(Ernst Bloch in jüngeren Jahren)
In der deutschen Literatur um 1930 finden sich mehrere Erwähnungen - oder Ausarbeitungen der chinesischen Künstlerlegende vom - nicht genannten - Maler, der diese Welt verläßt, indem er das letzte von ihm geschaffene Gemälde betritt und sich darin verliert. In dieser Folge unserer lockeren Umkreisung dieses Topos, dieses Motivs, sollen drei Beispiele aus dieser Zeit angeführt werden, die mehr eint, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Zum einen bleibt in allen drei Texten der Verweis seltsam unkonkret, als könnte man die Anekdote als allgemein bekannt voraussetzen; darüber hinaus stehen sie im Kontext einer rein assoziativen Auslotung einer Motivkette, denen ihre Verfasser nachspüren: ein tastendes Umkreisen von Anklängen, von Erinnerungen, die wachgerufen werden: kein analytisches, sondern ein impressionisches Verfahren.
Beide Autoren erwähnen nicht, auf welche Quelle die Anekdote, die sie erzählen, zurückgeht. Das soll im nächsten Teil meiner kleinen Folge nachgeholt werden: es handelt sich tatsächlich um eine genuine chinesische Künstlerlegende, und sie ist mit einem konkreten Namen verbunden - auch wenn sie nicht über die wachsende Bekanntschaft mit der chinesischen Kultur, sondern mit der Japans in den 1890er Jahren nach Europa gelangt ist. Aber für eine solche Anekdote ist es belanglos, mit welchem Namen, welchem Auslöser sie verknüpft ist: es sind "Wandersagen." Die Geschichte von Ei des Kolumbus findet sich bereits in identischer Form in den Künstlerviten von Giorgio Vasari: dort wird die Lösung der Aufgabe, ein Ei "auf die Spitze zu stellen," Filippo Brunelleschi anläßlich des Entwurfs der Kuppel für den Dom von Florenz zugeschrieben.
Bei Walter Benjamin, dem ersten Autor, findet sich die Geschichte am Schluß seiner kleinen Erwähnung der "Mummerehlen" in seiner frühkindlichen Erinnerungsauslotung "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert," die er ab dem Sommer 1932 auf Anregung des Chefredakteurs der "Literarischen Welt" niederschrieb, um anhand einzelner Motive, Gegenstände, Klänge, Stimmungen das Ambiente der Hauptstadt aus der Sicht eines Kindes wiederaufleben zu lassen. Franz Hessel hatte in seinen kleinen Feuilletons, etwa in "Teigwaren leicht gefärbt" und in seinem Roman "Der Kramladen des Glücks" genau dieses "impressionistische," fragmentarische Vorgehen angewendet (im zweiten Fall auch mit dem Blick zurück auf noch unverstandene, vage erste Kindheitseindrücke). Infolge der politischen Entwicklung blieben Benjamins Texte zu seinen Lebzeiten ungedruckt; Theodor Adorno hat 1950 aus dem Konvolut des nachgelassenen Typoskripts die erste Buchveröffentlichung besorgt.
Die beiden Verweise bei Ernst Bloch auf die Legende vom verschwindenden Künstler finden sich in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln seiner Prosasammlung "Spuren," die im November 1930 bei Ernst Cassirer in Berlin erschien. Auch hier fällt auf, daß es sich nicht um eine analytische Erfassung handelt, sondern um ein assoziatives, nachgerade onirisch-traumhaftes Verfolgen der Anklänge. Es handelt sich eher um Prosagedichte als Essays. Ganz untypisch für die Texte beider Autoren ist dies nicht: Benjamins Ausführungen bleiben oft kryptisch; den Ruf des "Mystagogen der Frankfurter Schule" hat er sich durchaus verdient; wer versucht, den Inhalt seiner bekannten Thesen zum "Begriff der Geschichte" - mit dem Bild des "Angelus Novus" am Schluß - zu erläutern, ist nicht zu beneiden. Für Bloch befand Leszek Kolakowski in seiner glasklaren, stringent belegten und überzeugenden Darlegung der "Hauptströmungen des Marxismus": "Wenn man Bloch liest, hat man eigentlich das Gefühl, durch die dichten Dämpfe einer Alchimistenküche zu irren, und die Inhalt, die zurückbleiben, wenn man diese Dämpfe auf die Normalsprache reduziert, kommen einem manchmal banal und nichtssagend vor." (Bd. III, "Der Marxismus als futuristische Gnosis", S. 459). Unseren Zweck, nämlich den Echos eines Motivs zu folgen, tangiert das nicht; allenfalls sollte dies Anlaß sein, Bloch in die Ahnengalerie des Postmodernismus aufzunehmen, dessen Verzicht auf nachvollziehbare Analyse und Begründung zum Programm gehören.
