18. März 2021

Lafcadio Hearn, "Die Erzählung des Kwashin Koji" (1901)





(Kosai Ishikawa, Illustration aus dem 『夜窓鬼談』, Band II, 1893)

In den Jahren der Tenshō-Zeit (1) lebte in einem der nördlichen Bezirke von Kyōto ein alter Mann, der von den Leuten Kwashin Koji genannt wurde. Er trug einen langen weißen Bart, und er war stets in die Gewänder eines Shintō-Priesters gekleidet, aber er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, daß er Bilder mit buddhistischen Motiven austellte und buddhistische Lehren predigte. An jedem schönen Tag begab er sich zu dem Tempel in Gion. Dort hing er ein großes Kakémono, ein Rollbild, an einem der Bäume auf, auf dem die Qualen dargestellt waren, die die Sünder in der Hölle erwarten. Dieses Kakémono war so kunstfertig gemalt, daß alles, was es zeigte, wirklich zu sein schien, und der alte Mann belehrte seine Zuhörer darüber und erklärte ihnen die Gesetze von Wirkung und Ursache. Mit einem Nyoi, einem Stab, wie ihn die Mönche bei sich führen, die sich in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen haben, erklärte er die verschiedenen Höllenstrafen in allen Einzelheiten und hielt seine Zuhörer an, den Lehren des Buddha zu folgen. Oft versammelte sich eine Menge um ihn, um das Bild zu betrachten und dem alten Mann zuzuhören, und häufig war die Strohmatte, die er vor sich ausgebreitet hatte, um Almosen in Empfang zu nehmen, unter den Münzen, die darauf geworfen worden waren, nicht mehr zu sehen.

Zu dieser Zeit herrschte Oda Nobunaga über Kyōto und die umliegenden Provinzen. Bei einem Besuch im Tempel in Gion sah einer seiner alten Diener, der den Namen Arakawa trug, das Bild, und nach seiner Rückkehr zum Palast berichtete er davon. Nobunaga war von Arakawas Beschreibung angetan, und er schickte einen Boten zu Kwashin Koji, damit er unverzüglich in den Palast kommen und das Bild mitbringen sollte.

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Als Nobunaga das Kakémono sah, konnte er sein Erstaunen über die Lebensechtheit des Werkes nicht verbergen: die Dämonen und die gequälten Seelen schienen sich vor seinen Augen zu bewegen; er vernehm Schreie, die aus dem Bild drangen, und das Blut, das auf dem Bild dargestellt war, schien tatsächlich zu fließen - sodaß er unwillkürlich mit einem Finger das Bild berührte, um zu sehen, ob es feucht war. Aber auf seiner Fingerspitze blieb kein Fleck zurück - denn das Papier war völlig trocken. Erstaunt erkundigte sich Nobunaga danach, wer dieses wundersame Bild geschaffen habe. Kwashin Koji antwortete, daß es von dem berühmten Maler Oguri Sōtan (3) gemalt worden war - nachdem er sich einhundert Tage lang Tag für Tag von seinen Sünden gereinigt hatte, sich schweren Kasteiungen unterzogen hatte und ein Gebet um Eingebung an die göttlichen Kwannon des Tempels von Kiyomizu gerichtet hatte.

Daraufhin fragte Arakawa, der sah, daß Nobunaga ein heftiges Verlangen danach ergriffen hatte, das Kakémono sein eigen zu nennen, Kwashin Koji, ob er sich dazu verstehen könne, ihm die Bildrolle als Geschenk anzubieten. Aber der alte Mann antwortete: "Dieses Bild ist das einzige von Wert, das ich besitze. Es bringt mir ein wenig ein, wenn ich es den Leuten zeige. Wenn ich es dem Hohen Herrn als Geschenk überreiche, bleibt mir nichts mehr, womit ich mein Leben fristen kann. Wenn es aber der sehnliche Wunsch des Herrn sein sollte, es zu besitzen, möge er mir eine Summe von einhundert Ryō in Gold dafür bezahlen. Mit diesem Geld kann ich ein anderes Geschäft beginnen. Anderenfalls werde ich mich nicht von dem Bild trennen."

