14. März 2021

Algernon Blackwood, "Der Mann, der Milligan war" (1923)





(Algernon Blackwood)

Milligan musterte mit einem abschätzigen Blick die armselige Zimmerflucht, während die Vermieterin hinter ihm stand und darauf wartete, wie er sich entscheiden würde. Sie hatte die Arme verschränkt. Ihr aufmerksamer Blick taxierte seinerseits natürlich Milligan. Er war als Angestellter in einem Reisebüro tätig; in seiner Freizeit schrieb er für den Film. Was ihm an der schlichten Wohnung zusagte, waren die großen Flügeltüren. Er suchte nur nach einer Unterkunft, in der auch noch Frühstück serviert wurde, aber jetzt stellte er sich vor, wie er hier saß und Drehbücher verfaßte - und das mit Erfolg. Es war eine verlockende Aussicht: Endlich ein Literat - mit einem angemessenen Arbeitszimmer!

"Die Miete scheint mir doch ein wenig hoch, Frau ---?" begann er.

"Bostock, Sir, Mrs. Bostock," ließ sie ihn wissen und fing an, ihm das Elend der hohen Lebenshaltungskosten zu klagen. Es war vergebene Liebesmüh, denn Milligan hörte nicht zu. Er hatte sich längst entschlossen, die Zimmer zu mieten.

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Während Frau Bostock sich weiter in ihrer Litanei erging, fiel sein Blick auf ein Bild, das über dem Kaminsims hing - eine chinesische Szene, die einen Mann in einem Boot auf einem kleinen See zeigte. Er sah nur kurz hin, nicht mehr. Schließlich war es ein angenehmerer Anblick als der von Frau Bostock. Sie aber bemerkte seinen Blick sofort.

"Mein Mann," wechselte sie das Thema, "hat das mitgebracht aus China. Aus Hongkong, müssen Sie wissen." Milligan mußte unwillkürlich lächeln, weil sie das "H" in "Hong" so sorgfältig betonte. Offenkundig hielt sie große Stücke auf das Bild.

"Ein wunderbares Stück," sagte er. "Und wahrscheinlich sogar von einigem Wert. Diese chinesischen Bilder sind sehr gesucht, habe ich gehört - jedenfalls manche davon."

Ihm war klar, daß das kleine Bild war höchstens zwei Shillinge wert; aber es bot ihm die Gelegenheit, Frau Bostock für sich einzunehmen - und einen Shilling weniger als Miete zu akzeptieren. Er war überzeugt, daß ihr verstorbener Mann, ein Kapitän, das Bild auf seinen Reisen irgendwo gestohlen hatte. Für sie stellte es eine Wertanlage dar: wenn sie jemals in Schwierigkeiten geraten sollte, konnte sie es gewinnbringend veräußern. Milligan war hier ganz zufällig über etwas gestolpert, das er "eine gute Anregung" zu nennen pflegte.

Da er eine ehrliche Haut war, hatte er nicht vor, davon Gebrauch zu machen. Aber in den folgenden Wochen kam das Gespräch fast täglich auf das chinesische Bild. Das Thema langweilte ihn zwar, aber er pflegte es mit Bedacht und sah sich oft den Chinesen genau an.

Bald kannte er diesen Sohn des Himmels, der da für alle Ewigkeit über den stillen See ruderte, ohne vorwärtszukommen und den Rücken dem Zimmer zugewandt hatte, bis in die kleinste Einzelheit.

Wenn Frau Bostock ihn einen Schwatz aufzwang, lies er seinen Blick von ihrem verhärmten Gesicht zu dem Bild schweifen, um das Gespräch zu beenden.

"Ihr Bild gefällt mir wirklich ganz außerordentlich," stellte er fest. Er rückte es gerade und wischte mit dem Taschentuch Staubkörnchen vom Bilderrahmen. "Das ist viel besser als diese modernen Sachen. Ich wette sogar, daß es einiges wert ist -"

Zufälligerweise fiel ihm in jenen Tagen wieder Lafcadio Hearn ein - jener Schriftsteller, der so viel über Japan geschrieben hat. Er hatte einmal für einen Kunden eine Geschäftsreise nach Japan organisiert, und dieser Klient hatte ihm als Dank eines von Hearns merkwürdigen Büchern geschenkt. Es war nicht die Art von Lesestoff, die Milligan interessierte, weil es keinen "Filmstoff" abgab, und er hatte das Buch - eine Sammlung von Erzählungen über China - für einen Shilling an einen Antiquar verkauft. Aber vorher hatte er es durchgeblättert, und eine der Geschichten war ihm im Gedächtnis haften geblieben: eine Ezählung über Bild, das einen Mann in einem Boot zeigte. Jemand, der das Bild genau angesehen hatte, hatte festgestellt, wie sich der Mann bewegte. Und dann begann er tatsächlich zu rudern. Und am Ende ruderte der Mann aus dem Bild hinaus, dorthin (es war in einem Tempel), wo der Betrachter wartete.

Milligan schien das Unsinn, aber die die Einzelheiten waren ihm deutlich im Gedächntis haften geblieben. Die Beschreibung war so eindrücklich gewesen. Jedesmal, wenn er ein Schiffsticket nach China oder Japan verkaufte, fiel ihm die Szene wieder ein. Sie tauchte auf, zog vor seinem inneren Auge vorüber und verschwand wieder. Aber er erinnerte sich daran. Und in dem Moment, als ihm zuerst Frau Bostocks Schätzchen über dem Kamin aufgefallen war, hatte sich die lebhafte Erinnerung an Hearns Erzählung wieder gemeldet, war vorübergezogen und wieder verschwunden. Das zeigte zumindest, wie eindrucksvoll sie war. Dieser Hearn verstand sein Metier, dachte Milligan.

Dergleichen war ganz normal, ohne einen Beigeschmack des Ungewöhnlichen oder Seltsamen. Was dabei merkwürdig war (so schien es Milligan zumindst) war eine Idee, ein Verdacht, der seit der ersten Woche, die er nun hier wohnte, in ihm aufkeimte.

