4. März 2021

Das Impfdesaster # 4: Coronagipfel Reloaded





Ich schreibe dies hier am Tag 109 des 28-tägigen "Wellenbrecher-Lockdowns," den wir unbedingt benötigen, um Weihnachten 2020 unbeschwert im Kreis unserer Familie feiern zu können. Bekanntlich ist diese Maßnahme gestern auf der Konferenz der Bundesminister und der Regierungspräsidenten aufgrund des überwältigenden Erfolges in die fünfte Verlängerung bis zum Tag 133 gegangen.

Der Titel ist insofern irreführend, weil dieser Post mit dem Versagen bei der Bestellung und Verabreichung der Corona-Vakzinen direkt nichts zu tun hat. Aber ich habe diese Bezeichnung für diese Serie zum Thema "Versagen in der Pandemie" gewählt; und auch das gestrige Desaster gehört zu dem flächendeckenden Fiasko, von dem das "Impfdesaster" nur den auffallendsten Aspekt darstellt.

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Die Verlängerung und die homöopathisch zu nennenden "Lockerungsangebote," die uns in den kommenden Wochen "gemacht werden sollen," sind in allen Medien zu finden und bedürfen ob ihres Charakters keines weiteren Kommentars. Derlei kann nur einer freilaufenden Bürokratie aus den Alpträumen eines Franz Kafka entsprungen sein - insofern wird dies dem "Geist Europas," den die EU für sich reklamiert, nur gerecht. Keine Persiflage, ob von den Marx Brothers oder den Monty Pythons, könnte dergleichen übertreffen; das Prozedere im "Haus, das Verrückte macht" aus dem Film über das Dutzend Aufgaben des kleinen Herkules aus dem gallischen Dorf, ist eine utopische Behörde dagegen.

Ich möchte hier, statt mich daran abzuarbeiten, nur auf zwei nicht ganz unwichtige Aspekte hinweisen, die in dieser Runde, die um sicherlich noch einige Male ins Haus steht, diesmal unübersehbar geworden sind.

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Zum einen: gestern ist als Kennziffer für das Einleiten von Lockerungen - nein: für ihr "Angebot" an die willfährigen Untertanen bei guter Compliance - der Inzidenzwert von 100 festgelegt worden. Also ein landesweiter Wert von 100 nachgewiesenen Neuinfektionen mit dem SARS-Cov-2-Erreger pro 100.000 Einwohner im Lauf der vergangenen sieben Tage. Bislang galt seit dem 16. November eine Inzidenz von 50; am 10. Februar 2021 war der Wert auf 35 gesenkt worden; in vielen Interviews der Experten wie Lauterbach und Wieler war eine weitere Absenkung auf 10 als wünschenswert erklärt worden. Man mag darin einen Anflug von verspätetem Pragmatismus sehen: da der Richtwert von 35 in den nächsten Wochen nicht zu erreichen ist, trägt man diesem Umstand Rechnung. (Ein kleines Beiseit: der Kreis Steinfurt, in dem ich dies schreibe, meldet für heute eine Inzidenz von 39,2; die Stadt Münster von 34,3; der südlich gelegene Kreis Coesfeld einen Wert von 21,8.; in den umliegenden Kreisen liegt der Durchschnittswert bei 62.)