Nobunaga schien von dieser Antwort nicht angetan und schwieg. Daraufhin flüsterte Arakawa seinem Herrn etwas ins Ohr, und dieser nickte zustimmend. Und Kwashin Koji wurde entlassen, nachdem ihm eine kleine Geldsumme ausgehändigt worden war.

* * *

Als der alte Mann der Palast verließ, folgte ihm Arakawa heimlich, in der Hoffnung, daß sich ihm die Gelegenheit bieten könnte, sich das Bild auf unredliche Weise anzueignen. Er mußte nicht lange warten, denn Kwashin Koji bog bald auf einen Weg ab, der in die Hügel hinter der Stadt führte. Als er eine einsame Stelle erreicht hatte, an der der Weg eine scharfe Kehre nahm, packte ihn Arakawa und sprach zu ihm: "Warum warst du so habgierig und hast hundert Ryō in Goldstücken für das Bild verlangt? Jetzt erhältst du nur ein langes Stück Eisen dafür." Und Arakawa zog sein Schwert, tötete den alten Mann und nahm das Bild an sich.

Am nächsten Tag überreichte Arakawa Oda Nobunaga das Kakémono - immer noch so aufgerollt, wie Kwashin Koij es zusammengerollt hatte, bevor er den Palast verließ. Als es aufgehängt und ausgerollt worden war, sahen Nobunaga und sein alter Diener erstaunt, daß kein Bild zu sehen war: es zeigte sich nur weißes, unbemaltes Papier. Arakawa konnte nicht erklären, warum das Bild verschwunden war. Aber da er seinen Herrn betrogen hatte - ob er es nun gewollt hatte oder nicht - erging der Entschluß, daß er bestraft werden mußte. Und so wurde er dazu verurteilt, auf lange Zeit in den Kerker geworfen zu werden.

* * *

Kaum war Arakawa wieder freigelassen worden, als ihm berichtet wurde, daß Kwashin Koji sein berühmtes Bild im Tempel von Kitano zeigte. Arakawa mochte seinen Ohren kaum trauen, aber die Nachricht erfüllte ihn mit einer schwachen Hoffnung, daß es ihm doch noch gelingen könnte, das Kakémono an sich zu bringen und so sein Versäumnis wettzumachen. Er rief eilig ein paar Untergebene zu sich und eilte zum Tempel; aber als er dort eintraf, hieß es, daß Kwashin Koji nicht mehr dort weilte.

Einige Tage darauf erhielt Arakawa die Nachricht, daß Kwashin Koji sein Bild im Koyimizu-Tempel zeigte und vor vielen Leuten sprach. Er eilte so schnell er konnte zum Koyimizu, aber als er dort eintraf, sah er nur noch, wie sich die Menge zerstreute, denn Kwashin Koji war schon wieder verschwunden.

Schließlich begegnete Arakawa durch einen Zufall Kwashin Koji im Geschäft eines Weinhändlers und konnte ihn in eine Ecke drängen. Der alte Mann lachte nur gutmütig, als er ihn packte, und sagte: "Ich werde mit Euch kommen - aber laßt mich erst ein wenig Wein trinken." Arakawa gewährte ihm diese Bitte. Daraufhin trank Kwashin Koji, zum großen Erstaunen aller Umstehenden, zwölf Becher Wein. Nach dem zwölften erklärte er, daß er nun genug habe, und Arakawa ließ ihm mit seinem Strick fesseln und zum Palast Nobunagas schaffen.