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- Walter Benjamin, "Die Mummerehlen" (1932/1938/1950)
In einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen vor. Weil mir nun »Muhme« nichts sagte, wurde dies Geschöpf für mich zu einem Geist: der Mummerehlen. Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht.
So wollte der Zufall, daß in meinem Beisein einmal von Kupferstichen war gesprochen worden. Am Tag darauf steckte ich unterm Stuhl den Kopf hervor: das war ein »Kopf-verstich«. Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun mußte, um im Leben Fuß zu fassen. Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwangs, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den aber übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich Mustern der Gesittung, sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten.
Nur meinem eigenen Bilde nie. Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres. Am Ende brachte man mich einem roh gepinselten Prospekt der Alpen dar, und meine Rechte, die ein Gemsbarthütlein erheben mußte, legte auf die Wolken und Firnen der Bespannung ihren Schatten. Doch das gequälte Lächeln um den Mund des kleinen Älplers ist nicht so betrübend wie der Blick, der aus dem Kinderantlitz, das im Schatten der Zimmerpalme liegt, sich in mich senkt. Sie stammt aus einem jener Ateliers, welche mit ihren Schemeln und Stativen, Gobelins und Staffeleien etwas vom Boudoir und von der Folterkammer haben. Ich stehe barhaupt da; in meiner Linken einen gewaltigen Sombrero, den ich mit einstudierter Grazie hängen lasse. Die Rechte ist mit einem Stock befaßt, dessen gesenkter Knauf im Vordergrund zu sehen ist, indessen sich sein Ende in einem Büschel von Pleureusen birgt, die sich von einem Gartentisch ergießen. Ganz abseits, neben der Portiere, stand die Mutter starr, in einer engen Taille. Wie eine Schneiderfigurine blickt sie auf meinen Samtanzug, der seinerseits mit Posamenten überladen und von einem Modeblatt zu stammen scheint. Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr.
Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbachscher Ballmusik, auch nicht das Heulen der Fabriksirenen oder das Geschrei, das mittags durch die Börsensäle gellt, nicht einmal Pferdetrappeln auf dem Pflaster oder die Marschmusik der Wachtparade. Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, der aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen niederfällt, es ist der dumpfe Knall, mit dem die Flamme des Gasstrumpfs sich entzündet, und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt. Noch andere Geräusche, wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und der Hintertreppe; endlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei. »Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen.«
Das Versehen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz. Die Muhme Rehlen, die einst in ihm saß, war schon verschollen als ich es zuerst gesagt bekam. Die Mummerehlen aber war noch schwerer aufzuspüren. Gelegentlich vermutete ich sie im Affen, welcher auf dem Tellergrund im Dunst von Graupen oder Sago schwamm. Ich aß die Suppe, um ihr Bild zu klären. Im Mummelsee war sie vielleicht zu Haus und seine trägen Wasser lagen ihr wie eine graue Pelerine an. Was man von ihr erzählt hat – oder mir wohl nur erzählen wollte –, weiß ich nicht. Sie war das Stumme, Lockere, Flockige, das gleich dem Schneegestöber in den kleinen Glaskugeln sich im Kern der Dinge wölkt. Manchmal wurde ich darin umgetrieben. Das war, wenn ich beim Tuschen saß. Die Farben, die ich dann mischte, färbten mich. Noch ehe ich sie an die Zeichnung legte, vermummten sie mich selber. Wenn sie feucht auf der Palette ineinanderschwammen, nahm ich sie so behutsam auf den Pinsel, als seien sie zerfließendes Gewölk.