"Und wenn das hier genau das Bild ist, über das dieser Hearn geschrieben hat?" fiel es ihm eines Nachts ein, während er sich mit einem Drehbuch für ein schauriges Drama herumschlug, von dem er hoffte, daß es ihm zum Durchbruch verhelfen würde. "Wär' doch denkbar. So neu ist das Bild wohl nicht. Und die Szene ist genauso, wie Hearn das beschreibt. Könnte doch sein!"

Und wieso eigentlich nicht? Einem Mann steht es gut an, seine Phantasie spielen zu lassen - und einem Schriftsteller besonders. Milligan nutzte die seine - manchmal bis tief in diei Nacht. Das Gaslicht ließ einen flackernden Schein über die Blätter, die er vollgeschrieben hatte, spielen, über das Boot, über den Rücken und die Arme des winzigen Chinesen, der bis in alle Ewigkeit über den stillen See ruderte, ohne jemals einen Zoll vorwärtzukommen. Das Drehbuch, an dem er gerade arbeitete, spielte passenderweise auch in China. Milligan fand es inspirierend, das Bild zu betrachten, wenn seine Phantasie erschöpft war und ihm die Ideen ausgingen.

Er betrachtete es oft. Das Gaslicht flackerte beständig; die Schatten tanzten in einem fort über Frau Bostocks wertloses Kunstwerk. Es war ein leichtes, sich einzubilden, daß sich das Boot bewegte, das Wasser, sogar die Gestalt des Ruderers. Diese tanzenden Schatten! Wie sie über die Arme, den Rücken, den Umriß des Bootes, die Ruder spielten!

Als es zwei Uhr morgens geworden und es auf den Straßen Londons still geworden war und sich eine mächtige Stille auf die Stadt gesenkt hatte, wurde Milligan von einer leichten Faszination übermannt. Es war eine Herausforderung, eine Phantasieübung, so schien es ihm, sich die fast unmerklichen Bewegungen auf dem Bild einzubilden. Er stellte sich vor, wie die Gestalt die Ruder bewegte, wie er sich anders hinsetzte, wie er zur Landung am Ufer ansetzte. Das regte seine Phantasie an, hob seine Stimmung, half ihm, sich passende Handlungen und Atmosphäre einfallen zu lassen. Er hatte natürlich Thomas Burke gelesen. In seinen Drehbüchern nannte er die Chinesen immer nur "die Gelben."

"Der Gelbe lebt!" flüsterte er. "Um Himmelswillen! - er bewegt sich im Bild! Er verändert seine Position. Das ist eine Anregung. Das muß ich verwenden - irgendwie..." Und seine Phantasie machte sich wieder ans Werk, auf nicht geheuere Weise in der tiefen Stille der schlafenden Stadt entflammt.

So begann das seltsame Abenteuer, das dem Schriftsteller Milligan zustieß, dessen Phantasie in der späten Nacht auf Hochtouren lief, und dessen Drehbücher keinen Abnehmer fanden.

"Warum soll man Drehbücher schreiben," sagte er zu mir, "wenn man sie selber erleben kann?"

Er sagte mir das in Peking, zehn oder zwölf Jahre später. Ich vermute, daß ich der einzige Mensch auf der Welt bin, dem er je anvertraut hat, welches "Drehbuch" er lebte.

In Peking nannte er sich nicht mehr Milligan; er arbeitete auch nicht mehr in einem Reisebüro. Er war ein wohlhabender Mann mit jetzt 38 Jahren, ein Mann von einigem Ansehen und Einfluß. Aber das ist hier unwichtig. Wichtig ist, wie er überhaupt nach China gelangt war - und daran konnte er sich nicht erinnern. Er hat keine Ahnung, wie er nach China gekommen ist; ihm ist nicht die kleinste Erinnerung an die Reise geblieben. Und er erinnert sich ebenfalls nicht an die Geschäfte und Spekulationen, denen er seinen Wohlstand verdankt - seine Erinnerung setzt erst wieder ein, als er sich als erfolgreicher Geschäftsmann in der chinesischen Metropole wiederfand.

In seinem Gedächtnis klafft eine Lücke von vielen Jahren.

"Gedächtnisverlust nennt man das wohl - Amnesie," meinte er, nachdem aus unserer flüchtigen Bekanntschaft eine Freundschaft geworden war und er mir Vertrauen schenkte. Das, was er darüber erzählen konnte, berichtete er mir offen und ohne Zurückhaltung, und bat mich auch nicht darum, es für mich zu behalten.

Anscheinend gab es irgendeine Verbindung zwischen mir und dem Mann, der Milligan gewesen war. Der Zufall hatte das an den Tag gebracht - manche würden von "Schicksal" sprechen. Und während ich seiner seltsamen Geschichte zuhörte, nahm ich mir fest vor, nach meiner Rückkehr nach London diese Frau Bostock aufzusuchen und ihr das Bild abzukaufen. Ich war begierig darauf, es selber zu untersuchen. Dann würde ihre Wertanlage zu guter Letzt doch noch zu etwas gut sein - ganz so, wie es ihr Milligan vor zehn Jahren erzählt hatte.

Was passiert war, war anscheinend Folgendes: zunächst entwickelte Milligan, aus blauem Himmel, ein brennendes Interesse an China und an allem, was mit China zu tun hatte. Und so plötzlich dieses Interesse erwacht war, so heftig nahm es zu. China sprang ihn nachgerade an. Er las Bücher, er sprach mit Reisenden, die das Land besucht hatten, studierte Karten, vertiefte sich in die Geschichte Chinas und seine Kultur. Die Lebenseinstellung der Menschen dort faszinierte ihn. Er war davon nachgerade besessen. Er sehnte sich danach, China zu besuchen - die Sehnsucht danach wurde so groß, daß es ihm tag und Nacht keine Ruhe ließ. Für ihn selbst, in dem Leben, wie er es führte, war eine solche Reise natürlich ausgeschlossen: ihm fehlten die Zeit und das Geld dazu. Er lebte weiter in London, aber in seiner Phantasie lebte er längst in China, denn das Bewußtsein eines Menschen hält sich an den Orten auf, die ihn mit jeder Faser in Beschlag nehmen.

