21. März 2021

Marguerite Yourcenar, "Wie Wang-Fô gerettet wurde" (1936)





Der alte Maler Wang-Fô und sein Schüler Ling waren schon seit langem auf den Straßen des Reiches der Han unterwegs. Sie kamen nur langsam voran, denn Wang-Fô hielt oft nachts inne, um die Sterne zu betrachten und am Tag, um dem Flug der Libellen zuzusehen. Sie führten nur wenig Gepäck bei sich, denn Wang-Fô liebte die Bilder der Dinge, aber nicht die Dinge selbst. Nichts auf der Welt schien es ihm wert, es zu besitzen, außer Pinseln, Farben, Tiegeln für Lack und Chinatusche und Rollen von Seide und Reispapier. Sie waren mittellos, denn Wang-Fô tauschte seine Bilder lieber gegen eine Portion Hirsebrei ein und verschmähte selbst Silbermünzen von geringem Wert. Sein Schüler Ling trug schwer an einem Sack, der prall mit Entwürfen gefüllt war; er krümmte den Rücken voller Ehrfurcht, als trüge er das Himmelsgewölbe auf dem Rücken, denn dieser Sack enthielt in Lings Augen schneebedeckte Berge, Frühlingsblumen und den Mond in einer Sommernacht.

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Ling war es nicht durch Geburt bestimmt worden, an der Seite eines alten Mannes, der den Tagesanbruch einfangen und der Abenddämmerung gebieten vermochte, über die Straßen des Reiches zu ziehen. Sein Vater war ein Geldwechsler gewesen; sein Mutter war das einzige Kind eines Jadehändlers, der sie verflucht hatte, weil sie kein Sohn war, aber ihr sein Vermögen hinterließ. Ling wuchs in einem Haushalt auf, dessen Wohlstand ihn vor den Unbillen des Schicksals bewahrte. Dieses behütete, abgeschirmte Dasein hatte seinen ängstlichen Charakter geprägt: er fürchtete sich vor Insekten, vor dem Donner, und vor den Gesichtern der Toten. Als er fünfzehn war, wählte sein Vater eine Braut für ihn aus und entschied sich für das schönste Mädchen, das er finden konnte; der Gedanke an das Glück, das er seinem Sohn damit bereitete, tröstete ihn über die Tatsache hinweg, daß er selbst das Alter erreicht hatte, in dem die größte nächtliche Freude ein gesegneter Schlaf ist. Lings Braut war schlank wie ein Schilfrohr, unschuldig wie ein Schluck Milch, süß wie Speichel und so salzig wie die Tränen. Nach der Hochzeit besaßen Lings Eltern den Anstand, das Zeitliche zu segnen, und er blieb zurück in ihrem in dunklem Rot gestrichenen Haus, zusammen mit mit seiner jungen Frau, die stets ein Lächeln trug, und einem Pflaumenbaum, der in jedem Frühjahr rosa Blüten trug. Ling liebte diese Frau mit ihrem sanften Herzen, wie man einen Spiegel liebt, der niemals beschlägt, oder einen Talisman, auf dessen Schutz immer Verlaß ist. Er verkehrte in den Teehäusern, um nicht als ungesellig zu gelten, und war in bescheidenem Maß freigiebig gegenüber den Akrobaten und Tänzerinnen.

Eines Nachts setzte sich in einer dieser Tavernen Wang-Fô zu ihm an den Tisch. Der alte Mann hatte getrunken, um sich in einen Zustand zu versetzen, in dem er den Rausch besser malen konnte; er hielt den Kopf zur Seite geneigt, als wollte er den Abstand zwischen seiner Hand und dem Weinbecher ganz genau erfassen. Der Reiswein hatte die Zunge des wortkargen Künstlers gelöst, und in dieser Nacht sprach Wang, als wenn die Stille eine Mauer wäre, die ihn umgab und die Worte Farben, mit denen er sie bedeckte. Durch ihn ging Ling die Schönheit der Gesichter der Trinker um sie herum auf, die hinter den Dunstschwaden, die von den heißen Getränken aufstiegen, verschwammen, die reichen Brauntöne der Gesichter, über die flackernd der Feuerschein zuckte, die hellen roten Weinflecke auf dem Tischtuch, die an verwelkte Blütenblätter erinnerten. Ein Windstoß stieß das Fenster auf; ein Regenschauer drang in den Schankraum. Wang-Fô beugte sich vor, um Ling auf die Schönheit des zuckenden Blitzstrahls hinzuweisen und Ling verlor, zu seinem Erstaunen, ein für alle Mal seine Angst vor dem Sturm.

