19. Dezember 2022

Ein Adventsgedicht

„Dickie möchte uns ein Gedicht aufsagen.“ – Mutter Hoppenstedt

Konservative Zeitgenossen – denen ich mich nolens volens zurechne – betonen gerne, daß zum Kern ihrer Haltung die Pflege der eigenen Traditionen zählt. Und zur Adventszeit, und besonders für die Weihnachtswoche, gehört nun eimal der Vortrag von Weihnachtsgedichten, ein von den dazu Verdonnerten wie den Zuhörern zumeist gefürchtetes Interludium zwischen der gemeinschaftlichen Kalorienaufnahme, das den nützlichen Zweck hat, den Nachwuchs zu lehren, daß Tradition nicht zuletzt darin besteht, die Contenance zu bewahren und gute Miene zum schlechten Spiel zu machen.

Andererseits empfiehlt es sich, bei solcher Gelegenheit, die nicht schon jedem seit ungezählten Jahren bekannt sind. Da trifft es sich gut, daß ich dieses Gedicht zur Hand habe, das die amerikanische Comedienne Jen Fulwiler vor ein paar Wochen, Anfang Dezember, über ihre Konten bei Twitter und Facebook in alle Welt hinausgesandt hat – ein Brauch, den sie vor zwei Jahren begonnen hat, nachdem sie ihren Job Mitte 2020 als Moderatorin beim Satellitenradio SiriusXM an den Nagel hängte und sich stattdessen auf das Wagnis des Varietes einließ („noch dazu mitten in einer Pandemie,“ wie sie selbst schreibt).

Daß in ihrem Jahresrückblick der Focus auf den Kabalen in amerikanischen Showbiz liegt, ist natürlich der extremen Präsenz in eben diesem Show Business geschuldet.

'Twas the night before Christmas and all through the city
Everyone was exhausted 'cause the year had been ... bad.
The women wrote notes to the sound of the crickets
Demanding that Santa bring Taylor Swift tickets.
Pa with his Xanax and I with my booze
Had just settled down for a long winter snooze
When out on the lawn there was such a loud clap
I took hold of my phone and opened the Ring app.
When what to my blood-shot eyes should appear
But an electronic sleigh and (somehow) no reindeer
With a familiar driver so confident and brusque
I knew in a moment it was Elon Musk.
"Where are the reindeer?" I said so surprised.
"I bought the North Pole, and we have downsized.
Santa's in rehab - he had a rough year -
He lost all his money in Bitcoin, I fear.
Then he and the Mrs. had a big scene
When he saw her DMs with Adam Levine.
He had no mirth, and the Mrs. had lost hers
They both fumed around like Will Smith at the Oscars.
They did patch things up, their problems are ghosts,
And now they get freaky like CMA hosts.
But the elves made no toys, they didn't do prep
'Cause they wasted all summer watching Heard and Depp.
Now I bring the gifts, and that's the whole saga
'Cause everything I had was from Balenciaga.
We burned all that stuff, to protest the pervs,
But now there is not much in the reserves.
I had a few shoes that were branded by Yeezy
But that would make too many people uneasy.
So - sorry to tell you, but under your trees
All you will get is Jake Paul NFTs."
To start his sleigh a button he tapped,
Saying "Gotta go post my Spotify Wrapped."
He said one more thing as he faded from view:
"Congrats to you all. You survived '22!"

­

Es war Heilige Nacht, und mit gutem Gewissen
War ein jeder erschöpft, denn das Jahr war besch … eiden.

Wunschzettelschreiberinnen spitzten den Stift
Und verlangten Konzertkarten für Taylor Swift.

Dad mit Tafil und ich mit hochprozentigen Sachen
Wollten uns gerade bereit für den Winterschlaf machen

Als draußen ein höllisches Lärmen begann
Ich schnappte mein Handy und tippte die Anruf-App an.

Was mußten meine entzündeten Augen da sehen?
Ich sah einen E-Schlitten (ohne Rentiere) stehen.

