25. März 2021

Paul Ernst, "Das alte Bild" (1916)





(Schloß Darfeld, Münsterland. Eigenes Photo)

Ein junger Mann saß allein im Wohnzimmer seiner Eltern. Niemand außer ihm war im Hause; die Eltern, Geschwister, Freunde machten eine Vergnügungsfahrt, die Dienstboten waren beurlaubt. Vor den Fenstern in den blühenden Obstbäumen ruhte der Sonnenschein; das Summen der großen Stadt tönte von weitem; er wußte, daß alle Türen geschlossen waren, und daß lange Stunden ihn niemand in seiner Einsamkeit stören würde.

Er saß vor einem großen Bilde, das er schon als Kind geliebt, das ihm so vertraut war, als lebe er in ihm, unter den hohen Bäumen, durch welche man in der Ferne, sichtbar und doch verdeckt, das Schloß sah. Das Bild war von einem der sanften Künstler der Rokokozeit gemalt; da war ein rasenbedeckter Platz in einem Park, der ganz von den ungeheuer großen grünen Bäumen überwölbt war; mit einem eigenen Blaugrün hatte der Maler die Bäume gemalt, das wunderlich einlud zu Träumereien; ganz in bläulicher Ferne glänzte das phantastische Schloß mit vorspringenden und zurückweichenden Säulen und Bogen; es schien schlank und kühn in die Höhe zu streben, mit hohen Fenstern, die von flammenartig nach oben steigenden Ornamenten gekrönt wurden, hohen und schmalen Türen, zierlichen Balkons mit verschlungenen geschmiedeten Geländern, heiter sich schwingenden Treppen, steilen Dächern, deren Flucht unterbrochen war durch anmutig geformte Mansardenfenster. Vorn, auf dem schattigen Rasenplatz unter den vielhundertjährigen Bäumen, lustwandelte eine jugendliche Gesellschaft: auf niedlichen Stöckelschuhen trippelten hübsche Damen mit hochgetürmtem Haar und geschürzten Röckchen; ihnen zur Seite tänzelten junge Herren in Seidenstrümpfen, prächtigen, goldgestickten Röcken, mit dem Gefäß des leichten Degens spielend, der munter und lustig abstand hinter ihnen, oder beteuernd die Hand auf den Arm einer der kleinen Damen legend, oder sich zuwinkend, zierlich mit den dreieckigen Hüten in der Luft agierend. Für sich allein aber, unbeachtet von den anderen, am Stamme eines Baumes stand eine der jungen Damen, ein Blatt Papier in der Hand, das sie traumverloren betrachtete. Hinter ihr zog sich durch das Grün des Gebüsches hin deutlich erkennbar ein kleiner Fußpfad, der zu einem ländlichen Gehöft führen mochte oder vielleicht auch in Windungen zum Schloß lief.

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Seit seiner Kindheit hatte der junge Mann das Bild mit liebenden Augen betrachtet, und nach seinen Erlebnissen und Stimmungen hatte er sich geträumt, wie er selber mit in dem Bilde ging, in der Tracht der Herren mit den Seidenstrümpfen, gestickten Röcken, zierlichen Degen und Dreispitzen. Zuweilen küßte er einer von den schönen Damen die Hand, bot ihr den Arm in gleicher Höhe mit dem Kinn; erzählte er witzige Geschichten, über welche die Herren lachten und die Damen lächelten, mit den pfauenfedergeschmückten Fächern rauschend; geriet er in Wortwechsel mit einem von den selbstbewußten Herren, die beiden zogen ihre Degen, die Freunde legten sich ins Mittel, eine der Schönen sank ohnmächtig ihren Genossinnen in die Arme; dann wieder scharte er die Herren um sich durch eine wunderliche Erzählung, die Damen standen von ferne und sahen zu ihnen her; oder er stand inmitten der Damen, trug ein Gedicht vor, das er selber gedichtet, die Damen standen und saßen, traumverloren ihm lauschend, die eine ihm ins Gesicht schauend, die andere im abgewendeten Auge eine Träne zerdrückend, die Herren aber hatten sich eifersüchtig und neidisch zusammengerottet und warfen ihm feindliche Blicke zu.