Ling zahlte die Zeche des alten Mannes, und da Wang-Fô kein Geld und keine Bleibe hatte, so bot er ihm ein Nachtlager an. Sie brachen gemeinsam auf; Ling trug eine Laterne, deren Licht überraschende Blitze und Flammenschein in den Pfützen aufblitzen ließ. An jenem Abend bemerkte Ling überrascht, daß die Wände seines Häuses nicht rot getüncht waren, wie er immer geglaubt hatte, sondern in der Farbe einer verrottenden Orange. Im Innenhof zeigte Wang-Fô auf einen Strauch, an dem niemand zuvor etwas aufgefallen war, und verglich ihn mit einer jungen Frau, die sich die Haare trocknete. Als sie den Korridor betraten, blieb Wang-Fô stehen und verfolgte hingerissen dem zögerlichen, irrenden Vorwärtskommen einer Ameise, die einem Spalt in der Wand folgte, und Lings Furcht vor diesen kleinen Tierchen schwand. Ihm wurde klar, daß ihm Wang-Fô seine Seele zum Klingen gebracht und ihm eine neue Art, die Welt zu sehen, geschenkt hatte, und er wies dem alten Mann voller Ehrfurcht für die Nacht das Zimmer zu, in dem sein Vater und seine Mutter gestorben waren.

Schon viele Jahre hatte Wang-Fô davon geträumt, das Porträt einer Prinzessin aus alter Zeit zu malen, wie sie unter einer Weide auf einer Laute spielte. Keine Frau wirkte unwirklich genug, um ihm als Modell zu dienen, aber Ling konnte ihm dafür Modell sitzen - gerade weil er keine Frau war. Dann sprach Wang-Fô davon, daß er das Bild eines jungen Prinzen malen wollte, der sich uter einer großen Zeder im Bogenschießen übte. Kein junger Mann wirkte unirdisch genug dafür, aber Ling ließ seine eigene Frau unter dem Pflaumenbaum im Garten Modell stehen. Danach malte Wang-Fô sie, wie sie als Fee gekleidet in den Abendwolken schwebte, und die junge Frau weinte, denn das galt als ein Vorzeichen des Todes. Da Ling die Bilder, die Wang-Fô von ihr anfertigte, mehr schätzte als sie selbst, verwelkte ihr Gesciht wie eine Blume im sengenden Wind oder im Sommerregen. Eines Morgens fand man sie im Garten an einem Ast des Pflaumenbaums hängend; die Enden des Schals, mit dem sie sich erhängt hatte, hatten sich in ihrem Haar verfangen; sie wirkte noch schlanker als je zuvor und so rein wie die Schönheiten, die von den Dichtern der alten Zeiten besungen worden waren. Wang-Fô malte sie zum letzten Mal, denn er liebte den grünlichen Schimmer, der sich auf das Anlitz der Toten legt. Sein Schüler Ling zerstieß die Farben im Tiegel, und diese Arbeit erforderte so viel Aufmerksamkeit, daß er vergaß, Tränen zu vergießen.

Nach und nach verkaufte Ling seine Sklaven, seine kostbaren Jaden und die Fische aus seinem Gartenteich, um dem Meister ein paar Gläser von jener purpurfarbenen Tinte zu besorgen, die von weit aus dem Westen herbeigeschafft wird. Als es nichts mehr zu verkaufen gab, verließen sie es, und als Ling die Tür hinter sich schloß, schloß er auch mit seinem alten Leben ab. Wang-Fô war der Stadt überdrüssig, deren Gesichter für ihn kein Geheimnis von Schönheit oder Häßlichkeit mehr bargen, und der Meister und der Schüler machten sich auf den Weg über die Straßen des Reichs der Han.



Ihr Ruf eilte ihnen voraus: in den Dörfern, an den Toren der Festungen und unter den Vordächern der Tempel, wo die Pilgern des nachts Zuflucht suchten. Es hieß, daß Wang-Fô die Gabe hätte, seine Bilder zum Leben zu erwecken, wenn er den letzten Strich Farbe auf die Augen auftrug. Bauern kamen zu ihm und baten ihn um das Bild eines Wachhunds; die hohen Herren verlangten nach Bildern von Soldaten. Von den Mönchen wurde er als Weiser verehrt; beim gewöhnlichen Volk war er als Zauberer gefürchtet. Wang war über diese unterschiedlichen Haltungen entzückt: sie erlaubten ihm, die Gesichtsausdrücke der Menschen, die ihnen begegneten, zu studieren, in denen sich Verehrung, Angst und Dankbarkeit mischten.