Im Hof des Palastes wurde Kwashin Koji ohne Verzug dem Hauptmann der Wache vorgeführt, der ihn vernahm. Schließlich sagte der Hauptmann zu ihm: "Es besteht kein Zweifel daran, daß Ihr die Menschen mit Zauberei betrogen habt. Dafür allein schon gebührt Euch schwere Strafe. Wenn Ihr aber Herrn Nobunaga demütig das Bild überreicht, kann Euch das noch einmal erlassen werden. Wenn nicht, so ist Euch eine strenge Bestrafung sicher."

Auf diese Drohung hin brach Kwashin Koji in Lachen aus und rief: "Ich bin es nicht, der andere getäuscht hat." Er wandte sich zu Arakawa und sprach: "Ihr seid der derjenige, der arglistig andere Leute betrogen hat! Ihr wolltet Euch bei Eurem Herrn beliebt machen, indem Ihr ihm das Bild geben wolltet; und Ihr habt versucht, mich zu töten, um es zu bekommen. Wenn es je ein Verbrechen gab, dann war dies eins! Zum Glück ist es Euch nicht gelungen. Aber wenn euch das, was Ihr geplant habt, gelungen wäre - welche Entschuldigung hätte es für eine solche Tat gegeben? Das Bild habt Ihr auf jeden Fall gestohlen. Die Rolle, die ich jetzt besitze, ist nur eine Kopie. Und nachdem Ihr das Bild gestohlen hattet, habt Ihr Euren Plan geändert: anstatt es Herrn Nobunaga zu überreichen, wolltet Ihr es für Euch selbst behalten. So habt Ihr Herrn Nobunaga ein unbemaltes Papier übergeben, und um Eure Schandtat zu verheimlichen, habt ihr so getan, als hätte Ich Euch getäuscht und die wirkliche Bildrolle durch eine unbemalte vertauscht. Wo sich das richtige Bild jetzt befindet, kann ich nicht sagen. Vielleicht wißt Ihr es?"

Bei diesen Worten wurde Arakawa so zornig, daß er auf den Gefangenen losstürzte und und ihn niedergeschlagen hätte, wenn die Wachen nicht eingeschritten wären. Dieser Wutausbruch weckte beim Hauptmann der Wache den Verdacht, daß Arakawa vielleicht nicht so unschuldig war, wie er vermutet hatte. Er befahl, Kwashin Koshi vorerst einzusperren, und verhörte anschließend Arakawa mit Bedacht. Nun besaß Arawaka von Natur aus eine langsame Sprechweise; und jetzt, da er äußerst aufgebracht war, konnte er kaum einen Ton herausbekommen; er stotterte und widersprach sich, und ließ alle Anzeichen von Schuld erkennen. Darauf befahl der Hauptmann der Wache, Arakawa so lange Stockschläge zu verabreichen, bis er die Wahrheit sagte. Aber er war außerstande, einen glaubwürdigen Satz hervorzubringen. So wurde er so lange mit einem Bambusstab geschlagen, bis er das Bewußtsein verlor und wie tot liegenblieb.

* * *

Im Gefängnis wurde Kwashin Koji berichtet, wie es Arakawa ergangen war, und er lachte. Aber anschließend sagte er zu dem Wächter: "Hört zu! Dieser Arakawa hat sich wirklich wie ein Verbrecher benommen, und ich habe mit Bedacht dafür gesorgt, daß er diese Strafe als Lohn für seine bösen Absichten erhalten hat. Aber nun berichtet bitte dem Hauptmann der Wache, daß Arakawa die Wahrheit nicht kennt, und daß ich diese Angelegenheit aufklären kann."