Aber am meisten hatte er sich doch gedacht, daß er zu der einsamen jungen Dame trat, welche las. Was las sie? Einen Liebesbrief? Ein Gedicht? Einen Brief, den sie selber geschrieben, in welchem sie einem verächtlichen Liebhaber den Abschied gab? Er trat zu ihr, die Linke am Degen, in der Rechten den Hut haltend, verneigte sich und redete sie an: »Weshalb so abseits, schönes Fräulein? Habt Ihr einen Kummer? Sagt ihn mir, oder habt Ihr eine Freude? Teilt sie mir mit; ich will beides mit Euch tragen.« Sie warf ihm einen Blick zu, er solle schweigen vor der übrigen Gesellschaft; dann ging sie mit ihm den Fußweg weiter, der in den Wald führte, in das Bild hinein; er verschwand mit ihr in dem Bilde hinter dem Gebüsch, und nun gingen sie weit in den Park, auf dem schmalen Fußweg, ganz allein; von weitem tönte einmal das Lachen der übrigen Gesellschaft zu ihnen, dann wurde alles still, nur ein Specht klopfte wohl einmal, oder ein Eichhörnchen huschte lautlos über den Weg, einen glatten Stamm hinauf, lugte über ihnen hinter dem Stamm vor auf sie nieder mit seinen schwarzen Perlenaugen.

Nun saß er allein in dem verlassenen Haus, die anderen waren fröhlich miteinander, und Maria war wohl die Fröhlichste. Sie hatte mit seinem Bruder gelacht, er hatte die Stirn gerunzelt; sie bat den Bruder, ihr beim Umhängen des Mantels zu helfen, den er ihr hatte umhängen wollen; er war zurückgetreten, hatte aus dem Fenster gesehen; sie sagte neckend: »Du denkst, daß unsere Lustfahrt verregnen wird,« er bejahte trocken. Sie sagte spottend: »Willst du nicht lieber zu Hause bleiben?« er antwortete, daß er dringende Briefe erledigen wolle. Sie wendete sich zu dem Bruder, nahm seinen Arm und sagte: »Ich freue mich so darauf, mit dir zu tanzen, ich habe noch nie mit dir getanzt.« Er antwortete: »Er tanzt natürlich besser wie ich.« Sie sagte über die Schulter hin: »Das nahm ich ohnehin an, Wilhelm,« und reichte dem Bruder den Arm, daß er den Handschuh zuknöpfen solle. Da war er aus dem Flur fortgegangen, in dieses Zimmer, wo das Bild hing; er hatte alle Geräusche, alles Schwatzen, Lachen, Kichern vernommen, hatte gehört, wie der Kutscher den Pferden zurief, wie der Wagen fortrollte. Dann liefen noch eine Weile die Dienstmädchen durch das Haus, Türen klappten, einmal wurde die Zimmertür geöffnet und schnell wieder zugeschlagen; endlich war das Haus ganz leer, und er hatte abgeschlossen; nun saß er allein vor dem Bild.

Und wie er aufsah aus seinem Nachbrüten, da stand die Dame aus dem Bild vor ihm; sie verbarg schnell den Brief in ihrem Kleide; weshalb hatte sie denn den Brief noch in der Hand? Er erhob sich, da war er gekleidet wie die anderen Herren auf dem Bilde; er wurde verwirrt, sie reichte ihm lächelnd die Hand, er ergriff die Fingerspitzen; da stand er mit ihr am Stamm des hohen Baumes; durch das Gebüsch waren die anderen von ihnen getrennt, sie hörten Lachen, Sprechen, Flüstern, zärtliche leichtsinnige Worte; die Dame sah ihn an, da legte er ihren Arm in den seinen und ging mit ihr den Waldweg; die Stimmen der anderen verloren sich, sie gingen auf dem engen Weg, zwischen Gebüsch, das er mit den Händen festhielt, damit es nicht ihr zierliches Gesicht streifte. Lange gingen sie, und er fühlte ihr Herz klopfen. Baumwurzeln liefen über den Boden; wo das Gebüsch etwas zurücktrat, standen die weißen Sternblumen am Weg; wunderbar ruhig war alles um sie. Sprachen sie denn zusammen? Nein, sie sprachen nicht.

