: Im Prinzip ja. Aber es handelt sich nicht um Pawel Petrowitsch, sondern um Iwan Semjon. Und es handelt sich nicht um ein Auto, sondern um ein Fahrrad. Und er hat es nicht im Lotto gewonnen, sondern es ist ihm gestohlen worden. Aber ansonsten stimmt die Meldung.)

Das Leck trat um 01:45 MEZ auf, als die Meßinstrumente an Bord der ISS einen Druckabfall im Kühlsystem der Sojus MS-22 registrierten, die am 21. September von Baikonur mit den beiden russischen Raumfahrer Sergej Prokopjew und Dmitri Petelin und ihren amerikanischen Kollegen Francisco Rubio von Baikonur aus gestartet war und nach nur vier Stunden Flugdauer am Rasswet-Modul der ISS andockte. Auf den Bildern der Außenbordkameras der Station ist deutlich zu sehen, wie über einen Zeitraum von drei Stunden Partikel vom hinteren Versorgungsteil der Kapsel wegdrifteten – große Eiskristalle, die im Vakuum schockgefrieren (wie Dans Zeitung), weil die direkte Sublimation im Vakuum dem Tropfeninneren blitzartig die Wärme entzieht. Es wird allgemein angenommen, daß es sich bei dieser Flüssigkeit um den Vorrat an Ammoniak handelt, der zur Wärmeregulation im Inneren der Kapsel dient. Erst als dieser Vorrat vollständig verdunstet war, kam der Austritt zum Erliegen. (Der kleine Pedant merkt an, daß sich die ISS beim Auftreten des Lecks auf ihrer insgesamt 37.323. Erdumkreisung befand, gerechnet siet dem Start des Zarya-Moduls am 20. November 1998.)

Die Vorbereitungen für den Außenbordeinsatz von Prokopjew und Petelin, die bereits in der Luftschleuse der ISS warteten, um ein Gestell mit Kühlrippen von eben diesem Rasswet-Modul abzumontieren und am Modul Nauka wieder anzuschrauben, das seit dem Juli 2021 Teil der Station ist. Ein solcher Notfall hat naturgemäß oberste Priorirät vor allen planmäßig vorgesehenen Aktivitäten.





Sowohl die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos wie auch die NASA haben sich gestern seit dem Auftreten des Lecks auffallend bedeckt gehalten. Das liegt auch daran, daß das Ausmaß sowie die Ursache des Schadens noch weitgehend unbekannt sind. Eine Inspektion der Kapsel von außen mit Hilfe des 11 Meter langen europäischen Roboterarms ERA, der am Nauka-Modul montiert wird und vom russischen Teil der Station aus bedient wird, ist am Donnerstagmittag ohne greifbare Ergebnisse geblieben. Gesteuert wurde er dabei von der Kosmonautin Anna Kikina, die Anfang Oktober an Bord einer Crew Dragon-Kapsel zur Station gestartet ist, volle 20 Jahre, nachdem zum letzten Mal ein russischer Staatsbürger den Trip ins All von amerikanischem Boden aus angetreten hat. (Eine weitere Ironie liegt darin, daß der polternde Chef der russischen Raumfahrtbehörde, Dmitri Rogosin, dessen Ausfälle gegen den Westen nach dem Überfall auf die Ukraine ihn im Juli tatsächlich seinen Job gekostet haben, im Frühjahr kategorisch verlangt hat, die russischen Raumfahrer sollten auf jede Benutzung der europäisch-amerikanischen Module und ihrer Einrichtungen verzichten.) Eine weitere Inspektion mit dem fast 18 m langen Roboterarm der „europäischen Seite,“ dem Canadarm2, soll in den nächsten Tagen erfolgen.