So wurde Kwashin Koji erneut vor den Hauptmann der Wache gebracht, vor dem er die folgende Erklärung abgab - : "In jedem wahrhaftig guten, ausgezeichneten Gemälde muß ein Geist wohnen; und solch ein Bild, das von daher einen eigenen Willen besitzt, kann sich weigern, von dem Künstler der es geschaffen hat, getrennt zu werden, oder von seinem rechtmäßigen Besitzer. Wir kennen viele Geschichten, aus denen hervorgeht, daß große Bilder eine Seele besitzen. Jeder kennt die Erzählung von den Spatzen, die Hōgen Yenshin einmal auf einen Fusuma, einen Wandschirm, malte und die davonflogen, und dort, wo sie auf das Holz gemalt worden waren, leere Flecken zurückließen. Und es gibt die Geschichte von dem Pferd, das auf einen Kakémono gemalt war, und das nachts auf der Koppel gesehen wurde, wie es Gras fraß. Was nun diesen Fall angeht, so scheint es mir, daß das Bild von selbst vom Papier verschwunden ist, als es entrollt wurde, weil Herr Nobunaga nie zum Besitzer des Bildes geworden ist. Aber wenn ich die Summe erhalte, um die ich zuerst gebeten habe - einhundert Ryō in Goldstücken - dann, glaube ich, wird auch das Bild wieder von selbst auf dem Papier erschienen. Es ist einen Versuch wert. Es besteht keine Gefahr - denn wenn das Bild verschwunden bleibt, werde ich sofort das Geld zurückgeben."

Als dies Nobunaga berichtet wurde, befahl er, die einhundert Ryō auszuzahlen, und kam selbst herbei, um zu sehen, was geschehen würde. Das Kakémono wurde vor ihm entrollt, und zum Erstaunen aller Anwesenden war darauf das Gemälde zu sehen, mit all seinen Einzelheiten. Aber die Farben schienen ein wenig verblichen, und die verdammten Seelen und die Dämonen wirkten nicht mehr lebendig, so wie sie es zuvor getan hatten. Nobunaga bemerkte diese Veränderung und bat Kwashin Koji um eine Erklärung, und Kwashin Koji antwortete ihm: "Als Ihr das Bild zum ersten Mal gesehen habt, überstieg sein Wert alle Reichtümer dieser Welt. Aber was Ihr nun seht, entspricht genau dem, was Ihr bezahlt habt - einhundert Ryō in Goldmünzen ... Wie sollte es anders sein?" Auf diese Antwort hin wurde es allen, die anwesend waren, klar, daß es nutzlos war, in dieser Sache bei dem alten Mann mehr erreichen zu wollen. Er wurde umgehend auf freien Fuß gesetzt. Auch Arakawa wurde freigelassen, weil die Strafe, die er empfangen hatte, seine Vergehen mehr als wettgemacht hatte.

Nun hatte Arakawa einen jüngeren Bruder namens Buichi, der ebenfalls in den Diensten Nobunagas stand. Buichi war bis zum äußersten erzürnt, weil Arakawa eingeperrt und geschlagen worden war, und er entschloß sich, Kwashin Koji zu töten. Nachdem Kwashin Koji den Palast verlassen hatte, betrat er die nächstgelegene Schänke und rief nach Wein. Buichi eilte ihm hinterher, streckte ihn nieder, und trennte mit einem Schwerthieb den Kopf ab. Dann nahm er die hundert Ryō, die dem alten Mann ausgehändigt worden waren, schlug sie und den Kopf in ein Tuch ein, und eilte nach Hause, um dies Arakawa zu zeigen. Aber als er die Tuchzipfel auseinanderschlug, fand er statt des Kopfes nur eine leere Weinkalebasse vor und statt des Goldes nur eine Handvoll Unrat ... Und das Erstaunen der Brüder steigerte sich noch, als sie hörten, daß die kopflose Leiche spurlos aus der Schänke verschwunden war, ohne daß jemand hätte sagen können, wo sie geblieben war.

* * *

Von Kwashin Koji wurde nichts mehr vernommen - bis gut einen Monat darauf ein Betrunkener schlafend vor dem Tor des Palastes von Herrn Nobunaga aufgefunden wurde, der so laut schnarchte, daß sich jeder Atemzug wie ein fernes Donnergrollen anhörte. Ein Diener entdeckte, daß es sich bei dem Trunkenbold um Kwashin Koji handelte. Für diese Respektlosigkeit wurde er sofort ergriffen und in eine Zelle geworfen. Aber er wachte nicht auf; und im Gefängnis schlief er zehn Tage und zehn Nächte ohne Unterlaß - und schnarchte die ganze Zeit so laut, daß der Lärm weithin zu hören war.