Ich fand darin nichts Ungewöhnliches. Andere haben so den Ruf, den Zauber von Ländern wie Ägypten, von Afrika oder der Wüste empfunden. An der Faszination, die China auf die Phantasie Milligans ausübte, was nichts Seltsames oder Unverständliches. Au0erdem war es sein Beruf, seinen Kunden auffregende, außergewöhnliche Reiseziele zu empfehlen - und China hatte diese Saite in ihm jetzt zum Klingen gebracht. Das war ganz natürlich!

Es war auch nur natürlich, daß infolge davon das Bild in seiner Wohnung ihn jetzt mehr und mehr faszinierte, und daß er es immer häufiger und genauer betrachtete. Es war der einzige chinesische Gegenstand, zu dem er jederzeit Zugang hatte, und er berichtete mir mit ermüdender Genauigkeit, wie er sich mit der kleinsten Einzelheit auf dem Bild genauestens vertraut gemacht hatte - und wie das Bild für ihm zu einem Symbol, einem fast heiligen Symbol geworden war, auf das er seine heißen, seine unerfüllbaren Wünsche richtete. Es war ermüdend - bis er an einen Punkt in seiner Geschichte gelangte, an dem mein Interesse schlagartig gewckt wurde, und ich ihm mit gebannter Neugierde zuhörte.

Das Bild, erzählte er mir, veränderte sich. Unter den Einzelheiten, die er so gut kannte, entstand Bewegung.

"Es bewegte sich!" flüsterte er mir mit leiser Stimme zu. In seinen Augen lag ein leichter Glanz, und ein Schauder lief durch seinen massigen Körper.

Der Ernst, die feste Überzeugung, mit der er mit beschrieb, was passiert war, hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck. Aus seinen Worten, seinen Gesten sprach die Wahrheit eines wirklichen Erlebnisses. Bis dahin war nur der Hinterkopf des Chinesen zu erkennen gewesen. Und dann, eines Nachts, war sein Gesicht zu sehen. Der Chinese hatte den Kopf gewendet und blickte nun über die Schulter ins Zimmer.

Von da an erfolgten die Veränderungen immer auffälliger und schneller, obwohl Milligan nie selbst Zeuge einer solchen Veränderung wurde. Der Chinese sah immer in die gleiche Richtung, über die Schulter hinweg, aber die Ruder und die Postion des Boots, die Haltung des Ruderers und seine Größe - das änderte sich jetzt täglich.

Und noch etwas änderte sich mit beängstigender Schnelligkeit: die Gestalt des Chinesen wurde größer; und das Boot wurde es auch. Es näherte sich! "Mir wurde klar, daß er unterwegs war, um mich zu holen," flüsterte den Mann, der einmal Milligan gewesen war. "Jedesmal, wenn ich feststellte, daß das Boot wieder ein Stück größer geworden war, brach mir der kalte Schweiß aus. Und trotzdem - auf seine Art hatte es auch etwas erschreckend Faszinierendes."

Ich unterbrach ihn. "Hat Ihre Vermieterin denn nichts davon bemerkt?" fragte ich und bemühte mich, meine Skepsis nicht anklingen zuu lassen.

"Frau Bostock war zu der Zeit bei schlechter Gesundheit und die meiste Zeit bettlägerig. Sie ist in jenen Wochen nicht mehr in das Zimmer gekommen."

"Was ist mit dem Dienstmädchen?" wollte ich wissen. "Oder mit Bekannten und Freunden?"

Er zögerte kurz. "Das Mädchen, das die Zimmer aufgeräumt hat, hat davon nichts gesagt. Aber sie hat nach wenigen Tagen gekündigt, ohne einen Grund zu nennen. Mit ihrer Nachfolgerin war es genauso. Ich habe mich nicht weiter bei ihnen erkundigt. Und meinen Feunden habe ich nichts davon erzählt und ihnen nichts davon davon gezeigt."

"Hatten Sie Angst, daß sie nichts sehen würden, was Sie selbst gesehen haben?"

Er zuckte mit den Schultern. "Es hat mir Angst gemacht," wiederholte er und sah hinüber zu den geschlossenen Fensterläden vor seinem Arbeitszimmer.

Mich überlief es kalt - obwohl Peking im strahlenden Sonnenschein lag. Es war deutlich, daß er das, wovon er mir erzählt hatte, tatsächlich gesehen hatte, oder es zumindest fest glaubte: Nacht für Nacht, Tag für war der Ruderer mit seinem Boot nähergekommen, langsam aber unaufhaltsam. Und der Mieter, der vor dem Bild saß, mußte ihm dabei zusehen - und konnte nur warten.

"Dieser Kerl war schon fast in meinem Zimmer angelangt!" flüsterte er. "Er wollte mich holen!" Die Erinnerung an das, was vor zehn Jahren passiert war, überwältigte ihn, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Dann beugte er sich vor zu mir.

"Und am Ende hat er mich geholt." Er sprach stockend, mit gedämpfter Stimme. "Ich bin jetzt mit ihm auf dem Bild gefangen. Ich bin gar nicht hier in China - auch wenn Ihnen das so scheint. Das hier - " er schlug sich auf die Brust - "das bin nicht ICH. Ich bin gar nicht Milligan. Milligan - der ist jetzt auf dem Bild, der sitzt neben dem Gelben im Boot. Er bewegt sich nicht, und die Mieter sehen ihn und erkennen nichts - nur eine winzige Gestalt in einem kleinen Boot, das sich nicht bewegt. Er ist nicht tot - nur festgebannt. Er atmet nicht, er spürt nichts. Er ist gemalt und lebt doch. Und er wird dort so lange bleiben, wie das Bild existiert..."

Er wirkte, als wäre er nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Es mag merkwürdig klingen, aber ich hielt ihn in diesem Moment nicht für verrückt. Seine Aufgewühltheit, sein Entsetzen, das ungespielt und echt war, hatte auch von mir Besitz ergriffen. Aber Milligan war ein Mann, der sich durch Selbstbeherrschung auszeichnete. Er fing sich rasch wieder und erzählte mir das Ende seiner Geschichte.

Er war von einem Tanzabend heimgekommen. Er war völlig erschöpft, aber nüchtern; es mochte gegen vier Uhr in der Frühe gewesen sein. Es war im Frühjahr; der Morgen graute schon, aber auf den Fluren in Haus herrschte noch Ruhe.