(Das RASSWET-Modul mit dem oben darauf montierten Kühlgestell)

Einen unmittelbaren Einfluß auf das Leben an Bord der Station hat dies nicht. Die Sojus-Kapsel sollte die Mitglieder der „Expedition 62/63,“ die sie zur ISS gebracht hat, am 16. März 2023 wieder zur Erde zurückbringen; ansonsten dient sie als „Rettungsboot“ und Notquartier, wenn bei einem Unfall das Innere der ISS unbewohnbar werden sollte (etwa durch ein Feuer, wie es im Februar 1997 auf der MIR ausbrach, als eine Sauerstoffkerze, im NASA-Jargon SFOG, „Solid Fuel Oxygen Generator,“ in Brand geriet).

Allerdings hat dieser Zwischenfall ganz handfeste Folgen für den Verlauf der anstehenden Schichtwechsel an Bord der Station. An Bord der Dragon Endurance von SpaceX ist nur Platz für die vier Mitglieder der „Crew 5“. Das durch das jetzt fehlende Ammoniak ausgefallene Regulierungssystem dient nicht dazu, um die Besatzung an Bord vor der „Kälte des Weltraums“ zu schützen, sondern um eine Überhitzung im Innern zu verhindern. Die Wände der Stationen und Kapseln sind isoliert, und das durch das umgebende Vakuum der Wärmetransport durch Konvektion entfällt, verlieren sie Wärme um einiges langsamer als jede denkbare Thermosflasche. Das ist auch der Grund, warum Raumanzüge für Außenbordeinsätze solche überdimensionierten Rückentornister aufweisen: sie enthalten große Kühlrippen, um für diesen Austausch eine möglichst große Oberfläche zu bieten. Und das ist auch der Grund, warum sich die Raumfahrer bei diesen EVAs so „langsam wie Mitternachtsnebel bewegen“ wie es der englische Dichter Thomas Traherne (1636-1674) vor 350 Jahren in anderem Zusammenhang formuliert hat („the darksome Statesman hung with weights and woe, / Like a thick midnight fog, moved there so slow“): die Bewegung ohne festen Halt in den ungefügigen Skaphandern ist ungemein kräfteraubend, und die Wärmeentwicklung soll nach Möglichkeit reduziert werden.

Ohne ausreichende Wärmeabfuhr heizen sich Raumfahrzeuge infolge der direkten und ungefilterten Sonneneinstrahlung aber schnell auf. Als beim Start der ersten amerikanischen Raumstation Skylab im Mai 1973 die Energieversorgung ausfiel, weil sich einer der beiden Flügel mit Solarzellen nicht ausfaltete, stieg die Innentemperatur bis zum Eintreffen der ersten Crew 11 Tage später auf 52 Grad Celsius an. Laut den Spezifikationen ist der Bereich für die Besatzung bei den Sojus-Kapseln vom Modell MS, die seit 2016 als Mannschaftstransporter im Einsatz sind für einen engen Korridor zwischen 18 und 25 Grad Celsius ausgelegt und ein Absinken auf 10 Grad oder eine Erhöhung auf 30 Grad darf nur für drei Stunden am Tag erfolgen. Das scheint ein wenig übertrieben. Wenn es aber tatsächlich zu einem Ausfall der Bordcomputer kommen sollte, müßte die Ausrichtung für die Landung per Handsteuerung erfolgen, durch deren Schwerfälligkeit und geringere Präzision der Ort, an dem die Kapsel niedergeht, wesentlich ungenauer zu bestimmen ist. Zudem gibt es zahlreiche andere System an Bord, deren Funktionieren sichergestellt ein muß. Die Flugleitung hat am Freitagmorgen einen Test der Antriebe der Kapsel durchgeführt, der den Pressemitteilungen zufolge zufriedenstellend ausgefallen sein soll. Der Bordrechner habe sich dabei zwar erwärmt, das sei aber im zulässigen Rahmen geblieben.

Gestern hat die halboffizielle russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti am frühen Nachmitttag unter Berufung auf eine „informierte Quelle“ gemeldet, in der Kapsel seien die Temperaturen auf mehr als 50 Grad gestiegen. Roskosmos hat dies umgehend dementiert und stattdessen von „30 Grad“ berichtet.