* * *

Es geschah in jenen Tagen, daß Herr Nobunaga durch den Verrat eines seiner Feldherrn, Akéchi Mizuhidé, den Tod fand, der daraufhin die Herrschaft an sich riß. Aber Mizuhidé hielt sich nur zwölf Tage lang an der Macht.

Als Mizuhidé Herrscher von Kyōto wurde, wurde ihm von dem Fall Kwashin Kojis berichtet, und er befahl, den Gefangenen herbeizuschaffen. So wurde Kwashin Koji vor den neuen Landesherrn gerufen; aber Mizuhidè sprach in höflichem Ton mit ihm, behandelte ihn wie einen Gast und befahl, ihm ein gutes Mahl aufzutischen. Als der alte Mann damit fertig war, sagte Mizuhidé zu ihm: "Ich habe mir sagen lassen, daß Ihr ein großer Freund des Weines seid - wieviel davon vertragt Ihr denn?" Kwashin Koji antwortete: "Das kann ich Euch nicht sagen. Ich höre stets zu trinken auf, wenn ich fühle, daß ich berauscht werde." Daraufhin setzte der Fürst Kwashin Koji eine gewaltige Weinschale (4) vor und trug einem Mundschenk auf, sie so oft aufzufüllen, wie es der alte Mann wünschte. Und Kwashin Koji leerte die immense Schale zehnmal hintereinander, und fragte nach mehr; doch der Bedienstete erwiderte, daß das Weinfaß jetzt leer sei. Alle Anwesenden waren über diese Trinkfestigkeit in höchstem Maße erstaunt, und der Fürst fragte Kwashin Koji: "Ist Euer Durst jetzt gestillt, Koji-san?" "Ja, ein wenig," gab Kwashin Koji zur Antwort, "und zum Dank für Eure großzügige Gastfreundschaft möchte ich Euch nun eine kleine Probe meiner Kunst geben. Seid so gut und richtet Euren Blick auf diesen Wandschirm." Er zeigte auf einen großen Wandschirm, auf dessen acht Paneele die Ōmi-Hakkei, die "Acht berühmten Ansichten des Biwa-Sees," gemalt waren. Alle Augen richteten sich auf den Schirm. Auf einem der Bilder hatte der Künstler ein Boot dargestellt, das, weit draußen auf auf dem See, über das Wasser gerudert wurde und das auf dem Schirm keine zwei Fingerbreit maß. Kwashin Koji winkte mit der Hand in Richtung des Bootes - und alle Anwesenden sahen, wie das Boot wendete und begann, auf den Vordergrund der Szene zuzufahren. Es wurde rasch größer und größer, während es sich näherte; und bald waren die Gesichtszüge des Fährmanns deutlich auszumachen. Und immer noch kam das Boot näher - wurde größer - bis es nur noch eine kleine Distanz entfernt schien. Und dann, mit einem Mal, schien das Wasser des Sees über seiner Ufer zu treten, schien aus dem Bild in das Zimmer zu strömen - und überflutete den Boden; die Zuschauer rafften hastig ihre Gewänder, während das Wasser ihre Knie überspülte. Und in diesem Augenblick glitt das Boot aus dem Schirm hervor - ein wirklicher Fischerkahn - und das Knarren seines einzelnen Ruders war zu hören. Das Wasser im Raum stieg immer noch; die Zuschauer standen jetzt bis zu den Hüften in den Fluten. Dann hielt das Booot vor Kwashin Koji, und Kwashin Koji stieg an Bord, und der Fährmann wendete und ruderte hastig davon. Und während sich das Boot entfernte, begann das Wasser im Zimmer schnell zu fallen, schien wieder in den den Schirm zurückzuströmen. Als das Boot wieder ganz im Wandschirm verschwunden war, erwies sich das Zimmer als trocken! Aber immer noch glitt das gemalte Boot über das gemalte Wasser dahin - weiter und weiter in die Tiefe des Bildes - wurde kleiner und kleiner - bis es schließlich nur noch als ein winziger Farbtupfer sichtbar war. Dann verschwand es ganz, und Kwashin Koji verschwand mit ihm. Er wurde nie wieder in Japan gesehen.