Bei Licht betrachtet ist dies ein Offenbarungseid für die seit fast vier Monaten verhängten Restriktionen: das Infektionsgeschehen hat sich nicht geändert (die höhere Infektiosität der "britischen Variante" B.1.1.7 zeigt sich an ihrem häufigeren Vorkommen, nicht an um 70% erhöhten Fallzahlen); die Durchimpfungsrate - gestern betrug sie bundesweit, 8 Wochen nach ihrem Anlaufen, 4,4 Millionen der Gesamtbevölkerung (wohlgemerkt: bei der Erstimpfung) - ist noch um Größenordnungen zu niedrig, um einen Einfluß auszuüben. Der Wert von 100 oder 50 war im November ebenso gültig und wirksam - oder auch nicht - wie er es jetzt ist. Offenkundig handelt es sich hierbei um willkürlich festgelegte Zahlen, mit denen hantiert wird, um Restriktionsmaßnahmen zu begründen, ohne zu prüfen, ob sich der gewünschte Erfolg auch einstellt. Und diese Willkür - dieses Nicht-einmal-mehr-auf-Sicht-Fahren ist jetzt für jedermann erkennbar geworden. Ganz offensichtlich setzt unsere Regierung in Ermangelung von zielführenden Handlungsoptionen auf eine unendliche Verlängerung des Status Quo, in der Hoffnung, das Problem werde sich "schon irgendwann einmal auswachsen." Ich unterstelle dabei, daß man in der Regierung tatsächlich an die Wirksamkeit des byzantinischen Maßnahmenkatalogs glaubt. Nur ist das ohne Belang. Offenkundig ist man dort weder gewillt noch fähig, aus den Erfolgen der ostasiatischen Länder wie Südkorea oder Taiwan bei der Einhegung der Pandemie zu lernen; es bleibt nur festzustellen, daß unsere Regierung auch nach 12 Monaten bei der Verhängung der Restriktionen Poker spielt, ohne über den Tellerrand zu schauen oder sich an Erfolgsmodellen anderenorts zu orientieren.

(Zu dem genannten Wert von 4,4 Millionen noch dies: ab Ostern (!) sollen den Planungen nach auch Hausärzte in die Impfkampagne einbezogen werden - augenscheinlich hat man seit mehr als 8 Monaten die Tatsache, daß Impfungen bisher von lokal niedergelassenen Ärzten veerabreicht wurden, schlicht übersehen. Der Höchstwert an täglichen Impfungen liegt bisher bei 187.000 an einem Tag; vorgestern wurden in den USA an einem einzigen Tag 1,7 Millionen Menschen zum ersten Mal geimpft. Der Engpaß an Impfpunkten - und die Skepsis gegenüber der schwedisch-britischen Vakzine von AstraZeneca hat zudem zu der absurden Situation geführt, daß von diesem Impfstoff bis Mittwoch 2,8 Millionen Dosen ungenutzt auf Halde liegen; am heutigen Donnerstag sind 1,1 Millionen weitere Dosen hinzugekommen.)

Wobei: was heißt "Regierung"? Das Gremium, dem wir dies verdanken, die Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesländer (MPK), auch "Bund-Länder-Konferenz" genannt, ist in der Verfassung als entscheidungsfällendes Organ überhaupt nicht vorgesehen; sie ist ein reines, im Normalfall halbjährig zusammenkommendes Plenum zum Abgleich und zur Informationsaustausch, deren Entschlüssen keinerlei Verpflichtung erwächst. Wie konnte es dazu kommen, daß ein elitärer Zirkel seit nunmehr vier Monaten per Notverordnungen unter Umgehung der vorgesehenen parlamentarischen Wege alternativlose Entscheidungen verhängt, also per "Notverordnung" regiert, was im Fall des (vor)letzten Reichskanzlers Brüning oder des ungarischen Ministerpräsidenten Orban als sicheres Zeichen diktatorischer Verfaßtheit gilt? (Ich weiß, daß die Übertragung der Entscheidungsbefugnis formell im November 2020 erfolgt ist; es handelt sich um eine rhetorische Frage.)

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Zum anderen: der gestern beschlossene Maßnahmenkatalog zur minimalen Lockerung, so widersprüchlich er ist (Öffnung der Buchhandlungen ab Montag, dem 8. März; Öffnung des Einzelhandels ab dem 22., aber nur mit vorheriger Terminvergabe; Vorraussetzung für weitere Schritte: eine zwei Wochen lang anhaltende Inzidenz <50 bundesweit) hat als Grundlage die flächendeckende Verfügbarkeit von Schnelltests. Und genau an diesem zentralen Punkt zeigte sich die Hilflosigkeit dieser Regierung, die nun seit mehr als einem Jahr nur ihre Unfähigkeit und Inkompetenz vorführt: Diese Schnelltests sind schlicht und einfach nicht bestellt worden und stehen nicht zur Verfügung. Man muß sich das einmal ganz langsam ausbuchstabieren: weil Deutschland verabsäumt hat, ausreichend Impfstoff vorzubestellen - das Land, in dem zuerst eine wirksame Vakzine entwickelt worden ist! - und man dies an die EU-Kommission delegiert hat, in Namen einer "gesamteuropäischen Lösung," wird als Alternative auf den möglichst flächendenden Nachweis des Erregers zurückgegriffen, um vom Stand der flächendeckenden Einschränkungen wenigstens ansatzweise abrücken und den Einzelhandel auf Sparflamme wieder anlaufen lassen zu können. Und niemand hat es für nötig befunden, sicherzustellen, daß die dafür nötigen Tests in Millionenzahl auch besorgt werden. Der Kiefer klappt dem Betrachter vollends dann herunter, wenn man sich erinnert, daß genau dies - die mangelnde Vorsorge, die ausbleibende Bestellung, sich seit 12 Monaten wie ein roter Faden durch das Wirken unseres Bundesgesundheitsministers Jens Spahn zieht.

