«Ognuno sta solo sul cuor della terra
trafitto da un raggio di sole:
ed è subito sera.»
- Salvatore Quasimodo
Ich ließ Rouen hinter mir und folgte den weiten Kurven der Straße in ein Land von schwarzem Glas.
Ich hatte schon viele Solarfarmen gesehen - in Australien, Amerika und auf meinem Weg von Paris in die Normandie - aber der Effekt, den die tiefstehende Sonne auf die endlosen Reihen der dunklen Paneele hatte, verlieh der Szenerie etwas Unwirkliches. Der Motor des Tesla summte lautlos, und in der vom letzten Regenschauer noch feuchten Luft war es, als ob ich durch eine Art magischer Stille fuhr. Zur Rechten ragte ein Kiefernwäldchen in die reglose Abendluft, und ringsum saugten die angewinkelten schwarzen Reihen das letzte Licht des Tages auf. Die Reflexe, die mitunter auf den oberen Kanten aufblitzen, verliehen den Ganzen einen merkwürdig belebten Ausdruck, obwohl niemand auf den verlassenen ehemaligen Feldern zu sehen war. Auch als mich nach zehn Kilometern hinter Vieux-Manoir das Navi anwies, die A28 zu verlassen und die Abzweigung nach Buchy zu nehmen, hielt der traumhafte Eindruck an.
Bevor mir Max seine Adresse an diesem Morgen per WattsApp mitgeteilt hatte - in seiner typischen Manier hatte er sich auf die Angabe von geograpischer Länge und Breite beschränkt, die ich mehr oder weniger genau mit den Karten im Netz abgeglichen hatte - hatte ich mir vorgestellt, er könne, gemäß seinem Leben im Verborgenen und angesichts dessen, was er war, in einem abgelegenen kleinen Landhaus wohnen, ein Robinson hinter einer Dornröschenhecke. Aber die Adresse erwies sich als eine ganz normale Vorortstraße in einem ganz normalen nordfranzösischen Dörfchen, gleich hinter dem Ortsschild. Platanen und Kastanien säumten die schmale Fahrspur. Während ich langsam zwischen den kleinen Vorgärten dahinrollte und überlegte, welches der sauberen, geputzen Häuschen gemeint sein mochte, klingelte mein Telephon.
"Ja?"
"Sind Sie das Eve? Das schwarze E-Fahrzeug mit Pariser Kennzeichen?"
"Ja." Sein Englisch war gut, aber ich konnte keine Dialekteinfärbung ausmachen.
"Es ist das linke Haus am Ende der Straße. Dahinter sehen Sie den Wendehammer. Bitte kommen Sie ins Haus. Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht am Gartentor abhole."
Ich parkte den Wagen neben der kleinen Vorgartenmauer und stieg aus. Link und rechts war das Grundstück von akkurat gestutzten Taxushecken begrenzt, in den Rabatten standen Tulpen und Veilchen; an der Hausfront zogen sich ein paar Rosenranken empor. Die Haustür mit ihren Bleiglasfächern war nur angelehnt.
Am Ende des Flur stand eine Tür offen, die offenkundig in ein Arbeitszimmer führte. Die Stimme, die ich eben zum ersten Mal gehört hatte, rief leise: "Schließen Sie die Tür, und kommen Sie herein. Bitte erschrecken Sie nicht."
Er hatte gut daran getan, mich vorzuwarnen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte (er hatte es immerhin geschafft, kein Bild von sich im Netz zu hinterlassem, jedenfalls keines, das mit seinem Namen in Verbindung zu bringen war), aber gewißt nicht das. Vor mir saß eine kleine, zusammengekrümmte Gestalt in einem Rollstuhl, mit einem kahlen Kopf, schlaffen Zügen und Altersflecken auf der runzligen Haut, aber mit scharf blickenden, lebendigen Augen, was der Erscheinung neben der Hinfälligkeit noch einen leicht unheimlichen Zug verlieh.
"Max? Sind Sie das wirklich?"
"Ich glaube schon - auch wenn ICH das so sage." Der Scherz war zwischen uns ein paarmal aufgekommen, seit ich noch von Australien aus mit ihm zum ersten Mal auf seine erste Email geantwortet hatte. "Sie dürfen auch Max 2.0 zu mir sagen."
"Oder Philippe?" Philippe wie Philippe Levallier; von selber hätte ich es nie geschafft, sein sorgfältig gehütetes Incognito zu lüften.
"Bleiben wir bei Max. Sherlock Holmes hieß auch nicht Sherlock, es ist die Aufgabe eines verantwortungsvollen Berichterstatters, sich in dieser Hinsicht bedeckt zu halten; aber dank dem guten Doktor Watson wird man ihn immer nur unter diesem, und nur diesem Namen kennen, wenn vom Großen Detektiv die Rede ist. Und ich werde dank Herrn Rorvik immer Max sein. So wie Sie Eve. Und ein Tesla?"
"Mit dem Unterschied, daß mein Name wirklich Eve ist. Mir schien es nur angemessen, ein Auto zu mieten, das ... nun ... unserem Status angemessen ist."
"Legen Sie ab und setzen Sie sich. Wenn Sie eine Erfrischung brauchen, bedienen Sie sich bitte in der Küche - " er wies auf eine offene Tür zu meiner Rechten. "Sie brauchen die Kaffeemaschine nur einzuschalten. Im Kühlschrank gibt es Getränke - auch etwas Stärkeres. Sie sehen aus, als ob Sie einen kräftigen Schluck gebrauchen könnten."
"Merci. Wenn ich ganz offen reden darf, das war ein ziemlicher Schock. Was ist mit Ihnen passiert?"
"Deswegen habe ich mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Jedenfalls als ich über ... nun, meine Kontakte, die ich immer noch habe ... hörte, daß Sie nach mir suchten. Ich meine, daß ich Ihnen gegenüber Rechenschaft pflichtig bin. Nun, Rechenschaft ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber ich wollte Sie nicht blind gegenüber dem sein lassen, was Ihnen möglicherweise bevorsteht."