Den Kutscher erkannte ich - mir war gleich klar
- so keck und so brüsk - daß es Elon Musk war.

„Was ist mit den Rentieren?“ fragte ich erschreckt.
"Ich hab' den Nordpol gekauft - wir haben abgespeckt.

Der Weihnachtsmann ist in Reha, ihn hat’s weggefegt
Er hatte alle Assets in Bitcoin angelegt.

Und für seine Alte, da war es kein Spaß
Als er ihre Chatbotschaften an Adam Levine las.

Es kam zwischen den beiden fast zur Entzweiung
Sie führten sich auf wie Will Smith bei der Oscarverleihung.

Doch das ging vorbei, sie vertragen sich wieder
Und benehmen sich wie beim Preis für Countrylieder.

Doch die Elfen haben nicht in die Hände gespuckt
Sondern nur Rosenkrieg mit Amber und Johnny geguckt.

Jetzt bring' ich die Geschenke, und das ist meine Saga
Denn all meine Gaben stammen von Balenciaga.

Wir haben alles verbrannt, um den Mist auszujäten
Doch jetzt herrscht Ebbe in unsern Vorräten.

Ich hätt' ein paar Turnschuh, und zwar nicht Adidas
Aber das macht zurzeit manchen gar keinen Spaß.

Tut mir leid, aber heute gibt’s an Gabengebinden
Nur ein paar NFTs von Jake Paul zu finden.“

Er tippte auf einen Knopf, um sich empor zu schwingen.
„Muß noch meinen Jahresrückblick auf Spotify bringen.“

Und eins sagt‘ er noch, bevor er entschwebt:
„Herzlichen Glückwunsch an alle - ihr habt dies Jahr überlebt.“

„‘Twas the Night Before Christmas” – oder um dem Gedicht seinen „korrekten“ Titel zu geben, „A Visit from St. Nicholas“ ist das mit Abstand bekannteste und bei der oben erwähnten Gelegenheit am meisten gefürchtete Gedicht nicht nur in den Vereinigten Staaten seit seiner ersten, noch anonymen Veröffentlichung im „Troy Sentinel“ am 23. Dezember 1823, sondern seit Mitte des 19. Jahrhunderts im gesamten englischen Sprachbereich. Sein Autor, Clement Clarke Moore (1779-1863) hat sich erst anderthalb Jahrzehnte später zur Verfasserschaft bekannt, weil ihm derlei Gebrauchslyrik unter seiner Würde als Professor für Altgriechisch und Hebräisch am Columbia College schien, deren Dekanat er 44 Jahre lang angehörte.

Im deutschen Sprachbereich sind seine Verse weitgehend unbekannt geblieben; die Nachdichtung, die Erich Kästner 1947 unter dem Titel „Als der Weihnachtsmann kam“ angefertigt hat, dürfte auch Lesern, die mit seiner Lyrik, auch der für ein junges Publikum, einigermaßen vertraut sind, kaum geläufig sein. Indirekt hingegen ist die doch etwas schlichte Folklore um den Weihnachtsmann und die Gabenauslieferung per Rentier-Flugtaxi aber Allgemeingut geworden. Daß der Weihnachtsmann seine Faktorei auf dem Nordpol betreibt, geht hingegen auf den zweiten „Arbeiter am Mythos“ zurück, auf Thomas Nast, der nicht nur einer der bedeutendsten politischen Karikaturisten seiner Zeit war und den beiden amerikanischen Parteien, den Republikanern und Demokraten, ihre Wappentiere, Elefant und Esel, verpaßte, sondern dessen alljährliche Zeichnungen, die er zwischen 1862 und 1886 in seinem Stammblatt „Harper’s Weekly“ veröffentlichte, dieser Folklore den letzten Schliff verliehen haben.