Er betrat sein Zimmer, zündete die Gasbeleuchtung an und trat vor den Spiegel, um sein Äußeres zu überprüfen. Das war das erste gewesen, das er getan hatte, wie er mir versicherte. Und beim Blick in dem Spiegel sah er hinter sich das Boot und den Chinesen - beide von riesenhafter Größe.

"Riesig" war das Wort, das er benutzte - obwohl er das natürlich nur bildlich meinte. Der Chinese stand im Zimmer. Er stand am Ufer des Sees, das sich vor dem Kamin ausbreitete. Die Wand war verschwunden - an ihrer Stelle befand sich eine neblige Leere. Hinter dem Chinesen lag das Boot am Ufersaum; beide Ruder lagen auf dem Wasser und waren noch in die Ruderklampen eingehängt. Das Wasser spülte über seine Füße, über Milligans Füße, denn er spürte, wie seine Schuhe durchnäßt wurden, und er hörte das Plätschern der kleinen Wellen, die sich an Ufer brachen.

Ihm entfuhr ein lauter Seufzer. Kein Aufschrei - weder vor Schrecken noch vor Überraschung, sagte er. Nur dieses tiefe Seufzen - ein Aufgeben, ein Hinnehmen, die Regung eines Geistes, der zugleich gelähmt und insgeheim dch erleichtert ist, Der große Chinese winkte ihm zu, lächelte, nickte mit seinem gleeben Anlitz und machte langsam ein paar Schritte rückwärts. Und Milligan gehorchte. Er folgte ihm. Er nahm im Boot Platz. Der Chinese ergriff die Ruder und ruderte ihn langsam, ganz langsam, über den reglosen See und hinein in das Bild, fort aus der gewohnten Umgebung, und langsam, unendlich langsam, in das Land, nach dem sich sein Herz gesehnt hatte.

* * *

Auf der Heimfahrt nach England ließ mir diese seltsame Geschichte keine Ruhe. Ich sah immer noch den Menschen, der Milligan war, vor mir in seinem Arbeitszimmer in seinem großen, teuren Heim sitzen, während er sie mir erzählte. Er verdankte dieses Haus seinem untrüglichen Sinn für gute Geschäfte; aus dem Vermögen, das er sich erworben hatte, waren die guten Mahlzeiten und die Zigarren bezahlt worden, die wir beide genossen hatten. Aber seine Erinnerung setzte mit dem Augenblick aus, in dem er das Boot betreten hatte. Er selbst, seine Persönlichkeit, war erst wieder zu sich gekommen, war erst wieder aufgelebt, als er zu einem wohlhabenden Mann geworden war, der seit Jahren in China lebte. Diese große Lücke, die Jahre umfaßte, blieb.

In meiner Erinnerung hatte ich alle Einzelheiten seiner Geschichte parat; in meinem Notizbuch hatte ich die Adresse von Frau Bostock parat. Ich richtete ein Stoßgebet an den Himmel, daß sie immer noch lebte - trotz ihres Alters und von zehn weiteren englischen Wintern gebeugt.

Ich war mit "Milligan" übereingekommen, ihm ein Telegramm zu senden, sobald ich die Angelegenheit geklärt hatte; wir hatten uns bereits auf den genauen Wortlaut geeinigt: "Zwei Gestalten im Boot" oder "Eine Gestalt im Boot." Er hatte mich gebeten, das so zu formulieren. Ich hatte Glück: Frau Bostock weilte noch unter den Lebenden; die Zimmerflucht war zurzeit nicht vermietet; ich sah sie mir an - und ich entdeckte das Bild.

Bevor ich Frau Bostock meine Aufwartung machte, stattete ich dem Zeitungslesesaal des Britschen Museums einen Besuch ab. Das "Verschwinden des James Milligan" war für jedermann nachzulesen. Wie es schien, hatten Millionen damals darüber gelesen. Ganze Zeitungsspalten waren der Angelegenheit gewidmet worden; ein Dutzend falscher Fährten führten zu nichts; natürlich war ein Verbrechen dahinter vermutet worden. Er war und blieb verschwunden. Wenn es je einen Fall von "spurlosem Verschwinden" gab, dann traf das auf ihn zu.

In dem dürftigen Vorzimmer erlebte ich den wohl aufreibendsten Schock meines ganzen Lebens. Ich blickte mich einschätzend im Zimmer um, ganz wie jemand, der auf der Suche nach einer Wohnung ist. Hinter mir stand Frau Bostock, die Arme verschränkt, und begutachtete mich ihrerseits, so wie sie vor zehn Jahren ihren früheren Mieter eingeschätzt hatte. Wahrscheinlich wirkte ich begüteter als er damals; jedenfalls war sie überaus höflich und zuvorkommend. Ich kann nicht sagen, warum mich ein leichtes Zittern überlief, aber meine Selbstbeherrschung ließ etwas zu wünschen übrig und ich hatte meine Stimme nicht völlig unter Kontrolle, als ich ganz gezielt das Bild erwähnte, das über dem Kamin hing.

"Mein Mann hat das aus Hongkong mitgebracht," hörte ich sie sagen.

Mein Atem ging etwas heftiger, und ich mußte kurz innehalten, bevor ich fortfuhr. Meine Stimme war etwas heiserer geworden.

"Ich besitze übrigens eine kleine Sammlung von chinesischen Bildern," bemerkte ich beiläufig. "Sie würden mir das hier nicht zufällig verkaufen wollen?"

"Ach, das haben schon viele kaufen wollen," bemerkte sie dreist, in der Hoffnung, den Preis hochzutreiben.

Ich nannte eine Summe von fünf Pfund. Ich erwähnte auch noch eine weitere Zahl - die eine Gestalt, die im Boot zu sehen war.

"Der ganze Reiz eines solchen Bildes," erläuterte ich ihr in dem gelassensten Tonfall, den ich mir abringen konnte, "liegt in solcher Sparsamkeit. Die Künstler im alten China haben hier auf äußerste Sparsamkeit geachtet und ihre Bilder nie überladen. Wenn etwa auf diesem Bild - " - ich trat näher and das Bild heran, in der Hoffnung, daß sie ebenfalls näherkommen würde, und fuhr fort: " -statt einer Person zwei zu sehen wären, dann würde der Wert eines solchen Bildes natürlich geringer ausfallen."