Als wir uns gleich darauf an einem niedrigen Couchtisch gegenübersaßen - ich mit einem Glas mit zwei Fingerbreit Whisky, Max mit einem Glas Burgunder in Reichweite, fragte ich zur Sicherheit, nein: mehr um meinem Nerven durch die Konversation Zeit zu geben, sich zu beruhigen: "Sie sind wirklich erst 45?" Der Mann, der hier vor mir saß, wirkte wie in den hohen Siebzigern. Aber wenn er wirklich so alt war, dann konnte er niemals sein, was er - und ich - waren. Oder was er vorgab zu sein.
"Vierundvierzig. David ist in seinem Buch mit den Zeitangaben sehr vorsichtig gewesen. Ich bin Ende September 1977 geboren. Sie müßten jetzt zwanzig sein, wenn ich die Zahlen richtig im Gedächtnis habe - auch wenn man das höflicherweise einer Frau gegenüber nicht erwähnen sollte. Aber wir sind ja nicht hier, um höfliche Konversation zu treiben, sondern unter Fachleuten, sozusagen."
"Neunzehn. Madame Bosselier ist zeitnah an die Presse gegangen, nur zwei Tage nach meiner Geburt. Ich habe es immer bedauert, daß es nicht einen Tag früher war. Unter den Umständen..."
Max - oder Philippe - verstand die Anspielung: dann wäre es statt des 25. der 24. Dezember gewesen. "Soweit ich mich erinnere, hat sie damals von Kaiserschnitt gesprochen."
"Ja. Das war in Korea. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Südkorea im September 2002 alle ... nun, alle Versuche in dieser Hinsicht per Gesetz verboten hat. Das ging darauf zurück. Die Dienste waren natürlich informiert - wenn sie auch nicht genügend Anhaltspunkte hatten, um das genau festzustellen. Wie wollen Sie erfassen, was in jeder kleinen Privatklinik vorgeht? Und selbst wenn sie meine - Mutter erwischt hätten: es hätte keinen Spätabort mit dieser Begründung geben können. Sie wollten nur verhindern, daß es Schule macht. Nach der Pressekonferenz sind die Büros und Labors von BioFusion Tech dort durchsucht und die Akten beschlagnahmt worden."
"Gab es nicht ein paar Frauen aus Südkorea, die Verträge dafür unterzeichnet hatten?"
"Drei. Aber wie gesagt - wie wollen Sie damit einen ganz normalen Vorgang in einem Kreißsaal verhindern - von dem niemand weiß, daß er etwas Ungewöhnliches ist?"
"Aber Sie sind nicht dort aufgewachsen?"
"In Australien. Meine - meine Mutter ist Australierin. Es war nur natürlich, daß ich in Melbourne großgeworden bin."
"Wenn Sie 'Mutter' sagen..." Er drehte das Weinglas langsam in der Hand und sah vorgeblich konzentriert zu, wie der rote Pegel seinen Kreis um die Innenwand zog, als wisse er nicht recht, wie er diesen neuralgischen Punkt diplomatisch formulieren sollte.
"Die Frau, die mich geboren hat. Ich habe Sie immer als meine, nun, leibliche Mutter empfunden, ich nenne sie so, seit ich mein erstes Wort gesprochen habe."
"In den Berichten war damals von Leihmutterschaft die Rede. Und wie Sie wissen, in meinem Fall..."
"Ich weiß. Aber bei mir war es etwas anderes. Und bei den anderen wohl auch, nehme ich an. Es ging darum, zu zeigen, daß es möglich war. Ich weiß bis heute nicht, wer meine ... Spenderin ... war. Und es interessiert mich auch nicht."
"Proof of concept, wie die Ingenieure sagen würden. Ab wann wußten Sie um, nun...?"
"Was ich bin? Als ich fünfzehn war. Ich glaube, meine Mutter wollte es mir eigentlich nie sagen, oder vielleicht erst später. Aber irgendwann, mit zehn, zwölf, fing es an, mir merkwürdig vorzukommen, daß ich alle sechs Monate von Kopf bis Fuß geprüft wurde, Blut abgenommen, Lymphwerte, kurz: alles, und immer in einer kleinen Privatklinik, zu der wir stundenlang aufs Land fahren mußten. Mir war schon lange aufgefallen, daß das bei meinen Klassenkameradinnen nicht der Fall war, und ich hatte immer den Verdacht, daß ich als Kind mal eine gefährliche Krankheit gehabt häte oder ein Risiko dafür. Und dann ihre ständigen merkwürdigen Andeutungen. Meine Mutter hat stets zu mir gesagt: Kind, du kannst es dir nicht leisten, jung und ungeschickt zu sein. Du muß immer damit rechnen, daß ich von einem Moment auf den anderen nicht mehr für dich dasein kann, und daß du selbst klarkommen mußt."
"In einer Welt, die Sie als Sünde gegen die Natur ansieht."
"Das hat sie damals nicht gesagt. Aber sie mußte natürlich damit rechnen, daß es zu einem Prozeß gegen sie kommen würde, wenn jemand herausfinden sollte, daß ich ... daß wir ... Und so habe ich sie an meinem fünfzehnten Geburtstag zur Rede gestellt. Teenager und ihre Rebellionen. Ich vermute, bei Ihnen war es anders?"