Herr Spahn hat von Anfang an in dieser Krsis durch Untätigkeit und Versagen geglänzt und nichts sonst. Angefangen bei dem Verschenken von Masken und Schutzausrüstung an die katastrophal vom ersten großen Covid-19-Ausbruch betroffene Metropole Wuhan. Nun kann man Spahn diese erste Hilfslieferung als solche noch nicht zum Vorwurf machen. Shtr wohl aber, darauf keine Lehre gezogen zu haben; das Coronavirus noch Ende Februar 2020 für harmlos erklärt zu haben und nicht in Erwartung eines Übergreifens auf Europa alles darsan gesetzt zu haben, die hiesigen Kapazitäten maximal aufzustocken. Auch die Abgabe der Impfstoff-Bestellung an die "tiefenunfähige" (Hadmut Danisch) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die völlig verunglückte Notbeschaffung von Masken und Schutzkleidung im März und April: all das fügt sich zu einem runden, aber unschönen Bild. Es ist Herrn Spahns Aufgabe, hier tätig zu werden. Es ist schon ein Hohn, daß die Frau Bundeskanzler gestern ankündigte: "Wir brauchen sicherlich den Monat März, um eine umfassende Teststrategie aufzubauen." Das war es auch schon im März 2020, als "Testen, testen, testen!" zentraler Punkt der von Thomas Pueyo entwickelten "Hammer-und-Tanz"-Strategie zur Überwindung der Pandemie war. Was haben diese Leute, deren Treiben wir, die Bürger, schutzlos ausgeliefert sind, eigentlich in dem letzten 12 Monaten fertiggebracht? Außer sich selbst über den grünen Klee zu loben, versteht sich. Daß ihm nun - nun - nicht das Heft aus der Hand genommen werden soll - sondern ihm, man höre und staune, auf Wunsch des Parlaments ein weiteres beratendes Gremium zur Seite gestellt werden soll, klingt wie freilich wie eine Blaupause zur Fortschreibung des Versagens:

"Impfstrategie, Lockdown, Einschränkung der Grundrechte: Seit Monaten kritisiert die Opposition den geringen Einfluss des Bundestags auf die Corona-Politik. Union und SPD wollen nun ein Beratergremium gründen - gegen Kritik von FDP und Grünen.

"Der Bundestag soll nach den Vorstellungen von Union und SPD mithilfe eines neuen Gremiums mehr Mitsprachemöglichkeiten beim Kampf gegen die Corona-Pandemie erhalten. Dazu soll ein parlamentarisches "Begleitgremium" eingesetzt werden, wie aus einem Antrag der Koalitionsfraktionen hervorgeht. Darin heißt es: "Das interdisziplinäre Gremium soll aktuelle sowie künftige gesundheitliche und soziale Fragen der Bewältigung der Covid-19-Pandemie behandeln und gibt auf wissenschaftlicher Grundlage Handlungsempfehlungen."