Ling erbettelte ihr Essen, wachte über den Schlaf des Meisters und nutzte seine Phasen der Begeisterung, um sich die wunden Füße zu reiben. Wenn der Tag graute und der alte Mann noch schlief, hielt er zwischen den Schilfhalmen nach Motiven Ausschau. Wenn der Meister abends mutlos und niedergeschlagen seine Pinsel zu Boden warf, sammelte er sie auf. Wenn Wang traurig war und von seinem hohen Alter zu sprechen begann, setzte Ling ein Lächeln auf und zeigte auf den mächtigen Stamm einer alten Eiche; wenn Wang fröhlich war und alberne Reden führte, tat er so, als würde er aufmerksam zuhören.

Eines Abends erreichten sie bei Sonnenuntergang die kaiserliche Stadt, und Ling suchte ein Gasthaus, in dem Wang-Fô die Nacht verbringen konnte. Der alte Mann wickelte sich in ein paar Lumpen, und Ling legte sich neben ihn, um ihn zu wärmen, denn der Frühling war noch jung, und der Lehmboden war noch gefroren. Als der Morgen anbrach, dröhnte der Flur des Gasthofs vom Lärm schwerer Stiefel; das ängstliche Flüstern des Wirts war zu hören und Befehle, die in barschem Ton gebrüllt wurden. Ling schauderte es; er hatte am Vortag für seinen Meister einen Reiskuchen gestohlen. Er hatte keinen Zweifel daran, daß er jetzt verhaftet werden würde; er fragte sich, wer nun Wang-Fô am nächsten Tag helfen würde, die Furt des nächsten Flusses zu überqueren.

Die Soldaten, die das Zimmer betraten, hielten Laternen in den Händen; das Licht, das durch die bunten Papierrauten fiel, warf roten und blauen Schein auf ihre ledernen Helme. Auf ihren Schultern zitterte die gespannte Sehne eines Bogens, und die Furchterregendsten begannen ohne Grund, zu brüllen. Einer von ihnen packte Wang-Fô im Nacken, der nicht umhin konnte, festzustellen, daß die Farbe seiner Ärmel nicht mit der Farbe seines Mantel harmonierte.

Auf seinen Schüler gestützt, folgte Wang-Fô den Soldaten und stolperte auf dem holprigen Pflaster. Die Menschen, die ihnen begegneten, lachten über die beiden Verbrecher, die ohne Zweifel bald den Kopf verlieren würden. Auf seine Fragen erhielt Wang nur höhnische Grimassen zur Antwort. Seine gefesselten Hände schmerzten, und Ling blickte seinen Meister verzweifelt mit einem Lächeln an, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen.

Sie gelangten zu den Toren des kaiserlichen Palasts, dessen tiefblaue Mauern in hellen Licht des Tages wirkten, als würde sich hier die Abenddämmerung selbst erheben. Die Soldaten führten Wang-Fô durch unzählige Säle, rechteckige wie runde, deren Formen die Jahreszeiten, die Hmmelsrichtungen, das männliche und das weibliche Prinzip, das ewige Leben und die Vorrechte des Herrschers darstellten. Die Türen gaben harmonische Klänge von sich, wenn sie sich in ihren Scharnieren drehten; sie reihten so sich aneinander, daß man beim Durchschreiten des Palastes von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die ganze Tonleiter durchlief. Das Ganze war darauf angelegt, den Eindruck einer übermenschlichen Macht und Erhabenheit zu erzeugen; und man spürte, daß selbst die geringsten Anweisungen, die hier ergingen, unumstößlich und furchtbar waren wie die Weisheit der Ahnen. Schließlich wurde die Stille so tief, daß selbst ein Gefolterter es nicht gewagt hätte, sie durch seine Schreie zu stören. Ein Eunuch hob einen Vorhang; die Soldaten begannen zu zittern, als ob sie lauter Frauen wären, und die kleine Gruppe betrat den Saal, in dem der Sohn des Himmels thronte.