"Allerdings. Max - mein Original, wenn Sie so wollen - war ja kinderlos, und er wollte unbedingt in mir weiterleben. Ich wußte es von Anfang an; auch wenn ich es natürlich zunächst nicht verstanden habe. Ich kann es natürlich nicht vergleichen, aber ich vermute, das unterschied sich in nichts von dem Druck, den andere reiche und verantwortungslose Väter auf Söhne ausüben, die unbedingt ihre Rolle übernehmen sollen. Nur daß bei mir das Geheimnis um meine Herkunft dazukam: Niemand darf das ahnen! Ich mußte in jeder Hinsicht seinen Erwartungen entsprechen, sein Spiegelbild sein. Von Anfang an. Ich habe ihn gehaßt. Aber soll ich Ihnen etwas sagen? Ich habe nicht mich in ihm gehaßt und verachtet. Er war immer ein völlig Fremder für mich. Es gab eine Zeit, da hätte ich alles darum gegeben, an die Öffentlichkeit zu gehen, in einem Fernsehstudio zu sitzen und der ganzen Welt zu erzählen, was ich bin, und wie sehr ich ihn dafür verabscheue, was er getan hat. Das ist vorbei. Ich muß sagen, das ging sogar recht schnell vorbei. Als ich mit ihm gebrochen habe, als ich alle Brücken hinter mir abgebrochen habe, war das wie ein Schnitt. In den Jahren danach habe ich oft gedacht: es ist doch egal, wenn die Medien dahinter kommen würden. Wenn eine Zeitung behauptet: du bist das, was du bist: das ist belanglos. Das geht vorüber - ohne jede Spur. Erinnern Sie sich an den Klavierspieler aus dem Meer? Jener seltsame Mensch, der an der südenglischen Küste aufgegriffen wurde, kein Wort sprach und als Sommerrätsel durch die Medien hier in Europa ging. Der nur Klavier spielte und Spekulationen auslöste? 2005 war das. Und als er nach ein paar Monaten sein Schweigen brach und die banale Geschichte erzählte, daß er mittellos war und sich im Meer ertränken wollte und einfach seine Kaspar-Hauser-Rolle weitergespielt hatte, nachdem er ins Krankenhaus gebracht worden war, fiel die Geschichte sofort dem Vergessen anheim. Selbst die Zeitungen, die zuvor geschrieben hatten, er würde konzertreif spielen, berichteten jetzt, er hätte stattdessen immer nur einen einzigen Ton angeschlagen. Ich habe mir gesagt, daß das in meinem Fall genauso sein würde. Seit ein paar Jahren sieht es freilich anders aus, wie Sie sich denken können. Aber es ist ironisch, nicht? Ich habe mit meiner Herkunft radikal gebrochen, und hier sitze ich und lebe von den monatlichen Zuweisungen der Stiftung, die mein, na, Original, zu diesem Zweck für mich eingerichtet hat."
"Glauben Sie nicht, daß Sie irgendwann nicht doch so...?"
"... daß ich wie er ausgeschlagen wäre? Vielleicht, wenn ich isoliert von ihm, ohne all dieses Wissen um ihn, um sein Wesen, aufgewachsen wäre. Bei Ihnen etwa könnte ich mir das vorstellen. Es gibt ja genügend Studien an eineiigen Zwillingen, die voneinander getrennt aufgewachsen sind; - weil man früher oft bei unehelichen Müttern in Armutslage eins der Kinder zur Adoption freigegeben hat - die dann im Lauf ihres Lebens ganz erstaunliche identische Gewohnheiten und Vorlieben entwickelt haben. Und homozygotische Zwillinge - eineiige - sind ja nichts anderes als wir: genetisch identische Kopien. Nur daß wir um eine Generation zeitversetzt sind. Aber bei Zwillingen, die zusammen aufwachsen, gibt es immer eine starke Konkurrenz. Vielleicht nicht in den ersten Lebensjahren, wo das Verwechselspiel noch seinen Reiz hat. Aber spätestens in der Pubertät möchten sich viele von ihrem Doppelgänger absetzen, eine eigene Note setzen. Wenn man sie kennt, kann man sie leicht unterscheiden. Und diese starke Abneigung gegen Max - wohlgemerkt: nicht das, was ich bin, sondern die Rolle, die er mir zugedacht hatte - hat ein Übriges bewirkt."
Er führte langsam, in der fast zeitlupenartigen Weise, die er bei allen Bewegungen an den Tag legte, sein Glas wieder an den Mund. "Eigentlich sind wir beide von Kopf bis Fuß wandelnde Ironien. Was haben sie nicht alles befürchtet oder prophezeit? Jeremy Rifkin hat ein Jahr nach Dolly vorausgesagt, daß im Jahr 2020 ein Drittel aller Soldaten in der IDF" ("die israelische Armee," erläuterte er auf meinen fragenden Blick) "aus Klonen bestehen würde. Einige Romanautoren haben sich in der lustvollen Angstvision gewälzt, 'die Reichen' könnten Kopien von sich züchten lassen, um sie als Ersatzteillager für versagende Organe auszubeuten..."
"Ishiguro?"
"Und Michael Marshall Smith. Und sehen Sie mich an: Seit fünf Jahren sitze ich hier in diesem Stuhl mit Rädern, der mir mit jedem Summen seines Motors wieder ins Bewußtsein ruft, wie hinfällig diese Körpermaschine ist. Ich zumindest bin eher nach Dolly ausgeschlagen als nach den Jungs aus Brasilien. Und beide haben wir unsere Impfung erhalten. Körperlich haben wir keinerlei Vorteil dadurch." Natürlich: sonst hätte man mich nicht einreisen lassen.
"Dolly ist nicht alt geworden, oder?"
"Schafe werden normalerweise an die zwölf Jahre alt. Dolly ist mit sechs notgeschlachtet worden; sie hatte Lungenkrebs. Mit vier Jahren hat sie eine Arthrose entwickelt. Bei mir ging das kurze Zeit nach meinem dreißigsten Geburtstag los, und jetzt sitze ich hier mit meiner Hand, die keinen lesbaren Buchstaben mehr aufs Papier malen kann. Ich denke immer noch so scharf wie eh und je, aber ich sehe, wie die Dämmerung auf die Schrift fällt. Wenn Sie mir eine Wette über fünf weitere Jahre anbieten würden, ich würde sie nicht annehmen."
"Gibt es Vermutungen, warum Dolly so...?"