Frau Bostock war neben mich getreten. Ich hatte ihre Habgier geweckt; jetzt prüfte ich ihre Ehrlichkeit. Wir standen jetzt beide dicht vor dem Bild und betrachteten es genau.

Sie hatte schwer Luft geholt und war am ganzen Leib zusammengezuckt, als ich die Summe von fünf Pfund genannt hatte. Jetzt, so dicht vor dem Bild, das sie an mich zu verkaufen hoffte, versagte ihr die Stimme. Nur ganz kurz; dann entrang sich ihr ein Laut, der als Aufschrei gemeint war, aber nur zu einem Ächzen wurden, als sie nach Luft rang. Der Mund klappte ihr auf; die Augen traten ihr fast aus dem Kopf. Sie schwankte, gewann das Gleichgewicht wieder, indem sie sich an meinem Arm festhielt und näherte sich dem Kamin noch mehr und drängte sich mit Kopf und Schultern so weit nahe an das Bild, wie es ging. Sie starrte mit ihren schwachen Augen darauf. Sie war kreidebleich geworden.

"Das sind zwei!" flüsterte sie mit Entsetzen in der Stimme. "Zwei, um Gotteswillen! Und der andere, das ist ER!"

Ich machte mich bereit, sie aufzufangen. Es hätte mich nicht überrascht, wennn sie ohnmächtig geworden wäre. Mir war selbst danach zumute. Sie schwankte und wandte mir dann ihr Gesicht zu, in dem das Entsetzen zu lesen war.

"Mr. Milligan!" schrie sie laut; wieder bei voller Stimme. "Das ist Mr. Milligan! DA hat er also die ganze Zeit gesteckt! Und das ist mir nie aufgefallen!"

Dann schwanden ihr die Sinne.

Die zweite Gestalt saß dem Zimmer zugewandt, denn das Boot wurde jetzt mit einem der Ruder vorwärtsgestakt, nicht gerudert. Die Gesichtszüge waren unverkennbar ... Eine halbe Stunde später schickte ich ein Telegramm nach Peking: "Zwei Gestalten im Boot."

* * *

Die eigentliche Wendung der Geschichte kam aber erst drei Tage später. Ich hatte das Bild in meine Wohnung bringen lassen und einige Experten eingeladen, um es in Augenschein zu nehmen: einen Chemiker, einen Kunsthändler mit langer Berufserfahrung und jemanden, der sich mit übernatürlichen Phänomenen auskannte. Als ich mit einiger Verspätung nach Hause zurückkehrte, waren sie bereits eingetroffen.

Das Bild lag in meinem Schlafzimmer. Ich hatte es selbst schon genau untersucht - vor allem Milligans Gestalt und sein Gesicht - während es mich schauderte und sich mir die Haare zu Berge standen. Meine Gäste warteten im Wohnzimmer, hatte mir der Portier gesagt und mir ein Telegramm in die Hand gedrückt, bevor ich zum Aufzug geeilt war. Meine Bekannten kannten einander schon, und nachdem ich mich für mein Zuspätkommen entschuldigt hatte, holte ich das Bild herbei und legte es auf einem Beistelltischchen ab. Ich wollte erst ihre Meinung hören, bevor ihnen das Geheimnis des Bilde verriet; mit dem Spiritisten wollte ich mich unterhalten, nachdem die beiden anderen gegangen waren. Ich legte das Bild vor ihnen ab und sah ihnen über die Schulter.

Auf dem Bild war nur eine Gestalt zu sehen: der Chinese. Er saß allein in seinem kleinen Kahn. Er ruderte; er stakte nicht. Er hatte den Rücken dem Betrachter zugewandt.

Der Kunstexperte taxierte den Wert des Bilds auf vielleicht einen Shilling; der Chemiker sagte nichts; auch ich sagte nichts, aber der Spiritist fuhr herum und beklagte sich, daß ich ihm wehtun würde. Wie ich festellen mußte, hatte ich mich instinktiv in die nächste Schulter verkrallt, und das war die seine gewesen. Als die beiden anderen gingen, verließ auch er die Wohnung.

Als ich wieder allein war, fiel mir das Telegramm ein. Ich riß es auf, mehr, um mich abzulenken als aus Interesse für den Inhalt. Es war ein Kabel aus Peking, aufgegeben von einem gemeinsamen Bekannten von Milligan und mir: "Milligan gestern an Herzschlag gestorben."

* * *

Von den Autoren, die sich im "Goldenen Zeitalter der Gespenstergeschichte, " dem "golden age of the ghost story" in der englischsprachigen Literatur zwischen den späten 1880erJahren und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs einen Namen in diesem Metier gemacht haben, dürfte Algernon Blackwood (1869-1951) der Verfasser mit dem umfassendsten Oeuvre zum Thema sein. Mike Ashley listet in seinem maßgeblichen Werksüberblick (Algernon Blackwood: A Bio-Bibliography, Greenwood Press, 1987) allein 219 kürzere Erzählungen auf, von denen die meisten ins Gebiet des Übernatürlichen, der Literatur des Schreckens fallen - nicht eingezählt die Texte, die seither noch in den Jahrgängen der Zeitschriften und Magazine jener Jahre aufgespürt worden sind und die Ashley 2015 in dem Band "The Face of the Earth and Other Imaginings" (Stark Houe Press, 2015) gebündelt hat. Blackwood hat einen großen Teil seiner Kurztexte in einem guten Dutzend Erzählbände zwischen "The Empty House and Other Ghost Stories" (1906) und "Shocks" (1935) in Buchform veröffentlicht. Seitdem sind sie immer wieder in wechselnden Zusammenstellungen aufgelegt worden; bei uns zuerst an Anfang der 1970er Jahre in der von Kalju Kirde (1923-2008) betreuten "Bibliothek der Hauses Usher" im Insel Verlag. Das runde Dutzend Romane, das Blackwood zudem verfaßt hat, ist neben diesen Erzählungen ziemlich ins Hintertreffen gekommen. Das ist bei diesem Genre nicht verwunderlich - und besonders nicht, wenn man sich vor Augen führt, welches die zentralen Themen und Darstellungsweisen sind, deren sich Blackwood bedient.