Es war ein Saal ohne Wände; die Decke wurde von Säulen aus blauem Stein getragen. Jenseits der marmornen Pfeilerwalds stand ein Garten in voller Blüte; und jede Blume in seinen Beeten gehörte zu einer seltenen Art, die von jenseits des Meeres stammte. Aber keine von ihnen verströmte einen Duft, um den Himmelsdrachen nicht durch Wohlgerüche abzulenken. Aus Rücksicht auf die Stille, in der seine Gedanken reiften, war durften keine Vögel durch den Garten fliegen; sogar die Bienen waren vertrieben worden. Eine hohe Mauer trennte den Garten vom Rest der Welt, so daß der Wind, der über die Kadaver verendeter Hunde und die Leichen auf den Schlachtfeldern hinweht, es nicht wagen würde, den Ärmel des Kaisers zu streifen.

Der Herr des Himmels thronte auf einem Thron aus Jade, und seine Hände waren runzlig wie die eines alten Mannes, obwohl er kaum älter als zwanzig Jahre sein konnte. Sein Gewand war blau, um den Winter darzustellen, und grün, um an den Frühling zu erinnern. Sein Gesicht war schön, aber seine Züge waren teilnahmslos, wie ein Spiegel, der nach oben gerichtet ist und in dem sich nur die Sterne und der teilnahmslose Himmel wiederspiegeln. Zur seiner Rechten saß sein Minister der Vollkommenen Freuden, und zu seiner Linken sein Ratgeber der Gerechten Qualen. Da seine Höflinge, die am Fuß der Säulen aufgereiht standen, die Ohren gespitzt hatten, um jedes Wort von seinen Lippen zu erhaschen, hatte er es sich angewöhnt, stets mit leiser Stimme zu sprechen.



"Erhabener Himmelsdrache," sagte Wang-Fô, der sich niedergeworfen hatte, " ich bin alt; ich bin arm, ich bin schwach. Ihr seid wie der Sommer; und ich bin wie der Winter. Euch stehen zehntausend Leben bevor; mir bleibt nur dieses eine; und das wird bald zu Ende gehen. Was habe ich Euch angetan? Man hat mir die Hände gebunden, die Euch nie ein Leid angetan haben."

"Du fragst mich, was du mir angetan hast, alter Wang-Fô?" fragte der Kaiser.

Seine Stimme war so wohlklingend, daß den Zuhörern zum Weinen zumute war. Er hob seine rechte Hand, und wo sie sich in der Jade den Fußbodens spiegelte, wirkte sie wie eine Wasserpflanze, die sich in der Strömung tief unten im Meer wiegt, und Wang-Fô, der über die Länge dieser schmalen Finger erstaunt war, versuchte sich zu erinnern, ob er jemals ein Bild des Kaisers oder eines seiner Ahnen gemalt hatte, das so mißraten war, daß er deshalb den Tod verdiente. Aber das schien ihm unwahrscheinlich, denn Wang-Fô sich in seinem Leen wenig mit dem Hof abgegeben, sondern den Katen der Bauern den Vorzug gegeben, den Quartieren der Freudenmädchen und den Kaschemmen in den Häfen, wo sich die Lastträger prügelten.