"Es gibt die Theorie, daß es daran lag, daß die Telomere in ihren Körperzellen verkürzt waren. Das sind Abschnitte am Ende der Erbsubstanz, die sich bei jeder Zellteilung verkürzen und so das Lebensalter - das mögliche Lebensalter - begrenzen. Wenn eine Samen- und eine Eizelle verschmelzen, wird die DNS in der entstehenden Blastozyste mit vollständigen Telomeren der jeweiligen Spezies ausgestattet. Beim somatischen Zellkerntransfer, dem wir beide unser Zustandekommen verdanken, wird der Kern der Spenderzelle in eine entkernte Empfängerzelle transferiert; sonst hätten wir keinen Klon. Und dieser Kern hat den Prozeß der Zellteilung schon oft hinter sich. Somatisch mögen wir jung sein; genetisch sind wir es nicht. Wir, fürchte ich, haben die schlechten Karten in diesem biologischen Pokerspiel gezogen. Verstehen Sie mich nicht falsch: ich mache niemandem dafür einen Vorwurf. Wir sind Freaks. Mißgeburten." Er sah mich an. "Das sind die falschen Worte. Genau das sind wir nämlich nicht. Wir schultern unsere Last - und wenn die Parzen uns deshalb den Faden des Lebens eher abschneiden. Wir haben es uns nicht ausgesucht - das hat niemand, dem das Schicksal schlechte Gene, oder das Erbteil des familiären Mittelmeerfiebers zugemessen hat. Niemand hat sich ein robustes genetisches Kostüm ausbedungen, das einen Kettenraucher bis in die hohen Neunziger aufrecht erhält, oder eines, das dazu führt, daß Leuten, die nie einen Zug Tabakrauch in die Lunge gezogen haben, mit 30 metastasierende Tumore die Lungenbläschen zerfressen. Aber Sie sehen die Ironie, die darin liegt, daß all das nur unternommen worden ist in der Hoffnung, um genau das auszuschalten."
"Kommen Sie." Der Motor summte; der Rollstuhl drehte sich, und Max fuhr vor eine der vom Boden zur Decke reichenden Glastüren, die nach Westen in den Garten führte. Ich stand auf und trat hinter ihn.
Draußen war es dunkel geworden. Wir sahen in den Garten hinaus, und über die Felder, die sich dahinter bis zum nahen Horizont erstreckten. Im letzten Blau des Abendhimmels hing eine schmale Mondsichel dicht über dem Horizont.
"Warten Sie eine halbe Stunde, und sie haben einen leeren Horizont vor sich. Die Amateurastronomen wird es ohne Zweifel freuen. Warten Sie zehn Jahre, und die Welt ist eine andere - nicht für uns, das gestehe ich Ihnen gerne zu. Von uns wird nichts bleiben. Wir hinterlassen keine Fußabdrücke im Sand der Zeit. Aber solche Momente bleiben uns so wie allen anderen. "
Ich legte eine Hand auf seine Schulter.
Seine Haltung versteifte sich kurz, und als er merkte, daß ich meine Hand dort ruhen ließ, legte er seine rechte Hand über die meine.
"Sie glauben nicht, wie sehr ich so etwas mein Leben lang vermißt habe," sagte er leise, fast so undeutlich, daß ich ihn nicht verstehen konnte. "Ich konnte mich mein ganzes Leben nie auf jemanden verlassen. Nicht, daß ich es gewollt hätte."
Er fuhr den Rollstuhl nach vorn, wendete ihn und kehrte an den Tisch zurück. "Entschuldigen Sie. Aber ... aber es tut gut."
(Natürlich fragte ich mich, ob es ihm ebenso gutgetan hätte, wenn ihm statt einer Frauen- eine Männerhand auf der Schulter gelegen hätte. Ich dachte kurz nach und empfand ein eigentümliches Gefühl von Scham und Peinlichkeit: nein, auch mir wäre es nicht gleichgültig gewesen, und das hatte nichts damit zu tun, daß er ein Y-Chromosom trug und ich zwei X-Chromosomen.
Er hob eine Fernbedienung, die neben ihm in Griffweite auf dem Tisch lag; eine Stehlampe hinter mir verbreitete gedämpftes Licht im Zimmer.
Er griff nach dem Rotwein. Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand, schenkte ihm ein halbes Glas ein und mir selbst eine kleine Portion. Die blutrote Flüssigkeit floß schwer in das Glas.
"Entschuldigung - aber ich muß nachher noch fahren."
"Natürlich."
"Ein älterer Jahrgang?"
"Pinot Noir, 1977. Nicht, daß es etwas mit mir zu tun hätte. Die Geschichte setzt sich aus lauter solchen Zufällen zusammen. Denken Sie an der Kometenwein von 1811. Mit dem letzten Jahr, als man dem kleinen Korsen noch ein Recht auf die Unterjochung Europas hätte einräumen können, hatte das nichts zu tun - und auch nichts mit dem beeindruckendsten Kometen, der seit zweihundert Jahren am Himmel stand. Und doch wußte damals jedermann, was mit 'Kometenwein' gemeint war."
Ich nahm einen kleinen Schluck, ließ ihn auf der Zunge kreisen, den Mund ausfüllen. Es war, als ob sich mein Rachen zu einem Hohlraum geweitet hätte. Nicht wegen einer nie gekannten, unerhörten Geschmackskombination. Es war, als ob all die altbekannten Eindrücke zu etwas Neuem verschmolzen, zu etwas Unerhörten, vor allem: nie Geahnten. Ein flüchtiger Eindruck von etwas Namenlosem. Ich schluckte, und nur ein Phantom blieb auf den Geschmackspapillen. Wie das Leben selbst, in all seiner Vergänglichkeit.