S. T. Joshi, einer der maßgeblichen Kenner des Genres und insbesondere des Werkes von H. P. Lovecraft, hat in seinem ersten kritischen Werk über dieses Thema, "The Weird Tale" (1990, University of Texas Press), das sich den Erzählungen von Lovecraft, Arthur Machen,Lord Dunsany, Blackwood und M. R. James widmet, angemerkt, daß von all diesen Autoren nur James mit seinen "antiquarischen Spukgeschichten" auf das bloße Erschrecken des Lesers, den Grusel, die Bettdecke über dem Kopf abzielt, wenn ihm der Boden der Wirklichkeit unter den Füßen wegggezogen wird. Bei Lovecraft dienen die "alten Götter," die tentakelbesetzten Monstrositäten der Illustration eines bedrohlichen, dem Menschen feindlich gegenüberstehenden Kosmos, dem der Mensch völlig hilflos ausgeliefert ist (man mag die Darstellungsmittel des "alten Gentlemans aus Provindence" lächerlich und hysterisch-überdreht finden; aber auf seine Weise ist Lovecraft ein Vertreter eines durch und durch pessimistischen Existentialismus). Arthur Machen ging es darum, die geheimnisvollen, tiefen geschichtlichen "Schwingungen" anklingen zu lassen, die der Boden Englands seit vorgeschichtlichen Zeiten aufgenommen hatte - mit der Gefahr, daß die alten gefürchteten dämonischen Mächte von denen, die sie beschwören oder ihren Spuren folgen, wieder Besitz ergreifen können. Und das zentrale Thema Blackwoods ist eine ekstatisch aufgeladene Naturmysik, eine Allbelebtheit, die dem Einzelnen, wenn er in ihren Bann gerät, dafür empfindlich ist, gefangennehmen und überwältigen kann. (Auch Dunsany ging es in seinen frühen Texten um die Evokation eines ort- und zeitlosen Raums, in dem Legenden spielen, die wie verlorene Traumvisionen aufgeladen sind: wie Erinnerungen aus einer anderen Welt - auch wenn die Traumbegegnung für den Träumer tödlich enden kann.)

Diese schwebende Spannung, diese mehr angedeutete und gefühlte Begegnung mit dem Übernatürlichen, dem sowohl Gefürchteten wie auch heimlich Ersehnten widerspricht der Dynamik, wie sie ein Text von Romanlänge entwickeln muß, um als Romantext den Leser gefangenzunehmen. Die Ablenkung, die sich aus dem Schürzen der Handlungsfäden, dem Herbeiführen und dem Auflösen der dramatischen Konstellation ergibt, reißt den Leser aus diesem Strudel und macht einen neuen Anlauf, einen neuen Auftritt mit Varianten, nötig. Das wohl berühmteste Beispiel der "modernen Schauerliteratur" illustriert dies gut: Bram Stokers "Dracula, or The Un-Dead" von 1897. Nach den ersten drei Kapiteln, in der Jonathan Harker auf dem Schloß des Grafen in Transsylvanien in einem haltlosen Albtraum versinkt, gewinnt das Buch nach der Überblendungs in englische Whitby nie wieder den überwältigenden Sog dieses Auftakts - und die abschließende Verfolgungsjagd der Musketiere 2.0 unter Führung von Dr. Van Helsing dem enteilenden Nosferatu über den Balkan hinterdrein könnte auch einem flüchtenden Bankräuber gelten. Das soll nicht heißen, daß es nicht erfolgreiche Romane gäbe, denen es gelingt, diese Stimmung des Unerhörten, Geheimnisvoll-Lockenden wie ins Mark Erschreckenden (Theologen sprechen hier vom "Mysterium tremendum") von Anfang bis Ende aufrechtzuerhalten. Aber sie bilden eine Klasse für sich - etwa Alfred Kubins "Die andere Seite" (1909), David Lindsays "A Voyage to Arcturus" (1920) und Shirley Jacksons "The Haunting of Hill House" (1960). Und es ist kein Zufall, daß der Leser bei ihnen das Gefühl hat, hier stünde er kurz davor, in die Gesetzmäßigkeiten einer erschreckenden, nicht für den Menschen geschaffenen Welt beizuwohnen, deren Licht ihn zu Asche verbrennen könnte, wenn er ihr unvorbereitet ausgesetzt würde.

Darin liegt auch der Grund, warum die eindrücklichsten Texte Blackwoods, deren Ziel die Beschwörung dieses Übergangs, dieser Tuchfühlung mit der "Welt hinter dem Schleier" ist, die Form längerer Erzählungen annehmen (im Englischen spricht man von "novella"): eine Länge zwischen 70 und 100 Seiten: lang genug, um eine Stimmung und eine Kulisse zu schildern und dem Leser eindrücklich vor Augen zu stellen, lang genug, um ihn in die Psyche und die seelische Verfaßtheit des Protagonsten eintauchen zu lassen, dem diese Begegnung bevorsteht - aber nicht zu lang, um durch dramatische Volten den Leser aus diesem Wellengang der Primären, Elementaren herauszureißen. Dieses Verfahren zeigt sich vor allem an Blackwoods zurecht berühmtester Erzählung, "The Willows"/"Die Weiden", der längsten Erzählung in Backwoods zweiter Sammlung von Erzählungen, "The Listener" (1907), in dem sich die einsame Insel im Oberlauf der Donau, auf der die beiden englischen Sommerfrischler, die per Paddelboot eine Ferientour den Strom hinab unternehmen, ihr Zelt für die Nacht aufgeschlagen haben, zu Zeugen werden, wie sich im Lauf der nacht, ganz sacht und immer lähmender, die Zeichen mehren, daß dieser Ort im Bann urzeitlicher, dämonischer Kräfte steht. Blackwood benutzt an keiner Stelle grelle Schockeffekte, sondern läßt das Entsetzen und das Bewußtsein seiner Wanderer, diesen Mächten schutzlos preisgegeben zu sein, im Leser selbst anwachsen. Und die dramatische Volte ereignet sich (ich bitte an dieser Stelle Leser, die die Pointe nicht verraten haben möchten, darum, den nächsten Satz zu übergehen), als im Erzähler der Verdacht keimt, daß ihr atemloses Lauschen, ihre Konzentration auf das Namenlose, daß da draußen in der Dunkelheit immer konkrete Gestalt gewinnt und ihr Denken lähmt und mit seiner Gegenwart ausfüllt dieser dämonischen Macht erst ermöglicht hat, sich zu manifestieren. Der Leser, der sich in den zwei Stunden zuvor in genau dieser Lage gefunden hat, dürfte dadurch nicht unbedingt beruhigt werden. (Ich lasse an dieser Stelle unabgemacht, ob es sich hier um eine genuines metaliterarisches Verfahren handelt, um ein Durchbrechen der "Vierten Wand"´.)