МОСКВА, 16 дек — РИА Новости. Температура в пристыкованном к МКС российском корабле "Союз МС-22" достигла 50 градусов Цельсия из-за аварии в системе охлаждения, сообщил РИА Новости информированный источник.

14:32



(Moskau, 16. Dez. – RIA Nowosti. Die Temperatur im Innern des Raumschiffs „Sojus MS-22“ hatt 50 Grad Celsius infolge des Versagen des Kühlsystems erreicht, wie eine informierte Quelle RIA Nowosti berichtete.)




Госкорпорация «Роскосмос»

Распространенная РИА «Новости» информация со ссылкой на «информированный источник» о повышении температуры в «Союзе МС-22» до +50 градусов Цельсия не соответствует действительности
В пятницу специалисты Центра управления полетами совместно с космонавтами на борту МКС провели ряд тестов систем пилотируемого корабля «Союз МС-22», в том числе измерение температуры в жилом объеме корабля (спускаемом аппарате и бытовом отсеке), где температура составила около +30 градусов Цельсия. Это незначительное изменение температурного режима.

В настоящее время разрабатываются различные варианты парирования возникшей ситуации, продолжая анализ поступающих с борта МКС данных, в том числе фото- и видеофиксации.

Изменения температурного режима сейчас не критичны для работы техники и комфорта экипажа станции, в том числе и по докладам самого экипажа, и не представляют угрозы для жизни и здоровья космонавтов.

Необходимый температурный режим в жилом объеме корабля «Союз МС-22» поддерживается средствами российского сегмента МКС.

14:39



Die Meldung, die RIA Nowosti unter Bezug auf eine "informierte Quelle" verbreitet, daß die Temperatur innerhalb der Sojus MS-22 auf mehr als 50 Grad Celsius gestiegen sei, ist falsch.

Am Freitag führten Spezialisten der Bodenkontrolle zusammen mit der Besatzung der ISS eine Reihe von Tests der Systeme des Raumschiffs "Sojus MS-22" durch. Dazugehörte auch die Messung der Temperatur im Raumfahrzeug (Landefahrzeug und Kapselinneres), wo die Temperatur ein wenig mehr als 30 Grad Celsius betrug. Dabei handelt es sich nur um einen unbedeutenden Anstieg der zulässigen Meßwerte.

Zurzeit wird an verschiedenen Maßnahmen gearbeitet, um die Situation zu bewältigen, einschließlich der Analyse der Bilddaten und Videoaufnahmen aus der ISS.

Die Temperaturregelung innerhalb des Besatzungsbereichs der Sojus MS-22 erfolgt vom russischen Teil der ISS aus.


„Im Prinzip nein…“ Sollte die Kapsel für den Rücktransport ausfallen, so wird es wohl nötig werden, daß die nächste Sojus-Kapsel, MS-23, ohne die vorgesehene Besatzung von Oleg Kononenko, Nikolai Chub und ihre US-amerikanische Kollegin Lorai O’Hara zur Station startet und dort per Fernsteuerung andockt.

Auch die Ursache für das Leck ist bislang ungeklärt. Nach den offiziellen russischen Quellen ist der wahrscheinlichste Grund ein Treffer durch einen Mikrometeoriten oder ein winziges Trümmerstück eines Satelliten. Die erste Mitteilung von Roskosmos zu dem Vorfall vom Donnerstagmittag lautete:.

Новоспредварительным данным, 15 декабря, экипаж после визуального осмотра подтвердил утечку в системе охлаждения, говорится в сообщении пресс-службы "Роскосмоса".

"По предварительной информации, в четверг, 15 декабря, произошло повреждение внешней обшивки приборно-агрегатного отсека транспортного пилотируемого корабля "Союз МС-2ти. Повреждение внешней поверхности корабля "Союз МС-22" произошло, по 2", — указывает корпорация.


Nach einer visuellen Inspektion am 15. Dezember bestätigte die Besatzung das Auftreten des Lecks, wir die Raumfahrtagentur mitteilte.