Von allem aber, was ich wiedergab, war mir das China-Porzellan am liebsten. Ein bunter Schorf bedeckte jene Vasen, Gefäße, Teller, Dosen, die gewiß nur billige Exportartikel waren. Mich fesselten sie dennoch so, als hätte ich damals die Geschichte schon gekannt, die mich nach so viel Jahren noch einmal zum Werk der Mummerehlen hingeleitet. Sie stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt. So war auch ich bei meinen Näpfen und den Pinseln auf einmal ins Bild entstellt. Ich ähnelte dem Porzellan, in das ich mit einer Farbenwolke Einzug hielt.
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- Ernst Bloch, "Der zweimal verschwindende Rahmen" (1930)
Nimm mich mt, das wünschen nicht nur Kinder und rufen's. Wer immer sich erweitern, gar verändern will, ist für diesen Wunsch anfällig. Schon ein Glas lockt dann bescheiden, an seinem Klaren teilzunehmen, sich dem Wein darin zu widmen. Und auch Bilder sind Gläser, höchst eigen gefüllte, die der Blick trinkt, in die er eindringt und zuweilen nicht nur als Blick? Chinesische Legenden lassen ihre Menschen, sterbend, im Bild, auch Gedicht sogar verschwinden. So daß der Rand zu verschwinden scheint, der hier der Rahmen ist. Das ist wohl die seltsamste Mischung um uund in Malerei und Dichtung. Derartig volle Nimm-mich-mit Märchen sind be uns kaum als nachgeahmte bekannt; ein einziges ausgenommen, das jetzt noch folgen soll. Sein Motiv ist alt, hängt auch mit Traumglück und Gewecktwerden zusammen. Paul Ernst kannte die Geschichte gleichfalls, ohne rechte Ahnung, was sie bedeutet. Sie hat durchaus keinen chinesischen Rang, doch stellt dafür das Normale, sozusagen, wieder her.
Ein junger Mensch, wird erzählt. kam von der Universität nach Hause, mit der Verlobten zu sprechen, die er nicht mehr sonderlich liebte. Nach Tisch saß er allein in der elterlichen Stube, blickte vor sich hin. Die Braut rief von draußen, alle seien schon fertig zum Aufbruch, wo er denn bleibe. Aber er hatte gar keine Lust zur Landpartie, heute am wenigsten; voll Ärger schlug das Mädchen die Türe zu. Rudolf hörte das schon gar nicht mehr, denn zum erstenmal seit langem, seit seiner Knabenzeit, betrachtete er mit Ernst das alte Bild über dem Stollenschrank. Ein Rokokopark war darauf zu sehen, mit Damen und Kavalieren auf der Promenade und im Hintergrund, von den Wipfeln halb verdeckt, ein Lustschloß mit hohen Fenstern, die zum Boden führten, und vergoldetem Gitter. Am einer Wegkreuzung im Park stand eine Frau, ganz allein, und in der Hand hielt sie ein weißes Blatt oder ein weißes Tuch. Das wußte Rudolf schon als Knabe nicht genau: liest sie einen Brief oder hält sie ein Taschentuch, weint sie? Ganz nahe trat er jetzt an das Bild heran, und wie er sich in die Farben, Konturen versenkte, da bewegten sich mit einem Male die Herren und Damen leicht an ihm vorüber, der selber schritt, spürte den feinen Lies des Wegs, auf die Frau schritt er zu, die unbeweglich stand und ihm entgegensah. Und nun, mit einem Schlag, wußte er, sie liest einen Brief, seinen Brief, vor langem hatte er ihn ihr geschrieben. "Bist du endlich gekommen, Geliebter," rief sie und ließ den Brief sinken, "ohne Unterlaß habe ich auf dich gewartet, du schriebst mir, daß du kommen wirst, jetzt aber ist alles gut, du bist bei mir." Sie küßten sich, verloren sich tiefer im Wald, der Abend kam, sie kehrten ins Schloß zurück, die Kavaliere und Damen grüßten den heimgekehrten Schloßherrn, bald ruhten die Liebenden im geschmückten Gemach. Gesang der Vögel tönte in ihre Morgenträume, viele Tage vergingen ihnen