Die neueste deutsche Ausgabe des Textes, 2007 bei Hahn & Hahn erschienen, enthält auch die Übersetzung der langen Schilderung, die Blackwood über die - tatsächlich im Sommer 1900 unternommene - Donaufahrt mit seinem Freund Wilfred Wilson (1875-1957) verfaßt hat und die unter dem Titel "Down the Danube in a Canadian Canoe" in den September- und Oktoberausgaben 1901 von "Macmillan's Magazine" erschien, die ihm die Inspiration und die Szenerie für seine Erzählung lieferte.

"The Man Who Was Milligan" erschien zu erst im November 1923 in "Pearson's Magazine" und im November 1924 in Buchform im Band "Tongues of Fire and Other Stories" im Londoner Verlag Herbert Jenkins; die amerikanische Buchausgabe folgte in Februar 1925 im New Yorker Verlag E. P. Dutton.

* * *

Anmerkungen:

"...weil sie das "H" in "Hong" so sorgfältig betonte" - In Blackwoods Originaltext befleißigt sich Mrs. Bostock des Cockney, in dem die Aussprache des "H" unterbleibt. ("Me 'usband brought it 'ome from China. From Hong-Kong, I should say." And the way she aspirated the "H" in Hong made Milligan smile.") Die Wiedergabe solcher Dialekt- bzw. Soziolekt-Einfärbungen stellt den Übersetzer vor ein praktisch unlösbares Problem. Entweder erfindet er Verschleifungen und Aussprachen, die sich gekünstelt anhören und den Lesefluß zerstören - oder diese Dimension, die im Original dem Text eine eigene Note verleiht, entfällt ganz. Gustav Meyrink hat sich damit behilfen, daß er in den sechs Romanen von Charles Dickens, die er zwischen 1909 und 1914 für den Münchner Verlag Langen Müller ins Deutsche übertragen hat, anstelle des Cockney die Wiener Mundart verwendet hat.



(Lafcadio Hearn 1891 in traditioneller japanischer Kleidung)

Lafcadio Hearn: Hearn, 1850 auf der griechischen Insel Lefkas als Sohn eines irischen Militärarztes und einer griechischen Mutter geboren und mit 54 Jahren an einem Herzinfarkt in Tokio gestorben, lernte in England das Druckereihandwerk und wanderte 1877 nach New Orleans aus, wo er als Journalist und Schriftsteller arbeitete. Berühmt wurde er nicht durch seine Schilderungen des gemischtrassigen kreolischen Milieus dort und in der westindischen Inselwelt, sondern durch seine Schilderungen japanischer Milieus und die Nacherzählungen japanischer Märchen, Gespenstergeschichten und Legenden, nachdem er 1890 als Zeitungskorrespondent ins Land gekommen war und ein Jahr später durch die Vermittlung von Basil Hall Chamberlain eine Stelle als Englischlehrer erhalten hatte. 1896 erwarb er die japanische Staatsbürgerschaft (wobei er den Namen Kuizumo Yakumi annahm), nachdem er 1891 eine Japanerin geheiratet hatte. Spätere Kritiker haben ihm eine verfälschende "Exotisierung" japanischer Zustände vorgeworfen, aber für die Lesergeneration zwischen 1895 und dem Ende des ersten Weltkriegs stellten die Bücher Hearns die erste Begegnung mit einem "unverfälschten" Japan für der Öffnung zum Westen dar. Hearn zählte ab 1891 zu den rund 2000 御雇い外国人 / O-yatoi Gaikokujin, den "ausländischen Regierungsberatern," die zumeist im Sold der japanischen Regierung stehend, als Wissenschaftler und Ingenieure westliches Wissen und technisches Know-How vermittelten, bei der Einrichtung von Hochschulen und Fachhochschulen halfen oder Fremdsprachenunterricht in Englsch oder Französisch erteilten. Auch nach dem Ende des Systems 1899 wurden vile von ihnen von den Universitäten oder privaten Bildungseinrichtungen weiter in dieser Funktion beschäftigt. Viele nahmhafte Gaitokujin kamen aus dem deutschen Reich, so etwa der Agronom Oskar Low, der Veterinär Ludwig Wilhelm Janson oder der Jurist Georg Michaelis, der später von Juni bis November 1917 der erste Reichskanzler des deutschen Reichs wurde, der nicht aus dem Adel stammte, nachdem die Oberste Heeresleitung den Rücktritt von Kanzler Bethmann-Hollweg erzwungen hatte.