"Nach vorläufigen Informationen kam es am 15. Dezember zu einer Beschädigung an der Außenseite der Instrumenten- und Vorsorgungseinheit des bemannten Transportraumschiffs Sojus MS-2TI. Die Hülle des Raumschiffs wurde an zwei Stellen beschädigt," teilte die Agentur mit.


Der Treffer ereignete sich auf dem Höhepunkt des diesjährigen Auftreten des Meteoritenstroms der Geminiden, der auf den 14 und 15. Dezember fiel. Und jetzt werfe ich nochmal einen Blick auf die Schlagzeilen der „GLA Times,“ wie sie Robert A. Heinlein vor fast 68 Jahren phantasiert hat: „Shuttleverbindung wegen Geminiden unterbrochen … Raumstation erleidet zwei Lecks.“

IV.

Die Geminiden, deren Auftreten, anders als bei den anderen auffälligen Sternschnuppenströmen, die seit der Antike bekannt sind, zum ersten mal 1862 beobachtet worden sind, stellen unter ihnen eine seltsame Ausnahme dar. Während die Perseiden, die Leoniden und Orioniden und der Rest der gut zwei Dutzend bekannten Meteorschauer mit einem Kometen in Verbindung gebracht werden können, ist es im Fall der Geminiden ein erst 1983 entdeckter Asteroid, 3200 Phaeton, dessen Bahn dieser kosmischen Trümmerwolke entspricht. Im Normalfall entstehen solche Schauer daraus, daß die Aufheizung dieser „kosmischen Schneebälle“ durch die Sonnenstrahlung den lockeren Staub und das Gas, aus dem sie zusammengeballt sind, verdunsten läßt. Das Gas verteilt sich, aber die winzigen Staubpartikel, die davon mitgerissen werden, verbleiben ohne eigenen Impuls entlang der Bahn des Kometen um die Sonne. Wenn die Erde dann einmal pro Jahr diese Spur kreuzt, kommt es zu einem gehäuften Auftreten, wenn sie mit Geschwindigkeiten zwischen 20 und 40 Kilometern pro Sekunde in einer Höhe von 70 bis 50 Kilometern in der Stratosphäre verglühen.

Phaeton, der sich auf seiner 524 Tage dauernden Bahn der Sonne bis auf 20 Millionen Kilometer nähert und sich dort auf 700 Grad aufheizt, ist hingegen kein Komet. Messungen der beiden STEREO-Raumsonden haben 2013 nur eine sehr geringe Dichte an Staub in seiner unmittelbaren Umgebung während dieses Perihels nachwiesen können. Um dieses Rätsel zu klären, soll in zwei Jahren, 2024, vom japanischen Raumflugzentrum Uchinoura in der Präfektur Kagoshima, ganz am Südzipfel der fünf japanischen Hauptinseln, die Sonde DESTINY+ auf den Weg gebracht werden, die von der japanischen Raumfahrtagentur JAXA und ihrem deutschen Pendant DLR, dem deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt, seit 2018 entwickelt wird (das Kürzel, das auch im Japanischen gebraucht wird, steht für „Demonstration and Experiment of Space Technology for INterplanetary voYage, Phaethon fLyby and dUst Science“).