so, viele Nächte unter dem wechselnden Mond. Spiele, Feste, Jagden, bedeutendes Gespräch verkürzten die Zeit, junge Freude war endlich wieder in den lang verödeten Zimmern. "Alles ist dein," hatte die schöne Frau gesagt, "nur eine Tür darfst du nicht öffnen, willst du nicht, will ich nicht alles verlieren." Aber eines stillen Nachmittags, der Schloßherr stand in den Gängen am Fenster und blickte in den Garten, wo das Laub sich zu färben begann, schien ihm plötzlich, als würde gerufen, als würde er bei einem Namen gerufen, den er dunkel kannte, und der doch nicht sein Name war. Aus einem Zimmer schien der Ruf zu kommen, das er noch nie betreten hatte, er öffnete die Tür, das Gemach war völlig leer, aus der Wand schien die Stimme zu dringen, aus einem Bild, das an der Wand hing. Der Schloßherr trat näher und sah ein gemaltes Zimmer, das ihm gleich dem Ruf dunkel bekannt erschien; wie aus fernen Zeiten blickten die Möbel zu ihm her. Das Bild zeigte an der Wand darin im Hintergrund wieder ein Bild, doch das Rufen kam aus der gemalten Tür. Er horchte immer erstaunter darauf hin: - da stand Rudolf auch schon mitten in der elterlichen Stube, die nicht mehr gemalte Tür flog auf und die Braut rief: "Wann kommst du, Rudolf, wie lang soll ich noch auf dich warten, der Wagen ist vorgefahren, soll ich den ganzen Tag verlieren, wegen deiner Launen?" Der Mann fuhr nur ein wenig zusammen, dann nahm er die Hand seiner Braut und trat mit ihr vor das alte Bild: "Sei still, siehst du nicht, sie weint, das ist ein Taschentuch, kein Brief." Die Braut hat diesen Ausruf zuverlässig nicht verstanden, die anschließende Wagenpartie des Träumers muß kurios gewesen sein.
Soweit die Fabelei, eine keineswegs besondere, doch doppeltürige. Rudolfs letzter Satz ist sentimental, obwohl das Quidproquo: Taschentuch-Brief zum ohnehin schon künstlichen Bau gehört. Aber auch bedeutend Einschlägigeres gehört dazu, nämlich ein zweimal verschwindender Rahmen. Erst der des gemaltes Schloßbilds in der elterlichen Stube, dann der der gemaltn elterlichen Stube im Schloß. Dies Schloß ist überdies - ganz verkleinert - auch innerhalb seiner selbst nochmals vorhanden, nämlich an der gemalten Wand des gemalten Wohnzimmers in der verbotenen Stube. Außer dem chinesischen Motiv: Eintirtt ins Bild sind so auch japanische Einschachtelungen in der sich spiegelnden Spiegelei bemerkbar. (Es sei denn, man denke an die "Merkwürdige Gespenstergeschichte" in Hebbels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfeunds," wo dieser Almanach an einer Schnur vom Kamin herabhängt, und der Herr so die eigene Geschichte, in der er mitten darin, ist, fast lesen könnte, - auch nochmals mit dem Kamin darin und dem darin hängenden "Hausfreund"-Almanach, gespiegelt in infinitum.) Doch gleichwohl läßt Rudolfs Brautfahrt das chinesische Eintrittsmotiv überwiegen, wenigstens anfangs, um er dann freilich desto erwachter zu verlassen. Dergestalt eben, daß der Eintritt erst vollführt, dann zurückgenommen wird, indem sich der doppelt wegschwingende Rahmen zu einer Art Drehtüre verwandelt.
Wohin sie führt? sicher in ein Besitztum des poetischen Sinns, auch wenn noch nicht einmal ausgemacht ist, wo es liegt. Hier jedenfalls, in der schraubenden Bildgeschichte, wirft es den Besucher, seinen nur träumerisch angerührten, wieder zurück; der Alltag hat ihn wieder, und das stimmt, leider, in Rudolfs Fabel am besten. Es sei denn, man nehme den Silberblick, den er immerhin an der Frau, dem wartenden Bild hatte, für bare Münze, die es so noch nicht gibt,so noch nicht gilt.