* * *
Es war nach zwei Uhr, als ich das Haus verließ. Max - oder Philippe - war bis zur Haustür gefahren; seine zusammengesunkene Gestalt zeichnete sich als dunkle Silhouette in der hellen Türöffnung ab. Wir wußten beide, daß wir uns nie wiedersehen würden; beide würden wir unser Geheimnis mit ins Grab nehmen. Der Tesla summte lautlos und unwirklich. Der Himmel hatte sich fast vollständig aufgeklärt; im Nordwesten wies das Sommerdreieck aus Deneb, Wega und Altair auf eine Position hinter dem Horizont, auf der London liegen mochte; im Süden zog sich das helle Band der Milchstraße in die Höhe; mitten darin leuchtete Saturn, zwei Wochen nach seiner Opposition. Auch der Höhepunkt der Perseiden lag vierzehn Tage zurück, aber kurz vor Rouen schrieb als Nachzügler ein verglühendes Körnchen Kometenstaub seine huschende Leuchtspur in die Atmosphäre.
trafitto da un raggio di sole:
ed è subito sera.»
- Salvatore Quasimodo
Ich ließ Rouen hinter mir und folgte den weiten Kurven der Straße in ein Land von schwarzem Glas.
Ich hatte schon viele Solarfarmen gesehen - in Australien, Amerika und auf meinem Weg von Paris in die Normandie - aber der Effekt, den die tiefstehende Sonne auf die endlosen Reihen der dunklen Paneele hatte, verlieh der Szenerie etwas Unwirkliches. Der Motor des Tesla summte lautlos, und in der vom letzten Regenschauer noch feuchten Luft war es, als ob ich durch eine Art magischer Stille fuhr. Zur Rechten ragte ein Kiefernwäldchen in die reglose Abendluft, und ringsum saugten die angewinkelten schwarzen Reihen das letzte Licht des Tages auf. Die Reflexe, die mitunter auf den oberen Kanten aufblitzen, verliehen den Ganzen einen merkwürdig belebten Ausdruck, obwohl niemand auf den verlassenen ehemaligen Feldern zu sehen war. Auch als mich nach zehn Kilometern hinter Vieux-Manoir das Navi anwies, die A28 zu verlassen und die Abzweigung nach Buchy zu nehmen, hielt der traumhafte Eindruck an.
Bevor mir Max seine Adresse an diesem Morgen per WattsApp mitgeteilt hatte - in seiner typischen Manier hatte er sich auf die Angabe von geograpischer Länge und Breite beschränkt, die ich mehr oder weniger genau mit den Karten im Netz abgeglichen hatte - hatte ich mir vorgestellt, er könne, gemäß seinem Leben im Verborgenen und angesichts dessen, was er war, in einem abgelegenen kleinen Landhaus wohnen, ein Robinson hinter einer Dornröschenhecke. Aber die Adresse erwies sich als eine ganz normale Vorortstraße in einem ganz normalen nordfranzösischen Dörfchen, gleich hinter dem Ortsschild. Platanen und Kastanien säumten die schmale Fahrspur. Während ich langsam zwischen den kleinen Vorgärten dahinrollte und überlegte, welches der sauberen, geputzen Häuschen gemeint sein mochte, klingelte mein Telephon.
"Ja?"
"Sind Sie das Eve? Das schwarze E-Fahrzeug mit Pariser Kennzeichen?"
"Ja." Sein Englisch war gut, aber ich konnte keine Dialekteinfärbung ausmachen.
"Es ist das linke Haus am Ende der Straße. Dahinter sehen Sie den Wendehammer. Bitte kommen Sie ins Haus. Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht am Gartentor abhole."
Ich parkte den Wagen neben der kleinen Vorgartenmauer und stieg aus. Link und rechts war das Grundstück von akkurat gestutzten Taxushecken begrenzt, in den Rabatten standen Tulpen und Veilchen; an der Hausfront zogen sich ein paar Rosenranken empor. Die Haustür mit ihren Bleiglasfächern war nur angelehnt.
Am Ende des Flur stand eine Tür offen, die offenkundig in ein Arbeitszimmer führte. Die Stimme, die ich eben zum ersten Mal gehört hatte, rief leise: "Schließen Sie die Tür, und kommen Sie herein. Bitte erschrecken Sie nicht."
Er hatte gut daran getan, mich vorzuwarnen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte (er hatte es immerhin geschafft, kein Bild von sich im Netz zu hinterlassem, jedenfalls keines, das mit seinem Namen in Verbindung zu bringen war), aber gewißt nicht das. Vor mir saß eine kleine, zusammengekrümmte Gestalt in einem Rollstuhl, mit einem kahlen Kopf, schlaffen Zügen und Altersflecken auf der runzligen Haut, aber mit scharf blickenden, lebendigen Augen, was der Erscheinung neben der Hinfälligkeit noch einen leicht unheimlichen Zug verlieh.
"Max? Sind Sie das wirklich?"
"Ich glaube schon - auch wenn ICH das so sage." Der Scherz war zwischen uns ein paarmal aufgekommen, seit ich noch von Australien aus mit ihm zum ersten Mal auf seine erste Email geantwortet hatte. "Sie dürfen auch Max 2.0 zu mir sagen."
"Oder Philippe?" Philippe wie Philippe Levallier; von selber hätte ich es nie geschafft, sein sorgfältig gehütetes Incognito zu lüften.
"Bleiben wir bei Max. Sherlock Holmes hieß auch nicht Sherlock, es ist die Aufgabe eines verantwortungsvollen Berichterstatters, sich in dieser Hinsicht bedeckt zu halten; aber dank dem guten Doktor Watson wird man ihn immer nur unter diesem, und nur diesem Namen kennen, wenn vom Großen Detektiv die Rede ist. Und ich werde dank Herrn Rorvik immer Max sein. So wie Sie Eve. Und ein Tesla?"
"Mit dem Unterschied, daß mein Name wirklich Eve ist. Mir schien es nur angemessen, ein Auto zu mieten, das ... nun ... unserem Status angemessen ist."
"Legen Sie ab und setzen Sie sich. Wenn Sie eine Erfrischung brauchen, bedienen Sie sich bitte in der Küche - " er wies auf eine offene Tür zu meiner Rechten. "Sie brauchen die Kaffeemaschine nur einzuschalten. Im Kühlschrank gibt es Getränke - auch etwas Stärkeres. Sie sehen aus, als ob Sie einen kräftigen Schluck gebrauchen könnten."