"Du fragst mich, was du mir angetan hast, alter Wang-Fô?" wiederholte der Kaiser und neigte den Kopf auf dem dünnen Hals dem alten Mann zu, der ihm zuhörte. "Das werde ich dir sagen. Aber wie bei einem Gift, das seine Wirkung erst entfalten kann, wenn es durch eine der neun Körperöffnungen in unseren Körper gelangt ist, muß ich, um dir deine Schuld vor Augen zu führen, mit dir einen Gang über die Flure meiner Erinnerungen unternehmen und dir mein ganzes Leben erzählen. Mein Vater hatte in den geheimsten Gemächern des Palastes eine Sammlung von deinen Bildern zusammengetragen, denn er war der Ansicht, daß diese Bilder den Blicken der gewöhnlichen Sterblichen entzogen sein müßten, denen sie sich nicht entziehen konnten. In diesen Räumen bin ich aufgewachsen, alter Wang-Fô, in der Einsamkeit, die um mich herum geschaffen worden war, damit ich in ihr heranwachsen sollte. Um meine Seelenruhe nicht mit den Sorgen und Unbeständigkeiten des menschlichen Lebens zu belasten, wurde alles, was meine künftigen Untertanen umtrieb, von mir ferngehalten. Niemandem war er verstattet, die Schwelle dieser Gemächer zu überschreiten, aus Furcht, daß der Schatten jenes Mannes oder jener Frau auf mich fallen könnte. Die wenigen betagten Dienstboten, die mir erlaubt waren, ließen sich so wenig wie möglich blicken; die Stunden drehten sich endlos im Kreis; die Farben deiner Bilder leuchteten am Morgen auf und verblassten mit der Abenddämmerung. Wenn ich nachts keinen Schlaf finden konnte, betrachtete ich sie. Und beinahe zehn Jahre lang habe ich sie angeschaut, Nacht für Nacht. am Tag saß ich auf einem Teppich, von dessen Muster ich jeden Knoten kannte, stützte die leeren Hände auf die Knie unter den gelben Seidengewändern und träumte von den Feuden, die die Zukunft für mich bereithielt. Ich stellte mir die Welt vor, mit dem Reich der Han in ihrer Mitte, die genau wie die Ebene meiner Handfläche von den Linien der Fünf Flüsse zerschnitten wurde. Und das Land umgeben vom Meer, in dem die Ungeheuer geboren werden und noch weiter dahinter die Berge, die den Himmel tragen. Und um mir dabei zu helfen, mir dies alles vorzustellen, haben mir deine Bilder geholfen. Deinetwegen habe ich geglaubt, daß das Meer so aussieht wie die weiten Wasserflächen auf deinen Bildern, so blau, daß ein Stein, der hineinfällt, sich in einen blauen Edelstein verwandelt, daß sich die Frauen wie Blumen öffnen und nachts schließen, wie die Wesen, wie vom Wind über die Wege in deinen Gärten geweht werden, und daß die jungen Krieger mit den schlanken Hüften, die in ihren Kastellen die Grenzen bewachen, selber Pfeilen gleichen, die einem das Herz durchbohren können. Als ich sechzehn wurde, sah ich, die die Türen, die mich von der Welt ferngehalten hatten, wieder geöffnet wurden; ich stief auf die Dachterrasse des Palastes, um die Wolkan anzuschauen - aber sie waren weniger schön als die in deinen Dämmerungen. Ich ließ eine Sänfte bereitstellen; auf den schlechten Straßen wurde ich durchgeschüttelt. Ich hatte nichts von dem Staub und dem Schlamm, der sie bedeckte, geahnt. Ich bereiste die Provinzen des Reiches und fand nirgends deine Gärten voller Frauen wie Glühwürmchen; Frauen, deren Leib selbst ein herrlicher Garten ist. Die Kiesel an den Stränden haben mir das Meer vergällt; das Blut der Gefolterten hat nicht das Rot von Granatäpfel wie auf deinen Bildern. Das Ungeziefer in der Dörfern ließ keine Freude an der Schönheit der Reisfelder aufkommen; das Fleisch der lebenden Frauen stößt mich ab wie das tote Fleisch, das an den Haken der Metzger hängt, und das vulgäre Lachen der Soldaten schnürt mir das Herz ab. Du hast mich belogen, Wang-Fô, alter Schwindler: die Welt ist nichts weiter als ein Haufen wirrer Kleckse, die ein unfähiger Künstler in die Leere verspritzt hat, und die unsere Tränen ohne Unterlaß verwischen. Das Reich der Han ist nicht das schönste Reich der Welt, und ich bin kein Kaiser. Das einzige Reich, das es wert ist, regiert zu werden, ist das, welches du betreten hast, auf dem Weg der tausend Formen und der zehntausend Farben. Nur du allein herrschst über ein Land, in dem Frieden herrscht, auf dessen Bergen der Schnee nicht schmilzt, und auf dessen Wiesen die Narzissen niemals welken. Und das ist der Grund, Wang-Fô, warum ich darüber nachgedacht habe, welche Strafe für dich angemessen ist, der du daran Schuld trägst, daß mich alles, was ich besitze, abstößt, und mich nach allem verzehre, was ich niemals besitzen kann. Und um dich in den einzigen Kerker zu sperren, aus dem du niemals entkommen kannst, habe ich mich entschlossen, dir die Augen ausbrennen zu lassen, denn deine Augen, Wang-Fô, sind die verzauberten Pforten, die dir den Weg in dein Reich öffnen. Und da deine Hände die Wege mit ihren zehn Gabelungen sind, die ins Herz deines Reiches führen, habe ich beschlossen, dir die Hände abhacken zu lassen. Verstehst du mich, alter Wang-Fô?"

Als er dieses Urteil hörte, zog derSchüler Ling ein abgebrochenes Messer aus seinem Gürtel hervor und stürzte sich auf den Kaiser. Zwei Wachen packten ihn. Der Sohn des Himmels lächelte und fuhr seufzend fort:

"Und ich hasse dich aus dem Grund, alter Wang-Fô: weil die Leute dich lieben. Tötet diesen Hund!"