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- Ernst Bloch, "Das Tor-Motiv" (1930)
Wer wir sind und wann wir eigentlich leben, weiß bis heute niemand. Noch dunkler, wie und wohin wir dann gehen; Sterbende treten ab, als was? Das fault und stäubt ein wenig, doch drum handelt es sich nicht. Der schlechte oder gute Name geht in die Erinnerung einiger Überlebender, bleibt dort eine Weile stehen. Aber die Menschen selber, als Kerne dieser Nachrede, fahren zu einem unbekannten Ziel. Selbst das Nichts, das die Ungläubigen zudiktieren, ist unvorstellbar, ja im Grunde noch dunkler als ein Etwas, das bliebe.
Geht einer aus der Türe, so kann man ihn zwar gleichfalls nicht mehr sehen. Auch er verschwindet, als ob er stürbe, mit einem Male, der Zug biegt um die Ecke. Dennoch besteht, selbst bei weiten und gefährlichen Fahrten, der einleuchtende Unterschied, daß der lebend Abreisende auf unsrer Ebene bleibt, und zwar buchstäblich: man kann ihn auf unserm Plan ohne Auf und Ab der Bewegung wieder erreichen. Jedoch der Sterbende *wechselt* die Ebene; er geht entweder als pure Leiche in ein unvorstellbares Nichts, das höchstens chemische Vorgänge übrig läßt, oder aber er steigt auf, der "Seelenvogel", verschwindet in einem offenen, hochgelegenen Tor. Die Türe, aus der er weggeht, wird zu einem Maul, das ihn so einsam und hohl verschluckt wie jeder seinen Tod allein bestehen muß; oder aber sie wird zu einem Eingang in ein Etwas, das man nicht weiß und das keine Körpermauern mehr hat. Diese Letztere ist das "einleuchtend" Näherliegende, obwohl keinerlei Realurteil darüber ergehen kann. Aber die Betroffenheit ist sonderbar, die das Tor überall hervorrruft, wo es an Bildern und Geschichten erscheint; die Wand des einschlafens und das Tor des Sterbens.
Es gehört wenig dazu, einen sofort in dieses Bild mit zu nehmen; man erinnert sich des ungeheuren Eindrucks, den schon ein purer Film mit dem Tormotiv ausüben konnte. - Ein schönes Mädchen war hier zu sehen, fuhr mit dem Geliebten übers Land. Dei beiden saßen allein in der Postkutsche; an der letzten Haltestelle stieg ein alter Mann ein. Blickt unverwandt auf das Mädchen, vor allem ihren Geliebten, müde und streng, mit hartem Gesicht. Der Wagen rollt durchs Tor in ein Städtchen ein, gerade unter einem Wirtshausschild hält er still. Der Alte folgt dem Liebespaar und nimmt am gleichen Tisch Platz, trinkt dem Mann zu. Sogleich erscheint im Becher des Geliebten, im Brautbecher, aus dem Lil, das Mädchen getrunken hat, ein Stundenglas: der Sand rinnt im Glas, ein schlimmes Zeichen. Dem Mädchen fällt der Becher aus der Hand und zertrümmert, sie will die Wirtin rufen und kommt zurück; da ist der Tisch leer, das harte Gesicht verschwunden, mit ihm ihr Geliebter. Im Augenblick noch, sagen die Gäste, ist er mit dem Alten vor die Tür gegangen. Lil stürzt vors Haus, niemand will die Beiden gesehen haben: nur dort drüben, ein Bettler deutet, dorthin sind sie gegangen, und auch am Nachtwächter, schon am Ende der Stadt, gingen sie vorüber. Das Mädchen sucht unter Bäumen, an den dunklen Wiesen immer weiter, dem Geliebten nach bis zu einer Mauer hin, einer hohen, steinernen, ihr entlang, die kein Ende nehmen will, die im Kreis zu führen scheint und nirgends ein Eingang. Da kommt übers Feld, im Mondlicht, ein seltsamer Zug: Knaben, Männer und Frauen, jung und alt, Bauern, Bürger, Ritter, Priester und Könige, Gestalten aller Zeit, nebelnd und weißlich, langsamen Schritts; und mitten darunter Lils Geliebter. Sie schreit seinen Namen, will ihn umarmen und zu sich reißen: da wendnet ihr der Schatten nur leicht