»So lange habe ich dich erwartet,« sagte sie, »so lange Jahre.« Die großen Äste der Bäume hingen über den Weg, der Sonnenschein spielte am Boden, die Blätter über ihnen waren durchleuchtet. Da lief der Pfad aus dem Wald, zwischen zusammenstrebenden Bäumen wie aus einem leuchtenden, flimmernden, bewegten Torbogen; vor ihnen lag eine Wiese, mit blauen, gelben und weißen Blumen, in flimmerndem Grün und leiser Bewegung; zu einer anmutig ausgebogenen Terrasse mit kunstvoll geschmiedetem Eisengitter schwangen sich zwei Treppen, auf der Terrasse stieg das Schloß in die Höhe, mit den hohen Fenstern, den seltsam gewundenen Balkons mit schwarzem und vergoldetem Eisenwerk, den wunderlichen Säulen, Ecken, Winkeln, Vorsprüngen und Einsprüngen, Amoretten, welche auf Balustraden standen und Girlanden hielten, Blumenvasen, mit dem steilen Dach aus grün angelaufenem Kupfer, blitzenden Mansardenfenstern; und sie gingen in langen Korridoren auf bunten Steinplatten; an den Wänden hingen Bilder von Damen und Herren, durch die hohen Fenster strömte Sonnenlicht herein, sie traten in ein Zimmer, und er hielt sie im Arm, er küßte sie und sie küßte ihn, sie sagte: »So lange habe ich dich erwartet, so lange Jahre; über hundert Jahre lang, ehe du geboren, habe ich dich erwartet; allein harrte ich an dem hohen Baume, und die anderen lachten und sprachen, liebten sich und scherzten miteinander; ich aber stand allein, und hatte ein Blatt in der Hand, auf dem ein Gedicht geschrieben steht, das Gedicht ist von dir, ich weiß es auswendig, seit hundert Jahren weiß ich es auswendig. Nun aber haben wir uns gefunden, nun gehören wir zusammen. Die ganzen Jahre habe ich davon geträumt, wie wir durch den Waldweg gehen werden, meinen Arm in deinem Arm, und die Stufen hinaufsteigen, und durch die Korridore gehen in dieses Zimmer hier; nun wollen wir leben in diesem Schloß, wir wollen nicht alt werden, sondern wir bleiben ewig jung, und die Sonne scheint ewig, die Wiese blüht und flimmert, der Wald bewegt leise seine Blätter, ganz weit fort sind die anderen, sie kommen nie zu uns in dieses Schloß, wir sind allein hier, wir sind allein in der Welt.«

Dann aber sagte sie: »Nun will ich dir auch alles zeigen, das uns gehört.« Umschlungen gingen sie durch die Zimmer, da hingen an den Wänden Gobelins, auf denen waren alle Tiere des Waldes abgebildet, Jagden, Schlachten, Liebesgeschichten; Kredenzen waren da, auf denen war aufgestellt silbernes Geschirr aller Art: große Krüge, Schalen, Schüsseln; kristallene Gefäße funkelten, Rubinglas blitzte rotleuchtend; an den Wänden hingen mächtige Geweihe von gewaltigen Hirschen, Elentieren, zierliches Rehgehörn; in Schränken an der Wand standen Waffen und Waidgerät aller Art, kostbar mit Silber und Perlmutter eingelegt, schön und fest gearbeitet; »jeden Tag kannst du auf Jagd gehen, Lieber,« sagte sie; »das Wild kommt bis vor unser Haus«; dann waren da lange Galerien mit Bildern, ein großer Saal mit Schränken voller Bücher; »an den Abenden wollen wir lesen, was die Dichter geschrieben haben,« sagte sie, »wir wollen suchen, ob sie solche Liebe haben singen können wie unsere, solches Glück beschreiben, wie unseres ist, wir wollen unsere Seelen wiegen auf schönen Versen, schmeichelnde Reime sollen unser Ohr umtönen und umklingen, wunderbare Bilder sollen unseren Geist erheitern, und wenn wir müde sind von Glück und Freude, dann wollen wir zufrieden einschlafen und auf den Morgen hoffen, wo wir uns lächelnd begrüßen nach ruhiger Nacht.«