Der Kleine Chronist merkt an dieser Stelle an, daß der Name „Phaeton“ für einen Kometen (oder sonstigen Besucher aus Himmelsbereichen), der für böse Einschläge im irdischen Nahbereich sorgt, schon einmal vergeben worden ist. Er findet sich in den Thesen, die der in den fünfziger Jahren als Vorläufer Erich von Dänikens einigermaßen notorische Jürgen Spanuth (1907-1998) in seinen Büchern „Das enträtselte Atlantis“ (1953) und „Und doch: Atlantis enträtselt!“ (1955; beide bei DVA erschienen) aufgestellt hat. Spanuth, im Zivilstand evanglischer Pastor, kam als vielbelesener, aber völlig unkritischer Laie zu dem Schluß, das versunkene Atlantis aus den Dialogen Platons habe in der Nordsee vor Helgoland gelegen und sein Untergang sei in der frühen Bronzezeit durch den Einschlag eines Kometen erfolgt, dem er den Namen Phaeton gab. Dieser Treffer soll nach Spanuth auch für den Untergang der östlichen Mittelmeerkulturen auf Kreta und der Levante und den Ausbruch des Santorin verantwortlich sein; bei den aus dem Alten Testament bekannten Volk der Philister habe es sich um Flüchtlinge aus Dänemark und Sachsen gehandelt, die ihre Runenschrift ihren Nachbarn vermittelten und aus der somit die ersten nachgewiesenen Alphabetschriften entstanden sein sollen. Unnötig zu sagen, daß Spanuths Thesen niemals von einem Fachmann auch nur annähernd ernst genommen worden sind – so wenig wie die Dänikens oder Immanuel Velikovskys, dessen „Welten im Zusammenstoß“ zeitgleich, 1950, auf der anderen Seite des Atlantiks für Kopfschütteln sorgten.

V.

Um auf die oben erwähnte „destruktive Aufheizung durch Sonneneinstrahlung“ zurückzukommen. Gestern ist in einigen an Fragen der Raumfahrt interessierten Netzforen die Vermutung geäußert worden, das Leck im Kühlsystem der Sojus könnte darauf zurückzuführen sein. Seit etwa 5 Tagen bewegt sich die ISS – und damit die angedockte Kapsel – auf ihrer Bahn in 410 Kilometern Höhe mit einer Bahnneigung von 51,2 Grad zum Äquator aufgrund des Sonnenstands zur Wintersonnenwende so, daß sie nicht mehr alle 90 Minuten im Erdschatten verschwindet, sondern permanent beleuchtet und somit aufgeheizt wird – anders ausgedrückt: sie bewegte sich in diese Zeit so, daß sie nie mehr als 12 Bogengrad von Terminator, der Grenze zwischen Tag und Nacht auf dem Erdboden, entfernt war. Dieser sogenannte „hohe Beta-Winkel“ begann am 10 Dezember um 14:27 (umgerechnet auf MEZ) und dauerte bis zum 15. Dezember 20:10 MEZ. Aus Sicht der Station bewegte sich die Sonne dabei bei jedem Umlauf in einem Kreis, ohne jemals hinter der Erdscheibe zu verschwinden. Solche kurzen Perioden treten mehrmals pro Jahr auf und in der Vergangenheit sind die Andock- und Ablegezeiten der Transportraumschiffe stets so gelegt worden, daß sie damit nicht zusammenfielen.



("Normale" Umlaufbahn der ISS, hier am 10. Dezember 2022; man sieht, daß die Station die Hälfte der Zeit im Erdschatten verbringt)



(Umlaufbahn der ISS am 15. Dezember; die gepunktete Linie ist die Position der Sonne, von der Station aus gesehen)



[Umlaufbahn der ISS für den 15. 12. 2022, 16:00 MEZ, berechnet mit Heavens Above. Die helle gepunkete Linie zeigt an, zu welchem Zeitpunkt die Statin dem Sonnenlicht ausgesetzt ist.]

Was sich auch immer als Ursache herausstellen sein mag: einen Zusammenhang mit dem japanischen Rocksong von 2017, den ich in meinem letzten Beitrag als „Soundtrack“ gebracht habe und in dessen Text es heißt „Du hast gerade auf den Himmel gewiesen: da - ein Meteor./ Ein Strom von Licht, der bis zum Mond reicht. /... / Ich bin sicher, eines Tages wird der Meteor /nach dem du suchst, über den Himmel ziehen“ – und den ich am Donnerstag um 0:19, 26 Minuten vor dem Einschlag (wenn es ein solcher war) im Rahmen dieses Postings im Weltnetz eingestellt habe, bestreite ich VEHEMENT.

VI.