Ling machte einen Satz nach vorn, um zu vermeiden, daß sein Blut das Gewand seines Meister bespritzen würde. Einer der Soldaten hob sein Schwert, und sein Kopf fiel zu Boden, wie die Blüte einer geköpften Blume. Die Dienstboten schafften seine Leiche fort, und Wang-Fô mußte trotz seiner Verzweiflung den schönen scharlachroten Fleck bewundern, den das Blut seines Schülers auf dem grünen Steinboden hinterlassen hatte.

Der Kaiser machte ein Zeichen, und zwei Eunuchen traten vor und wischten Wang-Fô die Augen trocken.

"Hör gut zu, alter Wang-Fô," sagte der Kaiser, "und trockne deine Tränen. Jetzt ist nicht die rechte Zeit zum Weinen. Deine Augen müssen klar und deutlich sehen, um das wenige Licht zu nutzen, das ihnen noch vergönnt sein wird. Ich wünsche deinen Tod nicht nur auf Bosheit; und wenn ich dich leiden sehen will, so geschieht das nicht allein aus Grausamkeit. Ich habe andere Pläne, alter Wang-Fô. In meiner Sammlung deiner Werke befindet sich ein wunderbares Gemälde, auf dem zu sehen ist, wie sich ein Gebirge in den Wassern eines Flusses spiegelt, der sich ins Meer ergießt, unendlich verkleinert zwar, aber mit einer Klarheit, die die Darstellung der Berge selbst übertrifft, wie Dinge, die sich in der Oberfläche eines Glaskugel spiegeln. Aber dieses Bild ist unvollendet, unddein Meisterwerk ist vorerst nur eine Skizze. Vielleicht hat dich ein Vogel abgelenkt, als du es in einem einsamen Tal gemalt hast, oder der Kind, das dem Vogel nachgelaufen ist. Und der Schnabel der Vogels oder die Backen des Kindes haben dich vergessen lassen, den blauen Wellenkämmen die Augenlider der Schaumkronen aufzusetzen. Und du hast vergessen, dem Mantel aus Gischt, in den das Meer die Uferfelsen hüllt, die Fransen aus Algen anzufügen. Wang-Fô, ich wünsche, daß du die letzten Stunden, die dir als Sehender verbleiben, damit verbringst, dieses Gemälde zu vollenden, und ihm die Geheimnisse anzuvertrauen, die du im Lauf deines langen Lebens erlernt hast. Zweifellos werden dir deine Hände, die du so bald verlieren wirst, auf dem Seidenstoff zittern, und durch die Schraffuren, die aus dieser Qual entstehen, wird das Unendliche in dein Werk einfließen. Und ich zweifle nicht daran, daß deine Augen, die so kurz vor der Vernichtung stehen, imstande sein werden, Beziehungen zwischen den Dingen zu entdecken, die normalen Sterblichen verborgen bleiben. So lautet mein Plan, und ich kann dich zwingen, ihn auszuführen. Wenn du dich weigerst, bevor du geblendet wirst, werde ich alle deine Werke verbrennen lassen, und du wirst wie ein Vater sein, dessen Söhne umgebracht worden sind und dem keine Hoffnung auf Nachkommen bleibt. Aber wenn du willst, kannst du meinen Wunsch als eine letzte Gnade ansehen, denn ich weiß, daß die Leinwand die einzige Geliebte ist, die du je liebkost hast. Und dir deine letzten Stunden mit Pinseln und Farben zu versüßen ist wie die letzte Lust, die eine Dirne einem Mann gewährt, der hingerichtet werden soll."

Der Kaiser hob den kleinen Finger, und zwei Eunuchen brachten vorsichtig das unvollendete Gemälde herbei, auf dem Wang-Fô den Himmel und das Meer dargestellt hatte. Wang-Fô trocknete seine Tränen und lächelte, denn diese kleine Skizze erinnerte ihn an die Zeit, als er noch jung gewesen war. Alles daran zeugte von einer Seelenfrische, einem unschuldigen Blick, wie er Wang-Fô seit langem nicht mehr zu Gebot stand, und doch fehlte ihm etwas Entscheidendes, denn als er es gemalt hatte, hatte er die Berge noch nicht eingehend genug betrachtet, nicht die Klippen, die steil und bloß aus dem Meer aufragten. Und die Traurigkeit der Dämmerung war ihm noch nicht tief genug in die Seele gedrungen. Wang-Fô wählte einen der Pinsel, die ihm ein Sklave anbot, und begann, breite blaue Ströme von Farbe über das unvollendete Meer zu verteilen. Ein Eunuch hockte sich zu seinen Füßen nieder und zerstieß die Pigmente in einem Mörser; er erledigte diese Arbeit ziemlich schlecht, und Wang-Fô wünschte sich mehr als je, daß sein Schüler Ling bei ihm wäre.