*****

Hearns Anmerkungen:

1. Wie in dem merkwürdigen alten Buch "Yaso-Kidan" mitgeteilt.
2. Die Tenshō-Zeit dauerte von 1572 bis 1591 (A.D.). Der Tod des großen Feldherrn Oda Nobunaga, der in der Erzählung eine Rolle spielt, fällt in das Jahr 1582.
3. Oguri Sōtan war ein Schöpfer religiöser Kunstwerke, der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wirkte. Er wurde später im Leben ein buddhistischer Mönch.
4. Das Wort "Becher" wäre in diesem Fall besser mit "Schale" wiederzugeben. Einige der sogenannten "Schalen," die bei großen Festlichkeiten benutzt wurden, waren immens: weitgeschwungene flache Lackschalen, die oft beträchtlich mehr als einen Liter enthalten konnten. Die größten Schalen in einem Zug leeren zu können, galt als staunenswerte Kraftprobe.

Anmerkungen U.E.:

- Im Deutschen wird die Tenshō-Ära (天正)) nicht als eigenständige Periode der japanischen Geschichte gezählt, sondern als Abschnitt der Azuchi-Momoyama-Zeit, der Epoche der "drei Reichseiniger" (Oda Nobunaga, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu) und umfaßt die Jahre von 1573 bis 1605.

- "begab er sich zu dem Tempel in Gion" (bei Hearn: "the grounds of the temple Gion"): Gion ist der Name des traditionellen Vergnügungsviertels im Norden von Kyoto; Hearn gibt nicht an, welcher der zahlreichen traditionellen buddhistischen oder shintoistischen Tempel gemeint sein könnte.

- Oguri Sotan, 小栗宗湛 (1413-1481) war einer der frühen Meister der Kanō-Schule (狩野派), die in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstand und nach der Künstlerdynastie der Familie Kanō benannt wurde, die bis zum Ende des 16. Jhdt. die Hofmaler des Shoguns stellte.

- die acht Gesichter des Biwa-Sees: die 近江八景,Ōmi Hakkei, nach der Präfektur Ōmi benannt, bildeten sich um 1600 als ein klassischer Inbegriff des Locus amoenus, der ästhetisch vollkommenen Landschaft heraus. Anders als im chinesischen Vorbild, den "Acht Ansichten von Xaioxiang" an den Einmündungen der Flüsse Xiao und Xiang in den Datong-See umfaßt die Serie der japanischen Motive acht genau festgelegte Bildausschnitte: Den Herbstmond über Ishiayama, den Abendschnee auf dem Berg Hira, heimkehrende Segelboote bei Yabase, das Abendlicht bei der großen Brücke über den Seta, die frische Brise bei Awazu, die Abendglocke im Miidera-Tempel, die Uferklippe von Karasaki im nächtlichen Regen und die Wildgänse auf dem Wasser bei Katata. Viele japanische Farbholzschnitt-Künstler haben Serien mit diesem Motiven angefertigt. Utagawa Hiroshige hat allein zwischen 1823 und 1857 acht verschiedene Serien dazu angefertigt, die letzte ein Jahr vor seinem Tod. Im Deutschen wurden die "Acht Gesichter vom Biwa-See" zu einem Begriff, als Max Dauthendey (1867-1918), Poeta minor aus dem Schwabinger "Wahnmoching" der Münchner Boheme, die acht Motive zum Thema seines 1911 erschienenen gleichnamigen Erzählungsbandes machte.