den Blick zu, unendlich entfremdet, kaum stockt der müde schleifende Schritt und mit den Andern verschwindet der Tote in der Mauer. Lil fällt ohnmächtig nieder; so findet sie der Apotheker des Städtchens, der die günstige Stunde des Vollmonds gewählte hatte, um zauberkräftige Kräuter zu sammeln, Wohlverleih und Teufelsabbild, Salomonssiegel und Tausendgüldenkraut. Auf seinen Schultern bring er das Mädchen zu sich ins Haus; er läßt sie allein, stärkenden Tee will er ihr kochen, an einen Tisch ist sie hingesunken, Retorten stehen umher, Sal, Sulphur, Merkurius und Flaschen mit Gift, viele Büchder liegen aufgeschlagen und Lils verwirrter Blick fällt auf sie, fällt auf die offene Bibel und den kräftig unterstrichenen Satz: "Denn die Liebe ist stark wie der Tod." Buchstäblich wird er gelesen, verstanden, gewertet in seines magischen Equilibrierung von Kraft und Last. Lil greift nach dem Gift, öffnet, trinkt: und im selben Augenblick steht sie vor der Mauer. Mit einer unerhörten Bewegung streicht sich das Mädchen über die Stirn, höchstes Befremden und vollendete Erleuchtung, Schlafwandel und Erwachen, die Mauer ist nicht mehr geschlossen, sondern ein brennender Spalt, ein gotisches Tor mit unendlich geahntem Licht dahinter führt in die Tiefe. - Was in der Tiefe geschah, ließe sich wohl erzählen, wenn nicht das Tor heller gewesen wäre als die Todeskammer mit den vielen Kerzen dahinter, die nun folgte, oder der Auferstehung wie üblich. Aber wenigstens das Tor verwandelte die Zuhörerschaft fast zu einer Gemeinde (tu res agitur; über dem trivialen Kunststück des Kinos wirkte tiefere Regie, und sie brachte, mit ihrer Gleichzeitigkeit von Ausgang und Eingang, das letale Ursymbol der *Pforte* zum Bewußtsein.
Doch eben was hinter dieser liegt, war kaum in Bildern oder gar in mehr zu zeigen. Die Welt ist leidvoll und das spärliche Glück darin stumm, kaum nach außen, gar nach "oben" auszubreiten. So läßt sich auch der Ort, zu dem wir verschwinden, eher mit Schreckensbildern als mit Glücksgöttern bevölkern. Soll seine Unbekanntheit auch nur "ahnungsweise" gelichtet werden (das ist, nach dem, was uns hier an Schreck oder Freude übermäßig, transzendierend betraf): dann gelingt die "Hölle" meist sehr reich, spannend und voll Abwechslung, während der "Himmel" in Bild und Wort matt bleibt, ganz eigentlich langweilig, ja dem Schrecken des bürgerlichen Sonntag gefährlich nahe. Nur nebenbei findet man manchmal noch andre Züge, bunte, doch bescheidene Abglänze, die genau das *Tormotiv* etwas fortführen, aber *mit dem Eintretenden* selber, nicht mit fremdem, großen, ausgeführtem Spektakel. Lehrreich sind derart chinesische Motive, als welche zwar nur von Künstlern handeln und ihrem Gang ins Werk, doch damit ihr eigenstes Duft- und Klang-Orplid so aussparen wie einsetzen. Eine Philosophie leben, heißt durch sie sterben lernen, sagt Montaigne senecahaft, ja fast noch magisch weise; auch einige chinesische Endmotive verschlingen eben das Werktor mit dem Todestor, merkwürdig und kaum von ungefähr, mit höchstem bildenden Ernst und an Ort und Stelle kaum artistisch. Es genügt sie anzudeuten, als ein Spiel, das nicht verstärkt werden kann und letzhin puren Wunsch bedeutet, das aber darin immerhin merkwürdig ist, daß es als neue Fahne im Werk, nicht nur als Fahnenflucht aus der Welt möglich ist. Die Geschichte von dem alten Maler gehört so hierher, der seinen Freunden sein letztes Bild zeigte: ein Park war darauf zu sehen, ein schmaler Weg, der sanft hindurchführte, an Bäumen und Wasser vorüber, bis zu der kleinen roten Tür eines Palastes. Aber wie sich die