Er begann, einer Wolke, die eine Bergkuppe bedeckte, eine rose Spitze aufzusetzen, dann fügte er dem Meer kleine Wellen hinzu, die den Eindruck von Ruhe und Windstille nur noch unterstrichen. Der Fußboden aus Jade beschlug vor Nässe, aber Wang-Fô, der ins Malen vertieft war, bemerkte es nicht.

Das grazile Boot, das die Pinselstriche des Malers vergrößert hatten, nahm nun den ganzen Vordergrund der Seidenrolle ein. Plötzlich war das rhythmische Geräusch von Rudern in der Ferne zu vernehmen, schnell und eindringlich, wie das Schlagen ferner Flügel. Das Geräusch kam näher, füllte leise den ganzen Thronsaal, dann setzte es aus, und von den Rudern des Fährmanns hingen zitternd, bewegungslos, die Tropfen. Das rotglühende Eisen, das für Wangs Augen bestimmt war, war schon längst auf dem Feuer des Henkers erloschen. Die Höflinge standen erstarrt, an ihren Platz gebannt durch die unerbittliche Hofetikette, auf ihren Zehenspitzen; das Wasser reichte ihnen bis zu den Schultern. Schließlich stieg die Flut bis zur Höhe des kaiserlichen Herzens. Die Stille war jetzt so tief, daß man eine Träne hätte fallen hören können.

Der Fährmann war Ling. Er trug den alten Kittel, den er immer trug, und der rechte Ärmel zeigte noch immer den Riß, den er nicht mehr hatte flicken können, bevor sie am Morgen von den Soldaten geholt worden waren. Aber um seinen Hals trug er eine seltsame rote Schärpe.

Während Wang weitermalte, sagte er leise zu Ling: "Ich glaubte, du wärst tot."

"Ihr lebt," entgegnete Ling ehrfurchtsvoll. "Wie könnte ich da sterben?"

Und er half seinem Meister, ins Boot zu steigen. Die Jadedecke des Thronsaals spiegelte sich im Wasser, so daß Ling den Eindruck hatte, daß sie durch eine Höhle fuhren. Die Zöpfe der Höflinge trieben wie Schlangen auf dem Wasser, und das blasse Anlitz des Kaisers schwamm auf dem Wasser wie eine Lotosblüte.



"Sieh nur, mein Schüler," sagte Wang-Fô bedrückt. "Diese Unglücklichen werden ertrinken - wenn sie es noch nicht sind. Ich wußte nicht, daß es im Meer genügend Wasser gibt, um einen Kaiser zu ertränken. Was machen wir jetzt?"

"Habt keine Angst, Meister," flüsterte der Schüler. Bald werden sie feststellen, daß sie trocken sind und sie werden vergessen haben, daß ihre Gewänder jemals feucht waren. Allein der Kaiser wird in seinem Herzen eine bittere Erinnerung an das Meer bewahren. Diesen Leuten ist es nicht bestimmt, sich in einem Bild zu verlieren."

Und er setzte hinzu:

"Das Meer ist herrlich, der Wind steht gut, die Seevögel bauen sich ihre Nester. Fahren wir, Meister, in das Land, das jenseits der Wellen liegt."

"Fahren wir," sagte der alte Meister.

Wang-Fô faßte das Steuer, und Ling beugte sich über die Ruder. Der Rhythmus des Ruderschlags erfüllte erneut den Thronsaal, kräftig und reglmäßig wie der Schlag eines Herzens Der Wasserspiegel sank langsam um die großen Steilfelsen, die wieder zu Säulen geworden waren. Bald blinkten nur noch hier und da ein paar Pfützen auf den Fliesen aus Jade. Die Gewänder der Höflinge waren trocken, nur auf dem Kragen des kaiserlichen Mantels blieben ein paar Schaumflocken zurück.