Nun war, wie allgemein bekannt sein sollte, die zweite Kühlschleife der Sojus nicht die einzige Röhre, die in knapp Tagesfrist geplatzt ist. Fast auf die Minute genau 28 Stunden später brach in Berlin die äußere Wandung des Aquadoms im Radission-Collection-Hotels an der Karl-Liebknecht Straße. Um 05:43 zerriss es die Kunststoffwandung, eine Million Liter Seewasser verwüsteten die Eingangshalle des Hotels und hinterließen eine Spur der Zerstörung und hunderte toter tropischer Fische. Auch hier galt: no casualties. Daß Bürgermeisterin Giffey im Nachgang vor der Presse von einem „regelrechten Tsunami“ redete, der sich hier „hier über die Hotelräumlichkeiten ergossen hat,“ paßt gut zur selbstbezüglichen Nabelschauperspektive der Berliner Politik. Beim Wort Tsunami dürften die meisten Zuschauer an die Folgen des Seebebens vor Indonesien denken, das am 26. Dezember 2004 mehr als 200.000 Leben kostete; oder an das Tohoku-Seebeben in Japan im März 2011 mit seinen mehr als 19.000 Todesopfern (auch wenn bei uns der beständige „Spin“ von Politik und Medien dazu geführt haben dürfte, daß nicht wenige Menschen hierzulande fest glauben, diese Menschen seien infolge der dabei erfolgten Zerstörung des Atomkraftwerks von Fukushima gestorben). Im Vergleich dazu handelte es sich hier nur um den sprichwörtlich gewordenen umgefallenen Sack Reis – auch wenn es für die Unternehmen SeaLife und Merlin Entertainments sowie das Hotel natürlich eine geschäftliche Katastrophe bedeutet.



Bislang scheint es keinerlei Hinweise auf ein Fremdverschulden zu geben; in den Medienberichten ist von einem Verdacht auf Materialermüdung die Rede. Es ist nicht der erste Einsturz einer als optisches Spektakel gedachten modernistischen Konstruktion in Berlin; Ältere werden sich noch an den Kollaps der Kongresshalle, besser bekannt als „schwangere Auster“ im Mai 1980 erinnern (und ja: Blixa Bargeld und Co. haben im gleichen Jahr ihrer NDW-Combo aus diesem Anlaß den Namen „Einstürzende Neubauten“ gegeben).

Daß es sich bei dem Tropenaquarium „um das weltweit größte freistehende Aquarium“, das mit der größten Wassertiefe, das einzige mit einem im Innern gelegenen Aufzug handelte, macht sich zwar in der Außendarstellung solcher Touristenattraktionen immer gut, trägt aber zur Klärung des Falls eher wenig bei. Interessanter ist, daß die zylindrische Außenwand mit ihrem Durchmesser von 11 Metern und einer Höhe von mehr als 14 Metern nicht aus Glas bestand, sondern aus Kunststoff; und nicht aus einem Stück, sondern aus 21 gebogenen Segmenten, die während der Montage 2003 miteinander durch einen speziell dafür entwickelten Kunststoff auf Polymerbasis verleimt wurden. Di Wandstärke dieses Außenzylinders betrug an den Basis 20 Zentimeter, am oberen Rand 8 Zentimeter. Erste Vermutungen gehen wohl dahin, daß es an einer dieser Klebenähte zu Rissen infolge von Spannungen gekommen ist, die irgendwann aufgrund der anhaltenden Belastung durch den enormen Wasserdruck zu einem sich kaskadenartig ausbreitenden Bruch geführt haben. Genaues werden die Untersuchungen in den nächsten Wochen ergeben. Erste Spekulationen gehen dahin, daß möglicherweise das Hotel im Zug der gestern vorherrschenden Berliner Nachttemperaturen von neun Grad Frost und der explodierenden Energiekosten (SCNR …) die Raumtemperatur im Foyer unter das bislang im Winter üblichen Maß gesenkt haben könnte, was den Unterschied zwischen den 25 Grad im künstlichen Korallenriff und der Außenwelt noch einmal verstärkt hätte.