"Merci. Wenn ich ganz offen reden darf, das war ein ziemlicher Schock. Was ist mit Ihnen passiert?"
"Deswegen habe ich mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Jedenfalls als ich über ... nun, meine Kontakte, die ich immer noch habe ... hörte, daß Sie nach mir suchten. Ich meine, daß ich Ihnen gegenüber Rechenschaft pflichtig bin. Nun, Rechenschaft ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber ich wollte Sie nicht blind gegenüber dem sein lassen, was Ihnen möglicherweise bevorsteht."
Als wir uns gleich darauf an einem niedrigen Couchtisch gegenübersaßen - ich mit einem Glas mit zwei Fingerbreit Whisky, Max mit einem Glas Burgunder in Reichweite, fragte ich zur Sicherheit, nein: mehr um meinem Nerven durch die Konversation Zeit zu geben, sich zu beruhigen: "Sie sind wirklich erst 45?" Der Mann, der hier vor mir saß, wirkte wie in den hohen Siebzigern. Aber wenn er wirklich so alt war, dann konnte er niemals sein, was er - und ich - waren. Oder was er vorgab zu sein.
"Vierundvierzig. David ist in seinem Buch mit den Zeitangaben sehr vorsichtig gewesen. Ich bin Ende September 1977 geboren. Sie müßten jetzt zwanzig sein, wenn ich die Zahlen richtig im Gedächtnis habe - auch wenn man das höflicherweise einer Frau gegenüber nicht erwähnen sollte. Aber wir sind ja nicht hier, um höfliche Konversation zu treiben, sondern unter Fachleuten, sozusagen."
"Neunzehn. Madame Bosselier ist zeitnah an die Presse gegangen, nur zwei Tage nach meiner Geburt. Ich habe es immer bedauert, daß es nicht einen Tag früher war. Unter den Umständen..."
Max - oder Philippe - verstand die Anspielung: dann wäre es statt des 25. der 24. Dezember gewesen. "Soweit ich mich erinnere, hat sie damals von Kaiserschnitt gesprochen."
"Ja. Das war in Korea. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Südkorea im September 2002 alle ... nun, alle Versuche in dieser Hinsicht per Gesetz verboten hat. Das ging darauf zurück. Die Dienste waren natürlich informiert - wenn sie auch nicht genügend Anhaltspunkte hatten, um das genau festzustellen. Wie wollen Sie erfassen, was in jeder kleinen Privatklinik vorgeht? Und selbst wenn sie meine - Mutter erwischt hätten: es hätte keinen Spätabort mit dieser Begründung geben können. Sie wollten nur verhindern, daß es Schule macht. Nach der Pressekonferenz sind die Büros und Labors von BioFusion Tech dort durchsucht und die Akten beschlagnahmt worden."
"Gab es nicht ein paar Frauen aus Südkorea, die Verträge dafür unterzeichnet hatten?"
"Drei. Aber wie gesagt - wie wollen Sie damit einen ganz normalen Vorgang in einem Kreißsaal verhindern - von dem niemand weiß, daß er etwas Ungewöhnliches ist?"
"Aber Sie sind nicht dort aufgewachsen?"
"In Australien. Meine - meine Mutter ist Australierin. Es war nur natürlich, daß ich in Melbourne großgeworden bin."
"Wenn Sie 'Mutter' sagen..." Er drehte das Weinglas langsam in der Hand und sah vorgeblich konzentriert zu, wie der rote Pegel seinen Kreis um die Innenwand zog, als wisse er nicht recht, wie er diesen neuralgischen Punkt diplomatisch formulieren sollte.
"Die Frau, die mich geboren hat. Ich habe Sie immer als meine, nun, leibliche Mutter empfunden, ich nenne sie so, seit ich mein erstes Wort gesprochen habe."
"In den Berichten war damals von Leihmutterschaft die Rede. Und wie Sie wissen, in meinem Fall..."
"Ich weiß. Aber bei mir war es etwas anderes. Und bei den anderen wohl auch, nehme ich an. Es ging darum, zu zeigen, daß es möglich war. Ich weiß bis heute nicht, wer meine ... Spenderin ... war. Und es interessiert mich auch nicht."
"Proof of concept, wie die Ingenieure sagen würden. Ab wann wußten Sie um, nun...?"
"Was ich bin? Als ich fünfzehn war. Ich glaube, meine Mutter wollte es mir eigentlich nie sagen, oder vielleicht erst später. Aber irgendwann, mit zehn, zwölf, fing es an, mir merkwürdig vorzukommen, daß ich alle sechs Monate von Kopf bis Fuß geprüft wurde, Blut abgenommen, Lymphwerte, kurz: alles, und immer in einer kleinen Privatklinik, zu der wir stundenlang aufs Land fahren mußten. Mir war schon lange aufgefallen, daß das bei meinen Klassenkameradinnen nicht der Fall war, und ich hatte immer den Verdacht, daß ich als Kind mal eine gefährliche Krankheit gehabt häte oder ein Risiko dafür. Und dann ihre ständigen merkwürdigen Andeutungen. Meine Mutter hat stets zu mir gesagt: Kind, du kannst es dir nicht leisten, jung und ungeschickt zu sein. Du muß immer damit rechnen, daß ich von einem Moment auf den anderen nicht mehr für dich dasein kann, und daß du selbst klarkommen mußt."
"In einer Welt, die Sie als Sünde gegen die Natur ansieht."
"Das hat sie damals nicht gesagt. Aber sie mußte natürlich damit rechnen, daß es zu einem Prozeß gegen sie kommen würde, wenn jemand herausfinden sollte, daß ich ... daß wir ... Und so habe ich sie an meinem fünfzehnten Geburtstag zur Rede gestellt. Teenager und ihre Rebellionen. Ich vermute, bei Ihnen war es anders?"