Und natürlich ist es nicht ausgeblieben, daß Moores (oder Henry Livingstons, dem es mitunter auch zugeschrieben wird) Gedicht endlose Male parodiert worden ist – was eben in gleichem Maß Teil dieser Tradition ist. Auch bei Hoppenstedts wird ja trotz Dickies anarchistischer Sabotage doch ein Gedicht vorgetragen, das mittlerweile selbst Bestand dieser Tradition ist.

Twas the night before Christmas and all thru the Hotel
There were creatures emitting a terrible smell
And the cause of the awful pungent aroma
Was an octogenarian party from Cromer…

(Paul Curtis)

Dasselbe gilt natürlich auch für die gesungene Variante – wobei zumindest für frühere Generationen ein Bezug zum Zeitgeschehen Anlaß für solchen Spott war. Nach der Abdankung des deutschen Kaisers am 10. November 1918 blieb es nicht aus, daß im ganzen Deutschen Reich die Schulkinder zu Weihnachten sangen

O Tannenbaum, o Tannenbaum -
Der Kaiser hat in‘ Sack gehaun!

Jetzt muß er an der Ecke stehn‘
Und Guste muß Granaten drehn…

(Varianten waren „Er kauft sich einen Henkelmann / und fängt bei Krupp in Essen an“ oder „Auguste, die muß hamstern gehen / der Kronpzinz muß die Orgel drehn.“)

In England kam es zwei Jahrzehnte später zum gleichen Effekt, als König Edward VIII am 10. Dezember 1936 aufgrund seiner Liaison mit Wallis Simpson zugunsten seines jüngeren Bruders George auf den Thron verzichtete und hinfort „nur noch“ Herzog von Windsor war. Es konnte nicht ausbleiben, daß daraufhin das traditionelle Weihnachtslied „Hark the herald angels sing: / Glory to the newborn king“ aus dem Jahr 1739 zu „….Mrs. Simpson pinched our king“ angepaßt wurde.

Und wie es der zeitliche Zufall will, hat eben jener Mann, der den Auslieferungservice in Vertretung übernommen hat, an just dem Tag, an dem Ms. Fulwiler uns davon in Kenntnis gesetzt hat, am 2. Dezember, über das Weltnetz, auf dem Medium, das er tatsächlich gekauft hat, nämlich Twitter, das erste Geschenkgebinde abgeliefert – keine „nichtkonvertiblen Wertmarken,“ „nicht-fungible Token“, bei deren Verkauf durch Jake Paul sich im Juni 6,3 Millionen Dollar als wertlos erwiesen, sondern die erste Tranche der „Twitter Files“ - beginnend mit der dem Laptop von Hunter Biden, der nicht zum Skandalon wurde, weil die Enthüllungen darüber mit Vorbedacht und erheblicher Energie unter den Teppich gekehrt worden sind.

Noch ist die Offenlegung des internen Mailverkehrs in der Zentrale des Mikronachrichtendienstes in San Francisco durch den Journalisten Matt Taibbi nicht abgeschlossen. Aber immerhin steht jetzt nachweislich, beweisbar fest, was viele Nutzer schon seit Jahren vermutet hatten: daß Twitter in eigener Regie bestimmt hat welche Nutzer unter einen Shadow Ban gefallen sind (was die frühere Leitung stets vehement bestritten hat), daß die Filterung und die Löschung von Nutzern ganz nach politischer Ausrichtung erfolgte; daß die Sperrung des amtierenden amerikanischen Präsidenten erfolgte, ohne daß ein Verstoß gegen die Geschäftsregeln vorlag und sich dieser Dienst angemaßt hat, direkten Einfluß auf die Politik zu nehmen – und daß er aktiv mit dem FBI zusammengearbeitet hat, eben jenem FBI, daß im Wahlkampf 2016 im Auftrag der Democrats das sogenannte „Steele Dossier“ fälschen ließ, um den Anschein zu erwecken, Donald Trump sei nur eine Marionette der russischen Regierung. Aber all das ist eine Geschichte für ein anderes Mal und soll die festliche Stimmung nicht stören.



U.E.

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