Eins aber fällt dem Kleinen Zeichendeuter ins Auge (solche Leute hießen einmal „Auguren,“ aber seit Dan Browns „Da-Vinci-Code“ haben sie auf „Symbolologen“ umgeschult): auch beim Aquadom handelte es sich um eine „russische Röhre.“ Sergei Tchoban, der Architekt, der den Wassertank als Blickfang und Alleinstellungsmerkmal für das Radisson-Hotel entworfen hat, ist 1962 im damaligen Leningrad geboren, hat dort an der Akademie der Künste und am Ilja-Repin-Institut Architektur und Malerei studiert, bevor er 1991 nach Hamburg auswanderte.

Ob nun im Kühlschlangenformat, in mittleren Größe oder Mammutbaumformat, ob mit Waaser, Ammoniak oder Erdgas gefüllt, ob zu Lande, zu Wasser (bzw. auf dem Grund des Meeres) oder in der Luft (oder über der irdischen Lufthülle) ob mit oder ohne Nachhilfe: für „russische Röhren“ scheinen die Sterne zurzeit nicht wirklich gut zu stehen.

* * *

Nachtrag zu „The Door Into Summer.“ SF-Romane haben oft ein merkwürdiges Schicksal, was ihre äußere Gestaltung betrifft; es gibt nicht wenige Klassiker des Genres, bei denen es kein Verlag je geschafft hat, ihnen ein halbwegs ansprechendes Titelbild zu geben; die meisten Ausgaben von Olaf Stapledon, aber auch von H. G. Wells sind mir das im Lauf meines Leserlebens als abschreckende Beispiele im Gedächtnis geblieben. (Dies gilt natürlich nur für Ausgaben, die vor, sagen wir 2010 erschienen sind. Seitdem bewegt sich die Umschlaggestaltung nicht nur von SF-Titeln auf einem zumeist völlig nichtssagenden Niveau, die es kaum noch möglich macht, festzustellen, zu welchem Genre ein Buch überhaupt zuzuordnen sein soll. Irgendwann im Lauf der 1960er Jahre kamen die Verleger auf die Idee, ihren Reihen eine charakteristische und vor allem: ästhetisch ansprechende Ausmachung zu verpassen, die eine solche unmittelbare Signalwirkung hatte und auch unentschiedene prospektive Käufer anziehen konnte. Viele SF-Titel sind, selbst bei erwartbar geringem Lesegenuß, einzig wegen einer guten Aufmachung verkauft worden. Tempi passati.

„The Door Into Summer“ gehörte lange Zeit zu den Genretiteln, die ich nur in solch attraktivem Design kannte. Bei einer systematischen Durchsicht läßt sich dieses Urteil nicht aufrecht erhalten: die Titelbilder von Mel Hunter (Doubleday, 1963) oder Gene Szafran (Signet Book, 1972) darf man durchaus als abschreckend bezeichnen; merkwürdigerweise sind auch die beiden Titelbilder, die Eyke Volkmer für die SF-Reihe des Goldmann-Verlags für die deutsche Übersetzung, „Tür in die Zukunft“ abgeliefert hat, dort einzuordnen, sowohl bei der gebundenen Ausgabe von 1963 wie auch bei der Taschenbuchausgabe von 1967. („Merkwürdigerweise“ deshalb, weil Volkmers fast abstrakte Designs vor allem der Taschenbuchreihe einen ganz unverwechselbaren ästhetischen Reiz verliehen haben, der so gar nichts mit den klischeehaften Versatzstücken des Genre zu tun hatten, wie sie bis dahin für „technisch-utopische Romane“ bei uns typisch gewesen sind.)



