In den Büchern Kurt Tucholskys, zumal in der chronologisch sortierten Werksausgabe, fallen immer wieder die kleinen Sammlungen "unfrisierter Gedanken" (©Stanislaw Jercy Lec) auf, launische Aperçus zu Politik, Zeitläuften und der krummen menschlichen Natur, die unter dem wiederkehrenden Titel "Schnipsel" gesammelt sind. Zumeist in der "Weltbühne" Carl von Ossietzkys erschienen und ganz dem Geist der Sudelbücher Lichtenbergs verpflichtet, dürften sie zum Bleibendsten und Prägnantesten zählen, was der feurige linke Streiter, in all seiner Widersprüchlichkeit, hinterlassen hat - auch wenn sie so oft Einspruch herausfordern: "Alles ist richtig - auch das Gegenteil. Nur: Zwar - aber... Das ist NIE richtig." ("Weltbühne," 30. Dezember 1930) Drei kategorische Fehler in zwölf Worten - das muß man auch erst einmal hinkriegen.
Aber man kennt als Leser den Ton, den Gestus, und man erwartet, dort Sentenzen zu finden, die man vergeblich suchen wird, die aber dort vollendet am Platz wären. Nicht wenige apokryphe Zitate sind ja Voltaire, Friedrich dem Großen oder Konrad Adenauer ("Wat kehrt mich ming Jeschwätz von gestern?") auf diese Weise zugewachsen. Und bei "Tucho" erwarte ich fast, beim nächsten Durchblättern auf das Urteil zu stoßen: "Ihr glaubt, daß in der Politik entschieden wird, daß sie im Keller Kegel schieben, und wer als letzter danebenwirft, darf einen Zettel aus dem Zylinderhut ziehen? Ihr Ahnungslosen. Es ist alles noch viel schlimmer."
Und im Nachgang der grotesktesten Fehlentscheidung dieser Regierung zur "Osterruhe" am Montag (von daher die "x.5"-Releasenummer) hat sich diese zynische Sicht darauf, wie diese Regierung durch die bedrohlichste Krise laviert, der sich dieser Staat je ausgesetzt sah, vollumfänglich bestägt: Es IST schlimmer; viel schlimmer. Nicht nur, daß Frau Merkels Entschluß, dieses Land kurzerhand für fast eine Woche über das Osterwochenende zuzuschließen, nach einem Tag kassiert wurde - weil ein Gremium aus Bundesministern und Regierungspräsidenten in keiner Weise legitimiert ist, "mal eben" ein paar Feiertage zu deklarieren - einschließlich der Präsenzregelungen, Lohnfragen und versicherungsrechtlichen Fragen. Das andere ist, daß bei Frau Merkels "Entschuldigung" für ihre Eigenmächtigkeit am Mittwoch mit ihrem Satz "Ich trage die volle Verantwortung" klar wurde, was diese Floskel in ihren Augen mittlerweile bedeutet: Nichts mehr. In den Jahrzehnten der alten "Bunzreplik" Bonner Prägung folgten aus solchem Eingestädnis Konsequenzen - zumeist der Amtverzicht; in jedem Fall aber die Übertragung der Zuständigkeit für die Bewältigung einer Krise an jemand anderen. Im "System Merkel" ist es nichts mehr als ein Achselzucken: war halt nicht durchführbar, nicht durchdacht, Schwamm drüber. Wir bereiten unseren nächsten Irrtum vor.
Aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des Kasernensozialismus vor 30 Jahren dürfte noch manchem die Karikatur von Roland Beier in Erinnerung sein, die einen noncharlanten Charlie Marx zeigt, die Hände in den Taschen der gestreiften Hose, dem der Kommentar in den Mund gelegt ist: "Tut mir leid, Jungs, war' bloß so eine Idee von mir..." Derlei nennt sich auf Neudeutsch: Déjà vu all over again. Vollends grotesk wird es, wenn die Hauptstrommedien, allen voran die FAZ, Frau Merkels "Fehlereingeständnis" zu einer epochalen Wende ihrer bisherigen Politik, der gesamten von ihr zu verantwortenden Politik hochgejazzt wird. Just zu dem Zeitpunkt, an dem diese Frau laut darüber nachdenkt, wie man deutschen Staatsbürgern sämtliche Auslandsreisen verbieten kann und in dem das Parlament eine Schuldenhaftung durch deutsche Steuerzahler über die Haftungssumme von 750 Milliarden Euro EU-weit absegnet, kann man das nur unter "Chuzpe" ablegen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses fiskalische Bubenstück heute nachmittag erst einmal auf Eis gelegt. In den sozialen Medien fehlt es nicht an Stimmen, die spekulieren, die Luftnummer um die "erweiterte Osterruhe," die nie eine Chance gehabt habe, umgesetzt zu werden, sei gezielt inszeniert worden, um hier im Windschatten der Empörung ungetraft Fakten schaffen zu können. Das scheint höchst zweifelhaft. Eine derart dilettantisch agierende Laienspielschar ist zu einer solchen Perfidie ersichtlich nicht in der Lage.