- "...wie in dem merkwürdigen alten Buch Yaso-Kidan berichtet": Hearn erlaubt sich hier eine kleine Mystifikation bzw. ein Spiel mit dem Leser. Das Yasō Kidan, 『夜窓鬼談』 (der Titel ließe sich etwa mit "Spukgeschichten, am nächtlichen Fenster erzählt" wiedergeben) ist keine alte Scharteke, sondern wurde von Kosai Ishikawa, 石川鴻斎(1833-1918) verfaßt, der sich einen Namen als Herausgeber und Kommentator chinesischer Klassiker gemacht hatte. Die nach dem Vorbild von Pu Songlings ( 蒲松齡) "Seltsamen Geschichten aus einem Gelehrtenzimmer" (聊斋志异 / Liaozhai Zhiyi; erste Druckfassung wohl 1740), verfaßten Spuk- und Wundergeschichten erschienen in zwei Bänden 1889 und 1893 im Verlag Tojodo, 東陽堂, in Tokyo. In Hearns Bibliothek, die sich heute im Nachlaß der Toyama-Universität befindet, findet sich die zweite Auflage des ersten Bandes aus dem Jahr 1893 (Meiji 26) und die Erstauflage des zweiten Bandes aus dem gleichen Jahr, in dem sich die Erzählung von Kwashin Koji im Original findet. Hearns Nacherzählung ist eine ausschmückende Paraphrase des Originaltexts, der sich an dem knappen, brüsken Stil des "Liaozhai" und sonstiger 志怪小說 / zhiguai xiaoshuo, "Geschichten des Wunderbaren," orientiert.

Um die Unterschiede der beiden Textversionen zu konstrastieren, sei der Schluß der Erzählung angeführt (ich zitiere Ishikawas Fassung nach der englischen Übertragung der Passage durch Sukehiro Hirakawa):

Hearn:

"Er zeigte auf einen großen Wandschirm, auf dessen acht Panele die Ōmi-Hakkei, die "Acht berühmten Ansichten des Biwa-Sees," gemalt waren. Alle Augen richteten sich auf den Schirm. Auf einem der Bilder hatte der Künstler ein Boot dargestellt, das, weit draußen auf auf dem See, über das Wasser gerudert wurde und das auf dem Schirm keine zwei Fingerbreit maß. Kwashin Koji winkte mit der Hand in Richtung des Bootes - und alle Anwesenden sahen, wie das Boot wendete und begann, auf den Vordergrund der Szene zuzufahren. Es wurde rasch größer und größer, während es sich näherte; und bald waren die Gesichtszüge des Fährmanns deutlich auszumachen. Und immer noch kam das Boot näher - wurde größer - bis es nur noch eine kleine Distanz entfernt schien. Und dann, mit einem Mal, schien das Wasser des Sees über seiner Ufer zu treten, schien aus dem Bild in das Zimmer zu strömen - und überflutete den Boden; die Zuschauer rafften hastig ihre Gewänder, während das Wasser ihre Knie überspülte. Und in diesem Augenblick glitt das Boot aus dem Schirm hervor - ein wirklicher Fischerkahn - und das Knarren seines einzelnen Ruders war zu hören. Das Wasser im Raum stieg immer noch; die Zuschauer standen jetzt bis zu den Hüften in den Fluten. Dann hielt das Booot vor Kwashin Koji, und Kwashin Koji stieg an Bord, und der Fährmann wendete und ruderte hastig davon. Und während sich das Boot entfernte, begann das Wasser im Zimmer schnell zu fallen, schien wieder in den den Schirm zurückzuströmen. Als das Boot wieder ganz im Wandschirm verschwunden war, erwies sich das Zimmer als trocken! Aber immer noch glitt das gemalte Boot über das gemalte Wasser dahin - weiter und weiter in die Tiefe des Bildes - wurde kleiner und kleiner - bis es schließlich nur noch als ein winziger Farbtupfer sichtbar war. Dann verschwand es ganz, und Kwashin Koji verschwand mit ihm. Er wurde nie wieder in Japan gesehen."