Ein halbes Jahrhundert Rezeption von japanischer Kultur und Sujets - von den Filmen Akira Kurosawas und Yasujiro Ozus (ganz zu schweigen von den Trickfilmen des Studio Ghibli), von den Büchern von Kawabata und Murakami (sowohl Haruki wie Ryo) - Yukio Mishima stellt hier einen besonderen Fall dar - über Mangas, J-Pop, Sushi und Zen haben im Westen für eine Vertrautheit mit den Besonderheiten der japanischen Kultur und ihren Gebräuchen gesorgt - wie tiefgehend sie ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber Japan ist uns nicht mehr unbekannt und unverständlich, nicht mehr das, was postmodern angefressene Kulturwissenschaftler als "das Andere" zu bezeichnen pflegen. Man sollte aber nicht vergessen, daß Japan um 1900 herum für westliche Beobachter genau dies darstellte: exotisch, bizarr, unverständlich; mit einer Tradition, die sublime Gebrauchskunst hervorgebracht hat (die Begeisterung für die Ukiyo-e-Farbholzschnitte von Hiroshige und Hokusai setzt im Westen in den 1870er Jahren ein) - aber zugleich rücksichtslos, und brutal: ein Rätsel, auf das man sich, von ein paar exotischen optischen Reizen abgesehen, besser nicht einläßt. Daß uns dieser erschreckte Blick aus heutiger Sicht selber das verkörpert, wovor er sich fürchtet, darin liegt eine tiefe Ironie. Die letzte Phase dieses Fremdelns fällt im Westen in die 1980er Jahre; und dort beschränkte sie sich schon auf die Furcht vor einer übermächtigen wirtschaftlichen Konkurrenz, der sich die "alte Welt" nicht gewachsen glaubte. Als Edith Cresson während ihrer kurzen Zeit als erster weiblicher Premierminister Frankreichs 1991 ihrer Ansicht Ausdruck verlieh, wir - also die Europäer - wollten wir zu seelenlosen Arbeitsrobotern werden die wie die Japaner, schadete sie damit ihrer eigenen Popularität dermaßen, daß Präsident Mitterand sie nach den schweren Wahlniederlagen der Parti socialiste bei den Lokalwahlen 1992 ablöste und durch Wirtschaftsminister Pierre Bérégovoy ersetzte. (Es steht zu erwarten, daß die westliche Haltung zu China, die heute noch oft Züge eine identischen Einstellung erkennen läßt - als "fremd, unverständlich und bedrohlich" empfunden, in den nächsten Jahrzehnten eine ähnliche Wandlung durchmachen wird; dieser Prozeß hat in den letzten 20 Jahren bereits erkennbar eingesetzt.)

Hearns erstes Buch, daß sich fernöstlichen Themen widmete, "Some Chinese Ghosts" (1887) umfaßt nun in der Tat ausschmückende Nacherzählungen von sechs chinesischen Erzählungen, die sich mit legendären Themen und Spukerscheinungen befassen, deren erste Übersetzungen ins Englische oder Französische sich in den Werken von Chinakennern wie dem französischen Botschafter P. Dabry de Thiersant oder dem Sinologen Gustave Schlegel finden. Freilich irrt sich Milligan (oder sein Schöpfer) in einem Punkt: die Geschichte, in der ein Boot aus einem gemalten Wandschirm in "die Wirklichkeit" hinaus fährt, trägt den Titel "The Story of Kwashin Koji" und spielt in den abgelegenen Bergen im Norden Japans; sie findet sich im Band "A Japanese Miscellany" (1901).



(Thomas Burke, 1886-1945)

"Er hatte natürlich Thomas Burke gelesen. In seinen Drehbüchern nannte er die Chinesen immer nur "die Gelben": in Blackwoods Original steht wie bei Burke "chinks." Bei Unterhaltungsautoren, die zwischen 1880 und 1940 mit reißerischen, exotischen Stoffen große Publikumserfolge und hohe Auflagen erzielten, findet man nicht selten den Fall, daß sich ihre Erfindungsgabe auch auf die eigene Biographie erstreckt, indem sich sich statt des wenig berauschenden Daseins als kleiner Beamter oder Bürohengst zum Süßwasserpiraten und Wüstenhelden stilisieren. Für Deutschland ist dies im Fall von Karl May allgemein bekannt; sein italienischer Zunftkollege Emilio Salgari, der Erfinder des malaiischen Piraten Sandokan, reklamierte für sich, mit solchen Haudegen auf Kaperfahrt gefahren zu sein, statt im Patentamt Akten geführt zu haben; Jean Ray kannte angeblich die Unterwelten von London bis New York besser als seine Westentasche anstatt nur die Stadtverwaltung im flämischen Gent, als er zwischen 1929 und 1935 mehr als 180 Abenteuer um den "okkulten Detektiv" Harry Dickson verfaßte, und Talbot Mundy wollte in den englischen Kolonien im Ostafrika die wildesten Abenteuer unter Schwarzen, Medizinmännern und Schatzsuchern erlebt haben, ehe er seine mystisch angehauchten Abenteuerromane verfaßte - obwohl er nur mehrfach wegen versuchten Betrügereien im Gefängnis gesessen hatte.

Und Thomas Burke (1886-1945), der mit seinem Erzählungsband "Limehouse Nights" als erster die Chinatown im Londoner East End auf die literarische Landkarte setzten, neigte gleichfalls dazu, nach dem Erfolg seines Erzählungsbandes "Limehouse Nights," der zuerst 1916 im Londoner Verlag Grant Richards erschienen war, in jedem Zeitungsinterview neue und wildere Geschichten aus seiner vorgeblichen Jugend im Londoner East End zu erzählen. Während die von chinesischen Zuwanderern dominierte Chinatown bis dahin unter dem "litrearischen Radar" verblieben war, tat sich in Burkes reißerischen Schilderungen dieses exotisch-armseligen Milieus ein Abgrund von Bandenkriegen, Opiumhöhlen, Prostitution und Aberglauben auf. Sax Rohmer hatte sich wenige Jahre zuvor als erster dieses Milieus bedient, als er im ersten Band seiner "Fu Manchu"-Reihe, "The Mysterious Dr. Fu-Manchu" (1913) den dämonischen "Napoleon des Verbrechens" zuerst auftreten ließ. Aber Rohmers Gestalt erhob niemals Anspruch auf Lebensähnlichkeit; es handelte sich stets um einem unverwüstlichen Superschurken, einen Nachfolger Dr. Moriartys und Zetigenossen von Fantômas - nicht um eine vorgeblich den wirklichen Verhältnissen entnommene Milieustudie.

Blackwood unterliegt natürlich einem kleinen zeitlichen Mißgriff: Milligans Londoner Existenz endet 1912 oder 1913; Burkes erste Texte zu "Limehouse" erschienen erst 1915; die von D. W. Griffith 1919 verfilmte erste Erzählung "The Chink and the Child" erschien im Oktober 1915 in der Illustrierten "Colour", im November folgten dort "Chinatown Vignettes."

U.E.

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