Nun lebten die beiden sehr lange zusammen. Des Morgens warfen die Bäume von links her einen langen Schatten über die Wiese vor dem Hause, dann verkürzte sich der Schatten, dann lag die Wiese im hellen Sonnenschein, das freundliche Licht strahlte durch die Fenster; dann neigte sich die Sonne gegen Abend, von der anderen Seite fielen die Schatten, länger und länger werdend. Auch der Mond glitt auf am Himmel, und in silbernem Glänze leuchteten Busch und Baum und die vielen Kräuter der Wiese. Und wunderlich war alles im Schloß, es schien, als veränderten sich die Zimmer täglich, so viel Neues erschien, so anders sah alles Alte aus, so sonderbar waren die Türen, die Gänge.

Ein Zimmer lag an dem Ende eines Ganges, die Tür hatte immer dieselbe Stelle; die Geliebte bat ihn schmeichelnd: »Öffne nicht diese Tür, es wäre ein Unglück für mich, wenn du sie öffnetest, ich müßte weinen, immer müßte ich weinen, wenn du sie öffnetest.« Er lachte über ihre Angst und öffnete nicht die Tür. Aber an einem Tag, nach vielen Tagen, stand er am Ende des Ganges, und stand vor der Tür; da war ihm, als höre er in dem Zimmer Maria sprechen; sie sagte: »Willst du mich denn nicht ansehen?« Wie er diese Stimme hörte, da wurde er von solchem Heimweh ergriffen, daß er auf den Griff drückte, die Tür öffnete und eilig in das Zimmer trat. Da sah er nichts, nur an der Wand war ein Bild; auf dem Bild war die Wohnstube seiner Eltern gemalt, der große Tisch mit dem buntfarbigen Teppich darauf, der Kamin mit der marmornen Einfassung, dem messingenen Feuergerät und das alte Bild an der Wand mit den Bäumen, dem Schloß im Hintergrund, der heiteren Gesellschaft; auf dem Stuhl aber vor dem Bild saß er selber, und vor ihm stand Maria. Da sah er, wie er sich erhob und Marias Hand ergriff, und da stand er auch schon wirklich in der Wohnstube, hielt Marias Hand und sah in ihr bekümmertes Gesicht. »Kannst du mir denn nicht verzeihen?« fragte sie ihn; »es war ja nur Scherz.« Er sah sie noch immer starr an, konnte sich nicht finden. »Es war ja nur Scherz,« wiederholte sie, und fuhr fort: »Willst du denn nicht noch mitkommen? Alle anderen sind schon in den Wagen gestiegen.« Sprachlos sah er noch immer auf sie, dann sah er auf das Bild an der Wand vor ihm, mit den Bäumen, dem rasenbedeckten Platz, auf welchem die heitere Gesellschaft ging, mit dem Schloß im Hintergrund. – »Sie weint ja!« rief er und zeigte auf die Dame, welche allein stand, an einen Baum gelehnt. Maria folgte verwundert seinem Blick. »Sie hat ein Taschentuch in der Hand, eben hat sie sich die Tränen abgetrocknet,« fuhr er fort. »Ja, wirklich,« sagte Maria, »ein Taschentuch hat sie in der Hand; ich hielt es immer für ein Blatt Papier.« Nun setzte er sich in den Stuhl, die Tränen kamen ihm, und er verbarg sein Gesicht in den Händen. »Was ist dir?« fragte sie, »ich wußte ja nicht, daß es dich so kränken würde, ich will ja nie wieder so scherzen; verzeihe mir doch, sieh mich doch an, ich liebe dich ja so sehr.« Sie kniete neben ihm und versuchte, seine tränenüberflossenen Hände von seinem Gesicht zu lösen.