Ishikawa:

"Dort befand sich ein Wandschirm, auf dem die "Acht Ansichten von Omi" gemalt waren. Dort war ein Boot von etwa zwei Fingern Breite dargestellt. Kwashin Koji winkte es mit der Hand zu sich heran. Das Boot begann sich zu wiegen, kam heran und fuhr aus dem Wandschirm heraus, wobei es eine Länge von einigen Fuß annahm. Im selben Augenblick strömte das Wasser des Sees in den Raum, und alle, die davon Zeuge wurden, rafften eilig ihre Roben (hakama) zusammen. Das Wasser reichte ihnen bis zu den Hüften. Kwashin Koji hatte das Boot jetzt bestiegen, und der Fischer ruderte langsam davon. Wohin sie gefahren sind, weiß niemand zu sagen."


* * *



(Lafacio Hearn und Setsu Koizumi, 1892)

Hearn selbst sprach zwar einigermaßen geläufig Japanisch, hat es aber nie zu großer Kenntnis der Schrift gebracht; gerade der Gebrauch der Kanji, also der aus dem Chinesischen übernommenen Schriftzeichen, der Hanzi, bereitete ihm Schwierigkeiten und er war auf den Gebrauch von Wörterbüchern angewiesen. Für die Kenntnisnahme der japanischen Texte war er auf seine Frau, Setsu Koizumi, 小泉節子, angewiesen, die er im August 1891 geheiratet hatte. In der Literatur zu Hearn ist mitunter zu lesen, daß es sich bei ihr um die Tochter eines verarmten Samurai gehandelt hätte; das ist nur halbwegs korrekt. Bei Setsu, am 4. Februar 1868 in Matsuo geboren, handelte es sich um die Tochter des Kleinhändlers Yaemon Mintao Koizumi; im Alter von 7 Tagen wurde sie als Pflegekind und Adoptivtochter der Familie Inagaki aufgenommen, dessen Stammhalter keine Erben hatte. Nachdem sich die geplante arrangierte Ehe mit Tameji Maeda, den die Familie Inagaki als prospektiven Schwiegersohn aufgenommen hatte, als sie 18 war, nicht zustande gekommen war, kehrte sie zu ihrer gebürtigen Familie zurück. Ab dem Februar 1891 versorgte sie für Hearn den Haushalt; und nachdem ihn gepflegt hatte, als er schwer erkrankt war, heiratete er sie im August desselben Jahres. (Nach damaligem japanischem Recht wurde die Ehe offiziell anerkannt, als Hearn 1896 die japanische Staatsbürgerschaft erwarb.) Im November 1891 zog das Ehepaar in die Großstadt Kumamoto, den Verwaltungssitz der südlichsten Hauptinsel Kyushu; zwei Jahre später nach Tokyo. Hearns ältester Sohn Kazuo wurde in Kumamoto geboren; dort schrieb er auch sein erstes Buch über die japanischen Sitten und Traditionen, "Glimpses of Unfamiliar Japan," das 1894 erschien. Setsu starb am 28. Februar 1932, 28 Jahre nach Hearns tödlichem Herzinfarkt. Ihre Erinnerungen an Lafcadio Hearn, die sie Takazunu Tanabe diktiert hat, erschienen 1914 auf japanisch unter dem Titel 「思い出の記」(Yakumo Koizumi; Hearns in Japan offiziell angenommener Name) und 1918 in englischer Übersetzung als "Reminiscences of Lafcadio Hearn" im New Yorker Verlag Houghton Mifflin Company.



("Der Nachtregen bei Karasaki" aus der letzten Serie der Ōmi hakkei, die Hiroshige für den Verleger Uoya Eikichi schuf und die mit dem Druckvermerk "Februar 1857" erschienen sind.)

U.E.

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