Freunde zu dem Maler wenden wollten, das seltsame Rot, war dieser nicht mehr neben ihnen, sondrn im Bilde, wandelte auf dem schmalen Weg zur fabelhaften Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte, öffnete und verschwand. Oder die andre Geschichte, eine Abwandlung des gleichen Mythos, welche Balács in seinen "Sieben Märchen" forterzählt hat, die Geschichte von dem Träumer Han-tse gehört hierher: des Dichters, der das Buch seiner Geliebten dichtete, der schönen Li-fan, die ihn verschmäht hatte. Ins Tal der silbernen Apfelblüte schrieb er das Mädchen, schrieb ihr einen herrlichen See und ein Schloß aus Jade, die köstlichsten Gewänder, Feste und Gespielinnen, und der Mond ging nicht unter im Tal der silbernen Apfelblüte. Das alles träumte sein magisches Wort, ja er konnte noch Li-fan selber aus dem Buch zu sich rufen, bis sie der Tag wieder vertrieb: übermächtig war so sein Leben geteilt, in den traurigen, alternden Tag und die geheimnisvolle Schöpfung, die zu ihm kam und ihn immer wieder verließ. Bis zu jenem letzten Morgen, die Verwandten suchten Han-tse in seiner Hütte, lange vergeblich, man fand ihn nicht, doch auf dem Tisch lag sein Buch aufgeschlagen, mit einem neuen, dem letzten Kapitel: Die Ankunft Han-tses im Tal der silbernen Apfelblüte. So hat sich ein Dichter selber in sein Werk hineingeschrieben, "hinter die Mauer aus ewigen Buchstaben", ästhetisch wirklich "produktiv", also noch hinter das Werktor (Mahlers letzte Musik wirkt manchmal so im Realen). Aber ist das Dunkel, das uns erwartet durch solche Märchen auch etwas gefärbt, wenigstens mit unsern Wunschträumen und ihrer keineswegs selbstverständlichen und weltregulären Gestaltbarkeit, ja Bewohnbarkeit, und wachsen gerade die buntesten chinesischen Blumen an der Finsternis des letzten Tors, als ob es wirklich unser realstes wäre: so sind das alles doch erst tiefe Märchen eines Vorscheins, aus denen uns ein Speiteufel wieder zurückwirft, auch in frommen Zeiten, auch aus tieferen und solideren Entrückungen als denen der Maler und Dichter. Die Wohnungsnot der Menschen auf der Erde geht mit einigen Ankunfts-Symbolen weiter, ohne daß sie das lebende Tor des halben Existierens oder gar das fatale Tor des möglichen Nichtexistierens mit andern als Träumen erhellen konnten. Sie haben noch kein Blut getrunken, erst recht noch kine irdisch-überirdische Praxis gehabt: immerhin ist die irdische Wohnungsnot mit einigen Glückssymbolen eine gute Präparandenanstalt für Realträume hinterm Tor.
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Bei dem Film, den Bloch in seinem zweiten Text referiert, handelt es sich um den Anfang von Fritz Langs "Der müde Tod," der im Oktober 1921 in die Kinos kam. "Lil" bezeichnet den Vornamen der Hauptdarstellerin Lil Dagover, die in der Rahmenhandlung und den drei exotischen Binnengeschichten auftritt, um ihren Geliebten vor dem Tod zu entreißen und ins Leben zurückzuführen (die letzte dieser umgekehrten Eurydike-Prüfungen spielt im kaiserlichen China); in dieser Rahmengeschichte trägt sie keinen Namen. Bei den "Sieben Märchen" handelt es sich um die Sammlung von Kunstmärchen im fernöstlichen Ambiente, die der aus Ungarn stammende Autor Béla Balázs (1884-1949), der sich ab Mitte der zwanziger Jahre als einer der ersten deutschsprachigen Theoretiker des Films neben Siegfried Kracauer einen Namen gemacht hat, im gleichen Jahr, 1921, im Berliner Verlag Rikola veröffentlicht hat. Blochs kreatives Gedächtnis macht aus der Erzählung "Das Buch des Wan-Hu-Tschen" den Namen "Wan-tse."
U.E.
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