Die Bildrolle, an der Wang gearbeitet hatte, stand noch da wie ein Wandbehang. Der gesamte Vordergrund wurde von einem Boot eingenommen. Langsam entfernte es sich und zog eine schmale Kiellinie hinter sich her, die sich im unbewegten Meer verlor. Schon waren de Gesichter der beiden Männer, die im Boot saßen, nicht mehr zu erkennen. Aber Lings roter Schal war noch auszumachen, und Wang-Fôs Bart wehte im Wind.

Das Schlagen der Ruder wurde schwächer, dann verklang es in weiter Ferne. Dere Kaiser beugte sich vor, beschirmte die Augen mit der Hand, und sah zu, wie Wangs Boot davon fuhr, das jetzt nur noch ein winziger Farbtupfer in der blassen Dämmerung war. Ein goldener Nebel stieg auf und breitete sich über das Meer. Zuletzt bog das Boot um einen Felsen, der anzeigte, wo das offene Meer begann. Der Schatten einer Klippe verbarg es; die Kiellinie verebbte, und der Maler Wang-Fô und sein Schüler Ling verschwanden für immer auf diesem blauen Jademeer, das Wang-Fô geschaffen hatte.

* * *

"Comment Wang-Fô fut sauvé" gehört zu den zehn kurzen, parabelhaften Erzählungen, die Marguerite Yourcenar (1903-1987) 1938 in dem bei den Éditions Gallimard in Paris erschienenen Band "Nouvelles Orientales" zusammenfaßte, und deren Schauplätze von Ägypten bis nach Japan reichen. Im kurzen Nachwort zur Neuausgabe von 1963 gibt die Autorin zwar an, zu dem Text durch eine altchinesische taoistische Lehrfabel angeregt worden zu sein ("'Comment Wang-Fô fut sauvé' s'inspire d'un apologue taoïste de la veille Chine"); Kommentatoren zu diesem Opusculum wie etwa Sukehiro Hirakawa scheint es angesichts der Details in der Darstellung des Boots und der Tatsache, daß eine Parabel von diesem Inhalt in der algten chinesischen Literatur bislang nicht vermeldet worden ist, eher wahrscheinlich, daß sich die Autorin von einer französischen Übersetzung von Hearns Adaptation der Geschichte über "Kwashin Koji" inspirieren ließ. Der erste Abdruck von "Comment Wang-Fô..." erfolgte im Februar 1936 in der "Revue de Paris."

Ebenfalls bei Gallimard erschien 1979 eine illustrierte Sonderausgabe der Erzählung, mit Bildern von George Lemoine. Unsere Illustrationen stammen aus dieser Ausgabe.

Dieser Ausgabe verdankt sich auch eine kleine Textvariante im Schlußtableau. In Yourcenars ursprünglichem Text hieß es: "Le rouleau achevé par Wang-Fô restait posé sur la table basse": ("Die Bildrolle, an der Wang gearbeitet hatte, lag auf einem niedrigen Tisch"); der Satz wurde abgeändert in "...restait posé contre une tenture," wohl um den kleinen Anschlußfehler zu glätten, wie sich der Leser den Vorgang vorzustellen hat, wie ein Boot aus einen flach liegenden Bildgrund herausgleitet. Ich habe mich bei meiner Übersetzung für die spätere Fassung entschieden, auch gemäß dem (nicht immer überzeugenden) philologischen Prinzip, der "Ausgabe letzter Hand" den Vorzug zu geben. (Leser, die die späteren überarbeiteten Buchfassungen von Adalbert Stifters "Bunten Steinen" mit den ursprünglichen Magazinabdrucken vergleichen, erhalten einen lebhaften Eindruck davon, welche Verschlimmbesserungen solche nachträglichen Revisionen bedeuten können.)

Daß Yourcenar hier Topoi der europäischen Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende in ihr orientalisierendes Tableau gemengt hat, ist unübersehbar; nicht zuletzt in der Verschränkung den Themen Tod und Kunst in buchstäblicher Form. Das makabre letzte Porträt von Ling toter Frau erinnert nicht zufällig an das Bild Léon Cogniets, das zeigt, wie Tintoretto das letzte Bild seiner verstorbenen Tochter malt ("Tintoretto peignant sa fille morte," 1843; Musée des Beaux-Arts). Hinzufügen wäre vielleicht noch, daß es sich bei diesem Motiv - daß später etwa von George H. Blackburn und Henry Nelson O'Neill erneut gestaltet wurde - um eine Künstlerlegende des neunzehnten Jahrhunderts handelt: Tintoretto hat kein solches Bild seiner 1590 gestorbenen Tochter Marietta Robusti angefertigt - soweit wir wissen.



U.E.

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