"Allerdings. Max - mein Original, wenn Sie so wollen - war ja kinderlos, und er wollte unbedingt in mir weiterleben. Ich wußte es von Anfang an; auch wenn ich es natürlich zunächst nicht verstanden habe. Ich kann es natürlich nicht vergleichen, aber ich vermute, das unterschied sich in nichts von dem Druck, den andere reiche und verantwortungslose Väter auf Söhne ausüben, die unbedingt ihre Rolle übernehmen sollen. Nur daß bei mir das Geheimnis um meine Herkunft dazukam: Niemand darf das ahnen! Ich mußte in jeder Hinsicht seinen Erwartungen entsprechen, sein Spiegelbild sein. Von Anfang an. Ich habe ihn gehaßt. Aber soll ich Ihnen etwas sagen? Ich habe nicht mich in ihm gehaßt und verachtet. Er war immer ein völlig Fremder für mich. Es gab eine Zeit, da hätte ich alles darum gegeben, an die Öffentlichkeit zu gehen, in einem Fernsehstudio zu sitzen und der ganzen Welt zu erzählen, was ich bin, und wie sehr ich ihn dafür verabscheue, was er getan hat. Das ist vorbei. Ich muß sagen, das ging sogar recht schnell vorbei. Als ich mit ihm gebrochen habe, als ich alle Brücken hinter mir abgebrochen habe, war das wie ein Schnitt. In den Jahren danach habe ich oft gedacht: es ist doch egal, wenn die Medien dahinter kommen würden. Wenn eine Zeitung behauptet: du bist das, was du bist: das ist belanglos. Das geht vorüber - ohne jede Spur. Erinnern Sie sich an den Klavierspieler aus dem Meer? Jener seltsame Mensch, der an der südenglischen Küste aufgegriffen wurde, kein Wort sprach und als Sommerrätsel durch die Medien hier in Europa ging. Der nur Klavier spielte und Spekulationen auslöste? 2005 war das. Und als er nach ein paar Monaten sein Schweigen brach und die banale Geschichte erzählte, daß er mittellos war und sich im Meer ertränken wollte und einfach seine Kaspar-Hauser-Rolle weitergespielt hatte, nachdem er ins Krankenhaus gebracht worden war, fiel die Geschichte sofort dem Vergessen anheim. Selbst die Zeitungen, die zuvor geschrieben hatten, er würde konzertreif spielen, berichteten jetzt, er hätte stattdessen immer nur einen einzigen Ton angeschlagen. Ich habe mir gesagt, daß das in meinem Fall genauso sein würde. Seit ein paar Jahren sieht es freilich anders aus, wie Sie sich denken können. Aber es ist ironisch, nicht? Ich habe mit meiner Herkunft radikal gebrochen, und hier sitze ich und lebe von den monatlichen Zuweisungen der Stiftung, die mein, na, Original, zu diesem Zweck für mich eingerichtet hat."
"Glauben Sie nicht, daß Sie irgendwann nicht doch so...?"
"... daß ich wie er ausgeschlagen wäre? Vielleicht, wenn ich isoliert von ihm, ohne all dieses Wissen um ihn, um sein Wesen, aufgewachsen wäre. Bei Ihnen etwa könnte ich mir das vorstellen. Es gibt ja genügend Studien an eineiigen Zwillingen, die voneinander getrennt aufgewachsen sind; - weil man früher oft bei unehelichen Müttern in Armutslage eins der Kinder zur Adoption freigegeben hat - die dann im Lauf ihres Lebens ganz erstaunliche identische Gewohnheiten und Vorlieben entwickelt haben. Und homozygotische Zwillinge - eineiige - sind ja nichts anderes als wir: genetisch identische Kopien. Nur daß wir um eine Generation zeitversetzt sind. Aber bei Zwillingen, die zusammen aufwachsen, gibt es immer eine starke Konkurrenz. Vielleicht nicht in den ersten Lebensjahren, wo das Verwechselspiel noch seinen Reiz hat. Aber spätestens in der Pubertät möchten sich viele von ihrem Doppelgänger absetzen, eine eigene Note setzen. Wenn man sie kennt, kann man sie leicht unterscheiden. Und diese starke Abneigung gegen Max - wohlgemerkt: nicht das, was ich bin, sondern die Rolle, die er mir zugedacht hatte - hat ein Übriges bewirkt."
Er führte langsam, in der fast zeitlupenartigen Weise, die er bei allen Bewegungen an den Tag legte, sein Glas wieder an den Mund. "Eigentlich sind wir beide von Kopf bis Fuß wandelnde Ironien. Was haben sie nicht alles befürchtet oder prophezeit? Jeremy Rifkin hat ein Jahr nach Dolly vorausgesagt, daß im Jahr 2020 ein Drittel aller Soldaten in der IDF" ("die israelische Armee," erläuterte er auf meinen fragenden Blick) "aus Klonen bestehen würde. Einige Romanautoren haben sich in der lustvollen Angstvision gewälzt, 'die Reichen' könnten Kopien von sich züchten lassen, um sie als Ersatzteillager für versagende Organe auszubeuten..."
"Ishiguro?"
"Und Michael Marshall Smith. Und sehen Sie mich an: Seit fünf Jahren sitze ich hier in diesem Stuhl mit Rädern, der mir mit jedem Summen seines Motors wieder ins Bewußtsein ruft, wie hinfällig diese Körpermaschine ist. Ich zumindest bin eher nach Dolly ausgeschlagen als nach den Jungs aus Brasilien. Und beide haben wir unsere Impfung erhalten. Körperlich haben wir keinerlei Vorteil dadurch." Natürlich: sonst hätte man mich nicht einreisen lassen.
"Dolly ist nicht alt geworden, oder?"
"Schafe werden normalerweise an die zwölf Jahre alt. Dolly ist mit sechs notgeschlachtet worden; sie hatte Lungenkrebs. Mit vier Jahren hat sie eine Arthrose entwickelt. Bei mir ging das kurze Zeit nach meinem dreißigsten Geburtstag los, und jetzt sitze ich hier mit meiner Hand, die keinen lesbaren Buchstaben mehr aufs Papier malen kann. Ich denke immer noch so scharf wie eh und je, aber ich sehe, wie die Dämmerung auf die Schrift fällt. Wenn Sie mir eine Wette über fünf weitere Jahre anbieten würden, ich würde sie nicht annehmen."