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Es gibt Autoren, die verschollen und vergessen sind - und es gibt Dichter, deren Werk so absolut vergessen ist, von denen die Nachwelt nicht einmal mehr ahnt, daß sie jemals Bücher veröffentlicht haben, die nicht einmal mehr als verblasste Schemen auf den Seiten der Literaturgeschichten präsent sind. Zu diesen Namen gehört der von Paul Ernst (1866-1933); selbst der Ersteller des ihn betreffenden kleinen, nichtssagenden Eintrags in der "allwissenden Müllhalde" (Danisch, Klonovsky) Wikipedia hat es nicht der Mühe für wert erachtet, zu den jeweils 4, 5 genannten Titeln in den Bereichen Romane, Erzählungssammlungen oder Drama die Erscheinungsjahre zu eruieren. Nostalgiker können darin ein bedenkliches Zeichen von Kulturverfall wittern: das Referenzwerk, das vor der Ägide des "global Village" des Weltnetzes für die Aktenführung in dieser Abteilung zuständig war, "Kürschners Literaturkalender," listete in jedem der zweijährig erschienenden Bände die vollständige Werksliste auf; man sollte aber im Hinterkopf behalten, daß die Listen des Kürschner auf den Eigenauskünften der aufgeführten Autoren beruhten und daß Eitelkeit in diesem Berufsstand die verläßlichste Antriebsquelle darstellt. Auch wer in der "Deutschen Biographie" um eingehendere Auskünfte über ihn nachsucht, steht am Ende nicht viel schlauer da:

"Seine Dramen und Novellen sind abstrakt nicht im Sinne des Rational-Begrifflichen, sondern dadurch, daß E. wie in der griechischen und mittelalterlich romanischen Darstellung von allen naturalistischen und psychologischen Zufälligkeiten abstrahiert, das heißt durch die konkrete Figur zum Urbildlichen durchstößt. „Form“ ist für E. mit Platons εἶδος und den mittelalterlichen Universalien identisch, bedeutet das formende Prinzip der Seele: anima forma corporis est. Unsinnlichkeit und Starrheit E.s erweisen sich selbst dem Andersgearteten als nichtige Einwände, als notwendige Folgerung seines Grundprinzips (Faesi)."


Und nachts ist es kälter als draußen.

Rein A. Zondergeld hat 1983 den Autor in seinem kleinen Lexikon der phantastischen Literatur (Suhrkamp: Phantastische Bibliothek 91) aufgrund der Erzählungen des Bandes "Occultistische Novellen" aus dem Jahr 1922 dem Genre zugeschlagen - und der oben wiedergegebene Text fällt unzweifelhaft ebenfalls in diese Kategorie. Zondergelds brüsk apodiktische Urteile über die von ihm aufgenommenen Autoren sind oft zweifelhaft - zum Teil weil sie schlicht von Unkenntnis und Renommiersucht zeugen (etwa, wenn er den "australischen Bret Harte" Henry Lawson, 1876-1922, mit seinen im Outback spielenden Erzählungen als Autor des Phantastischen auflistet) oder weil er sich ein zynisches Spiel mit dem ahnungslosen Leser erlaubt (etwa, wenn er Anne Day-Helveg, die Autorin des Zeitungs-Fortsetzungsromans "Liane, das Mädchen aus dem Urwald," zur "Meisterin der Phantastik" erhebt). Aber sein Verdikt über das Schaffen Paul Ernsts dürfte, wenn unser Text als typisch dafür gelten kann, durchaus zutreffen:

"Der "Neuklassiker" E., dessen umfangreiches Werk heute zu Recht weitgehend vergessen ist, publizierte 1922 im Georg Müller Verlag, dem Spezialisten für Phantatik, ein schmales Bändchen "Okkultistische Novellen," das unter anderem die Novellen "Die Erscheinung," "Der Zauber der Mumie" und "Der gespenstische Liebhaber" enthält. Die bis zur Unerträglichkeit klischeehafte Sprache und die fatalen ideologischen Einstellungen machen die Lektüre dieser auch thematisch uninteressanten Texte keineswegs zu einem Vergnügen."