"Demnach soll das Gremium ein Unterausschuss des Gesundheitsausschusses werden, aus 21 Abgeordneten bestehen und externe Sachverständige einbeziehen. Zu seinen Themenfeldern soll die Erforschung und Bekämpfung von Virusmutationen ebenso gehören wie die Produktion und Beschaffung von Impfstoffen oder das Lernen und Lehren während der Pandemie." (Tagesschau vom 2.3.2021)


Es ist dabei egal, ob Spahn tatsächlich die persönliche Hauptschuld an diesem eklatanten Staatsversagen trifft, oder ob Frau Merkel - die ihm gestern laut den Medienmeldungen in der MPK vorwarf, sie in diesem Punkt belogen zu haben, ihn nur als Bauernopfer für die eigene Unfähigkeit ins Spiel bringt. So, wie sich die Situation darstellt, MUSS dies Folgen haben. Wer die schwerste Krise, die dieses Land seit 75 Jahren durchmacht, persönlich auf diese Weise sabotiert, muß gehen und ersetzt werden. (Wobei es, um es noch einmal zu betonen, auf Spahns tatsächliches Versagen nicht ankommt, sondern nur auf die Kulisse, die Frau Merkel hier aufgebaut hat.)

Rücktritte selbst bei schwerstem Versagen im Amt sind seit den Fällen von Verteidungsminister K.T. zu Guttenberg 2011 und Bundespräsident Christian Wulff 2012 im "System Merkel" nicht mehr vorgesehen; der Fall von der Leyen steht exemplarisch dafür. Nach dieser Bloßstellung darf man erwarten, daß Herr Spahn innerhalb von 72 Stunden seines Amts enthoben wird. wenn nicht, ist dies ein sicheres Zeichen dafür, daß auch dieser Mechanismus der politischen Verantwortung in der Berliner Republik irreparabel beschädigt ist.

Apropos Rücktritte: Christian Ortner schreibt heute in der Wiener "Presse" (als nicht-Schweizer Medium zählt das Blatt noch nicht vollwertig zum "neuen Westfernsehen," sondern nur halb) unter der Überschrift "Ursula von der Leyens Rücktritt, so notwendig wie unwahrscheinlich":

"Das monumentale Versagen der EU beim Beschaffen der Coronaimpfstoffe bleibt ungesühnt und ohne persönliche Konsequenzen. Das ist unerträglich.

"Dass von der Leyen ganz eindeutig die politische Verantwortung dafür trägt, dass der EU beim Beschaffen des Coronaimpfstoffes gravierende Fehler unterlaufen sind, die viele Tausende von Menschen das Leben kosten werden, unnötige Kosten von unzähligen Milliarden Euro verursachen und schließlich das Ansehen der EU in eneormem Ausmaß beschädigen - all das reicht offenkundig nicht einmal annähernd aus, die Dame aus dem Amt zu entfernen, dem sie nicht gewachsen ist. Dass aus dem von ihr proklamierten 'Europäischen Moment' ein europäisches Monument wurde, und zwar eines des Versagens, auch das reichte nicht aus, Konsequenzen nach sich zu ziehen."


Unsereins sieht die völlige Folgenlosigkeit dieses Monumentalversagens freilich als eine weitere Konsequenz dieses systemischen Versagens einer Organisation, die in der ersten wirklichen Krise, in der sie einem Stresstest unterzogen wird, auf allen Ebenen scheitert - und nicht in der Lage ist, dieses Organversagen in Eigenregie zu beheben. Daß sie es unter der Anführung einer deutschen Politikerin tut, also dem Ergebnis eines Systems, das sein Selbstverständnis und seine Legitimation aus der Frontalstellung gegen das Verhängnis der eigenen Geschichte bezieht und deshalb ein supranationales Gebilde namens EU zu einem utopischen Nahziel erklärt hat, während die Amtsträgerin von der Leyen in allen politischen Ämtern, die sie je bekleidet hat, maximal versagt hat, ohne je Konsequenzen daraus tragen zu müssen - das macht die Sache zwar, zumal für Deutsche, unerfreulich, gibt ihr aber symbolisch erst den letzten Schliff.

Nachtrag. Daß die sogenannte "Corona-Task-Force," die für die zügige Bereitstellung der Schnelltests sorgen soll, gemeinschaftlich unter Führung des Bundesgesundheitsministeriums, also dem Haus Spahn, und dem Verkehrsministerium, mithin dem Reich von Minister Andreas Scheuer, dessen monunmentale Vergeigung des Maut-Projekts noch in frischer Erinnerung ist, arbeiten soll, macht auch diese Farce erst richtig rund.



(Markt vs. Staat, die 1234ste)

U.E.

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