Im FOCUS hat heute Michael Kappeler nachgezeichnet, wie es nach Mitternacht am Montagabend zu diesem politischen Offenbarungseid kam. Um meinen erdachten Tucho-Satz zu wiederholen: Ja. Es IST schlimmer. Danach ist laut Bericht der "Süddeutschen Zeitung" die Idee von Kanzleramtsminister Helge Braun auf die Frage von Merkel: "Helge, hast du noch eine Idee?" ausgeheckt worden - und danach von der Runde aus Frau Merkel, Markus Söder, Vizekanzler Scholz und den Berliner OB Michael Müller abgesegnet worden, die - mal eben - die Ministerpräsidentenkonferenz für sechs Stunden auf Eis gelegt hatten. Danach wurde dem staunenden Volk das Fait accompli präsentiert. Erst am Mittwochmorgen hätten Verkehrsminister Scheuer und Landwirtschaftsministerin Klöckner bei der morgendlichen Konferenz mit Merkel Alarm geschlagen, aufgeschreckt von Brandanrufen der Super- und Drogeriemärkte und der Bauernverbände, die von diesem logistischen und organisatorischen Wahnsinn entsetzt waren.
Und das ist, von allen zynischen Flapsigkeiten einmal abgesehen, tatsächlich etwas zutiefst Erschreckendes: die Nonchalance, die amateurhafte Wurstigkeit, mit der diese Regierung auch nach dreizehn Monaten an der Bewältigung der Pandemie scheitert, diese Blindheit, dieses Nichtkönnen, dieses Nichtkönnen-WOLLEN. Irgendjemand ohne jede Kentnis und Zuständigkeit darf Vorschläge aus dem Zylinder zaubern, sie werden per Fingerschnipp zu Anordnungen, sie werden kassiert, aber nur wenn es auffällt. Und nicht, weil es undurchführbar oder gesetzwidrig ist, sondern, laut Bericht des "Spiegel" mit dem billigsten Argument, das der Volksmund für das Handeln von Politikern gelten läßt:
"Die sagen mir, eine Partei, die unsere Existenz zerstört, die wählen wir nicht mehr", soll CSU-Politiker Peter Ramsauer am Dienstag gesagt haben.
Und um Ramsauer laut dem "Spiegel"-Bericht weiter zu zitieren:
Zur Osterruhe, die die MPK beschlossen hat, fällt ihm angeblich nur noch das ein: "Ja sind die denn alle vom Affen gebissen?"
Ja. Sie sind es. Und deshalb sei an dieser Stelle, solange dieses gruselige Spiel weitergeht, auch nicht mehr von der "Regierung" gesprochen, auch nicht, in der "politisch correcten"-Zeitgeist-Stammelsprache, die aus Prinzip mit dem Gerundium Unzucht treibt (für "Politisierende": mit der Verlaufsform), von "Regierenden," sondern nur noch, zur Bezeichnung der Gurkentruppe Formerly Known As "Bundesregierung": von den "Vom-Affen-Gebissenen."
Und als neue Leibhymne dieser Truppe würde sich die Erkennungsmelodie anbieten, die Walt Disney vor mittlerweile 54 Jahren in seiner unverbrüchlichen Umsetzung des "Dschungelbuchs" König Louie auf den roten (!) Leib hat schneidern lassen. Die Auftaktzeilen aus Louis Primas "I Wanna Be Like You" ("Now I'm the king of the swingers / Oh, the jungle VIP / I've reached the top and had to stop / And that's what botherin' me...") lauten in der von Klaus Havemann gesungenen deutschen Textfassung bekanntlich:
Ich bin der König im Affenstaat, der größte Klettermax,
spring ohne Hast von Ast zu Ast, das ist für Sportler ein Klacks.
Ich würde lieber auch Mensch sein und trollen durch die Stadt.
So'n Mensch hat's gut, ich aber hab
das Affenleben hier satt.
Oh, doo, bee, doo, bobduie,
ich wär so gern wie duhuhu,
bab di ru bi du bao,
ich möchte gehn wie du,
cheep, stehn wie du,
choop, du hu hu,
wee be dee be doo bou...
Nachtrag, 23:45.
An dieser Stelle möchte ich es bei bei Zitat aus einem Bericht der "Welt" von heute belassen und überlasse es dem Leser, eigene Schlüsse daraus zu ziehen.
„Es funktioniert besser mit jemandem, den man kennt“, sagt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) als Erklärung, warum er bei der Beschaffung von Schutzmasken auf persönliche Kontakte zurückgriff. Einen potenziellen Interessenkonflikt sieht er nicht.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat nach eigenen Angaben zu Beginn der Corona-Pandemie persönliche Kontakte genutzt, um Schutzmasken zu beschaffen. „Ich musste in dieser Zeit feststellen, dass es wesentlich besser funktioniert, wenn das Angebot von jemandem kommt, den man kennt und einschätzen kann“, sagte er dem „Spiegel“.
Er habe „an einem Sonntagmorgen im März letzten Jahres“ eingesehen: „Wir kommen mit unserer klassischen Beschaffung über die zuständigen Ämter nicht weiter“, sagte der Minister weiter. Damals habe er angefangen, „selbst zum Telefonhörer zu greifen“.
Beispielsweise habe ein befreundeter ehemaliger Vorstand der Online-Apotheke DocMorris ihm Masken angeboten, und er habe diese auch bestellt, berichtete Spahn. Ähnliches gelte für einen Logistikauftrag in Höhe von 100 Millionen Euro und eine Maskenbestellung für ein mögliches Volumen von knapp 1,5 Milliarden Euro für das Unternehmen Fiege, das in Spahns Heimatregion seinen Sitz hat. „Fiege ist ein angesehenes westfälisches Familienunternehmen in der Gesundheitslogistik, das ich als solches gut kenne“, sagte der Minister dazu.
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß Geschäfte über Milliardenbeträge, abseits von jedem Vergaberecht und ohne Vorabprüfung, an "Freunde und Bekannte" einmal einen gewissen Namen trugen. Jürgen Möllemann und der Einkaufswagenchip liegen lange zurück.
U.E.
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