Bleibt noch anzumerken, daß unser Paul Ernst keineswegs mit dem amerikanischen Genreautor Paul Ernst (1899-1985) verwechselt werden sollte, der wie sein Namensvetter in völlige Vergessenheit geraten ist, aber zwischen dem Ende der 1920er bis zu Anfang der 40er Jahre mindestens 340 Texte für die als "Pulp Magazines" bekannten Groschenhefte verfaßte - zumeist Kriminalreißer, aber auch Horror- und SF-Texte, die in den einschlägigen Genrepublikationen wie "Weird Tales" und "Astounding Stories" erschienen - und nicht zuletzt die 24 Romane der "Avenger"-Serie, mit denen der New Yorker Verlag Street & Smith zwischen 1939 und 1942 an die Erfolge seiner Serien um Doc Savage und The Shadow anknüpfen wollte. Wolfgang Heilmann hat "unserem" Paul Ernst 1959 in der "Deutschen Biographie" 270 Novellen zugeschrieben; eine gewisse Parallele zwischen trivialer Tagesproduktion und Verschwinden - nicht im Bild, aber doch im Blätterwald - ist nicht von der Hand zu weisen.

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"Das alte Bild" erschien in der 1916 beim schon genannten Georg Müller Verlag in München publizierten Sammlung "Die Taufe."

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Nicht um die - nicht vorhandene - literarische Qualität der kleinen Geschichte geht es hier, sondern darum, daß es sich ganz offenkundig um eine Adaptation von Pu Songlings Erzählungsstoff um das Hineingehen, das Verschwinden in einem Gemälde handelt - in einer Anverwandlung an "alteuropäisches" Ambiente und Kolorit. Hinzugekommen ist das "verbotene Zimmer," das aus dem Blaubart-Stoff geläufig ist; geblieben ist die Brechung des magischen Banns durch eine Stimme "von außen" - in diesem Fall nicht durch die des Mönchs, sondern der Schwester, und die Veränderung auf dem Gemälde selbst als sichtbarer Beweis des unerklärlichen Geschehens. Daß das "verbotene Zimmer," das einen weiteren Schritt ins Innere des "magischen Bezirks" darstellt, wieder unvermittelt in die narrative Außenwelt hinausmündet, erinnert an die Bildkosmen von M. C. Escher, in denen "Innen" und "Außen" ebenfalls wie in einem Möbiusband ineinander verschlungen sind.

Hat Paul Ernst Pu Songlings kleine Wundergeschichte gekannt? Letztendlich läßt sich dies nicht nachweisen, und die Möglichkeit, daß zwei (oder mehr) Verfasser auf dieselbe erzählerische Volte verfallen, ist ja durchaus gegeben; auch wenn Literaturhistoriker (naturgemäß,möchte man sagen) dies bei der Verfolgung literarischer Motive kategorisch auszuschließen pflegen. Aber unwahrscheinlich ist es nicht. Die erste Auswahlübersetzung aus dem "Liaozhai Zhiyi" erschien 1880 in der Übersetzung von Herbert A. Giles im Londoner Verlag Thomas De la Rue & Co. in zwei Bänden unter dem Titel "Strange Stories from a Chinese Studio." Giles (1845-1935) diente von 1867 bis 1892 im englischen diplomatischen Dienst in China und wurde anschließend zum zweiten Professor für Sinologie in Oxford ernannt. In seiner Übersetzung findet sich "The Painted Wall" als zweite Erzählung im ersten Band auf den Seiten 9 bis 13. Und in den Jahren unmittelbar vor Erscheinen von Ernsts Variante zum Thema erschienen zwei Auswahlen aus diesem Werk auch in deutscher Übersetzung. In Richard Wilhelms "Chinesischen Volksmärchen" (Eugen Diederichs, Jena 1914), in die er 16 Erzählungen aus dem "Liaozhai Zhiyi" aufnahm, findet sie sich nicht - dafür aber in der von Martin Buber 1911 besorgten Auswahl und Übersetzung aus Giles' Werk, "Chinesische Geister- und Liebesgeschichten," die in Frankfurt am Main in der "Literarischen Anstalt Ruetten & Loehning" erschien; "Das Wandbild" (S. 1-5) ist der erste von Buber ausgewählten ebenfalls sechzehn Texte.