Titelbild für „The Magazine of Fantasy and Science Fiction” November 1956; im zweiten Teil des Magazinvorabdrucks des Romans findet sich auf Seite 14 Dans Zeitungslektüre. Frank Kelly Freas (1922-2005), lange Zeit DER namhafteste und beliebteste Illustrator im Genre in den fünfziger und sechziger Jahren, von dem das Bild stammt, schrieb darüber zwanzig Jahre später: „Es macht immer Freude, eine Erzählung von Heinlein zu illustrieren, aber in diesem Fall gab es Schwierigkeiten. Es war eins der wenigen Male, wo ich auf die Dienste eines professionellen Ateliers und einer professionellen Modells zurückgriff, um eine Bildvorlage zu bekommen. Sowohl das Studio wie das Modell lieferten erstklassige Arbeit. Das Problem war nur, daß ich bei der Durchsicht der Rechnungen feststellen mußte, daß die Bilder mich mehr gekostet hatten, als ich für das Titelbild gezahlt worden war. Aktmodelle waren in jenen Jahren schwer zu bekommen.“ (Frank Kelly Freas, "The Art of Science Fiction," Donning-Starblaze, 1977)



Das Titelbild, das Karel Thole (1914-2000), der während der ersten Phase seiner Illustratorenkarriere zahllose Titelbilder für die von Carlo Fruttero und Franco Lucentini herausgegebene Romanserie Urania im Mailänder Verlag Mondadori gestaltete, 1968 schuf, zeigt deutlich, was das Resultat seine speziellen Arbeitsweise sein kann: Thole bekam von seinen Verlegern (auch von Heyne-Verlag ab Mitte der 70er Jahre) zumeist nur den Titel genannt und eine kurze Liste mit Stichworten zum Inhalt; er kannte die Texte selbst nur in seltenen Fällen. „Die Tür in den Sommer“ war der Anlaß für Heinleins kreative Initialzündung gewesen.

Im Januar (1955) nahm ein neues „erwachsenes“ Buch langsam Gestalt an. Es sollte von einem Ingenieur handeln, dessen Frau ihn verläßt, um einen reichen Kerl zu heiraten. Aber die einzelnen Teile wollten kein rechtes Ganzes ergeben, obwohl er alle möglichen Varianten durchprobierte. Eines Morgens Ende Januar wanderte Ginny (Virginia Heinlein, RAH’s zweite Ehefrau) durch sein Blickfeld, von Pixie, ihrer Katze, angetrieben. Er sah amüsiert zu, wie Ginny die Terassentür öffnete, während Pixie nur die Nase verzog und sich lauthals über das schlechte Wetter beschwerte, das Ginny bestellt hatte. Das Haus hatte sieben Außentüren, und vor jeder einzelnen wiederholte sich das kleine Drama. Als Pixie auch die siebte inspiziert hatte und tief beleidigt abgezogen war, zuckte Ginny mit den Achseln und meinte: „Ich glaube, er sucht nach der Tür in den Sommer.“

Mit einem Schlag fügten sich die disparaten Elemente in Roberts Kopf wie ein Puzzle zusammen, völlig anders, als er es geplant hatte, aber in einer Weise, die sich genau richtig anfühlte. „Sag‘ bitte kein Wort mehr,“ sagte er und eilte fast im Laufschritt in sein Arbeitszimmer, um mit der Niederschrift anzufangen. Dreizehn Tage später hatte er den Roman fertig – die kürzeste Zeit, die er jemals für einen vollständigen – wenn auch kurzen – Roman brauchte – und der fast keine Überarbeitungen erforderte. (William H. Patterson Jr., „Robert A. Heinlein – In Dialogue with His Century,“ Bd. II, “The Man Who Learned Better, 1948-1988,” Tor Books, New York 2014, S. 131)


Die Pixie-Anekdote bildet den ersten Absatz des ersten Kapitels. Wir haben also eine Katze, Winterwetter und einen Roboter – aber Tholes Szene kommt an keiner Stelle im Text vor.



(Titelbild der ersten englischen Taschenbuchausgabe bei Panther Books, März 1960. Der Name der Zeichners ist nicht angegeben.)



** Da meine Goldmann-TB-Ausgabe während dreier Umzüge in den letzten 40 Jahren den Weg alles Irdischen gegangen ist und meine Relecture auf English stattfand, handelt es sich hier um meine eigene Übersetzung.



(Titelbild von Barclay Shaw für die Ausgabe bei Tor Books, November 1986)

U.E.

© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.