Buber hat sich bei seiner Übertragung allein an der englischen Fassung von Giles orientiert. Giles ist von späteren Sinologen für seine Übertragung oft kritisiert worden, da sie sich durch das auszeichnet, was dem viktorianischen Zeitalter als "Bowdlerization" geläufig war: die Streichung und Glättung als anstößig empfundener Passagen; was mitunter gravierende Veränderungen am Inhalt zur Folge hatte (ähnliches gilt für die erste umfassende Übertragung der Erzählungen des Alf-Layla wa-layla, des "Buch von der tausend und der einen Nacht" durch William Edward Lane, die zuerst 1838 erschien) Bei Giles suchen etwa die (weiblichen) Fuchsgeister (狐狸精), die Hulijing, die in der chinesischen Folklore die Rolle unserer Kobolde spielen (ebenso in der japanischen, wo sie als Kitsune bekannt sind) in ihrer Menschengestalt einsame Gelehrte in ihren abgelegenen Studierstuben nicht auf, um sie zu verführen, sondern um sich mit ihnen über die Klassiker der Literatur zu unterhalten.

Zwei kleine Beispiele an dieser Stelle, auch um mir einen kleinen Abstecher in die Studierstube des Übersetzers zu erlauben. Die Passage, die ich in meiner Version der "bemalten Wand" mit

"[Als er sah, daß sie allein waren,] umarmte er sie, und als sie sich ihm nicht verweigerte, erlaubte er sich mehr"

wiedergegeben habe, lautet im Original:

他就去拥抱少女,少女也不太抗拒,于是和她亲热起来。

wörtlich: "Er umarmte das junge Mädchen, das junge Mädchen widerstand ihm nicht zu sehr, daraufhin wurde er hitziger/zudringlicher" und zwar meint dieses 亲热起来 /qīn rè qǐlai dies durchaus in einem handgreiflichen, intimen Sinn. Nun ist eine der Bedeutungen des 亲 / qīn aber auch "Braut." Und so macht Giles daraus:

"Then they fell upon their knees and worshipped heaven and earth together, and rose up, as man and wife"


und setzt zur "Erläuterung" dieser im Original nicht vorhandenen gemeinsamen Anbetung von Himmel und Erde als erläuternde Fußnote dazu: "The all-important item of a Chinese marriage ceremony; amounting, in fact, to calling God to witness the contract." (Buber indes blendet züchtig ab: "Sogleich umarmte er sie, was sie ihm nicht verwehrte." Um im nächsten Satz fortzufahren: "Sie hatten etliche Tage zusammengelebt...")

Zum zweiten: ich habe den vorletzten Satz - vor der nachgestellten "Moral des Chronisten" -

朱举人胸中郁闷不舒,孟龙潭心中则惊骇无主

- mit "Zhu Juren krampfte sich das Herz in der Brust zusammen, und Meng Longtan war zutiefst erschreckt" übersetzt. Dabei sind sowohl 胸 中 wie auch 心 als "Herz" zu lesen (das erste durchaus im Sinne von "Geist," oder "Gemüt," dessen Sitz in der chinesischen Tradition im Herz angesiedelt ist; um die doppelte Nennung des "Herzens" zu vermeiden, habe ich Meng als Ganzes, nicht nur "in seinem Herzen" (心中) erschreckt sein lassen. Bubers Übersetzung des Satzes

"Diese Antwort war für Herrn Tschu sehr wenig befriedigend; und auch sein Freund, der einige Beängstigung empfand, wußte nicht, wie er sich all das zurecht deuten sollte"


ist eine getreue Wiedergabe von Giles englischer Version:

"This answer was very unsatifactory to Mr. Chu; neither did his friend, who was very frightened, know what to make of it."


Traduttore traditore. Auch ich habe durchaus auf die wörtliche Wiedergabe verzichtet, um etwa ungebräuchliche Wiederholungen zu vermeiden (die sich in Pus Fall der Syntax des Chinesischen verdanken und nicht, wie etwa bei Lord Dunsany, ein bewußt eingesetzter archaisierendes Stilmittel darstellen). Aber auch wenn ich es selbst behaupte, so scheint es mir doch, daß mein Text dem Original eher näherkommt als die Versionen von Giles oder Buber (wobei letzteren angesichts des Standings des Oxforder Kollegen kein Vorwurf trifft.



U.E.

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