"Gibt es Vermutungen, warum Dolly so...?"
"Es gibt die Theorie, daß es daran lag, daß die Telomere in ihren Körperzellen verkürzt waren. Das sind Abschnitte am Ende der Erbsubstanz, die sich bei jeder Zellteilung verkürzen und so das Lebensalter - das mögliche Lebensalter - begrenzen. Wenn eine Samen- und eine Eizelle verschmelzen, wird die DNS in der entstehenden Blastozyste mit vollständigen Telomeren der jeweiligen Spezies ausgestattet. Beim somatischen Zellkerntransfer, dem wir beide unser Zustandekommen verdanken, wird der Kern der Spenderzelle in eine entkernte Empfängerzelle transferiert; sonst hätten wir keinen Klon. Und dieser Kern hat den Prozeß der Zellteilung schon oft hinter sich. Somatisch mögen wir jung sein; genetisch sind wir es nicht. Wir, fürchte ich, haben die schlechten Karten in diesem biologischen Pokerspiel gezogen. Verstehen Sie mich nicht falsch: ich mache niemandem dafür einen Vorwurf. Wir sind Freaks. Mißgeburten." Er sah mich an. "Das sind die falschen Worte. Genau das sind wir nämlich nicht. Wir schultern unsere Last - und wenn die Parzen uns deshalb den Faden des Lebens eher abschneiden. Wir haben es uns nicht ausgesucht - das hat niemand, dem das Schicksal schlechte Gene, oder das Erbteil des familiären Mittelmeerfiebers zugemessen hat. Niemand hat sich ein robustes genetisches Kostüm ausbedungen, das einen Kettenraucher bis in die hohen Neunziger aufrecht erhält, oder eines, das dazu führt, daß Leuten, die nie einen Zug Tabakrauch in die Lunge gezogen haben, mit 30 metastasierende Tumore die Lungenbläschen zerfressen. Aber Sie sehen die Ironie, die darin liegt, daß all das nur unternommen worden ist in der Hoffnung, um genau das auszuschalten."
"Kommen Sie." Der Motor summte; der Rollstuhl drehte sich, und Max fuhr vor eine der vom Boden zur Decke reichenden Glastüren, die nach Westen in den Garten führte. Ich stand auf und trat hinter ihn.
Draußen war es dunkel geworden. Wir sahen in den Garten hinaus, und über die Felder, die sich dahinter bis zum nahen Horizont erstreckten. Im letzten Blau des Abendhimmels hing eine schmale Mondsichel dicht über dem Horizont.
"Warten Sie eine halbe Stunde, und sie haben einen leeren Horizont vor sich. Die Amateurastronomen wird es ohne Zweifel freuen. Warten Sie zehn Jahre, und die Welt ist eine andere - nicht für uns, das gestehe ich Ihnen gerne zu. Von uns wird nichts bleiben. Wir hinterlassen keine Fußabdrücke im Sand der Zeit. Aber solche Momente bleiben uns so wie allen anderen. "
Ich legte eine Hand auf seine Schulter.
Seine Haltung versteifte sich kurz, und als er merkte, daß ich meine Hand dort ruhen ließ, legte er seine rechte Hand über die meine.
"Sie glauben nicht, wie sehr ich so etwas mein Leben lang vermißt habe," sagte er leise, fast so undeutlich, daß ich ihn nicht verstehen konnte. "Ich konnte mich mein ganzes Leben nie auf jemanden verlassen. Nicht, daß ich es gewollt hätte."
Er fuhr den Rollstuhl nach vorn, wendete ihn und kehrte an den Tisch zurück. "Entschuldigen Sie. Aber ... aber es tut gut."
(Natürlich fragte ich mich, ob es ihm ebenso gutgetan hätte, wenn ihm statt einer Frauen- eine Männerhand auf der Schulter gelegen hätte. Ich dachte kurz nach und empfand ein eigentümliches Gefühl von Scham und Peinlichkeit: nein, auch mir wäre es nicht gleichgültig gewesen, und das hatte nichts damit zu tun, daß er ein Y-Chromosom trug und ich zwei X-Chromosomen.
Er hob eine Fernbedienung, die neben ihm in Griffweite auf dem Tisch lag; eine Stehlampe hinter mir verbreitete gedämpftes Licht im Zimmer.
Er griff nach dem Rotwein. Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand, schenkte ihm ein halbes Glas ein und mir selbst eine kleine Portion. Die blutrote Flüssigkeit floß schwer in das Glas.
"Entschuldigung - aber ich muß nachher noch fahren."
"Natürlich."
"Ein älterer Jahrgang?"
"Pinot Noir, 1977. Nicht, daß es etwas mit mir zu tun hätte. Die Geschichte setzt sich aus lauter solchen Zufällen zusammen. Denken Sie an der Kometenwein von 1811. Mit dem letzten Jahr, als man dem kleinen Korsen noch ein Recht auf die Unterjochung Europas hätte einräumen können, hatte das nichts zu tun - und auch nichts mit dem beeindruckendsten Kometen, der seit zweihundert Jahren am Himmel stand. Und doch wußte damals jedermann, was mit 'Kometenwein' gemeint war."
Ich nahm einen kleinen Schluck, ließ ihn auf der Zunge kreisen, den Mund ausfüllen. Es war, als ob sich mein Rachen zu einem Hohlraum geweitet hätte. Nicht wegen einer nie gekannten, unerhörten Geschmackskombination. Es war, als ob all die altbekannten Eindrücke zu etwas Neuem verschmolzen, zu etwas Unerhörten, vor allem: nie Geahnten. Ein flüchtiger Eindruck von etwas Namenlosem. Ich schluckte, und nur ein Phantom blieb auf den Geschmackspapillen. Wie das Leben selbst, in all seiner Vergänglichkeit.
* * *
Es war nach zwei Uhr, als ich das Haus verließ. Max - oder Philippe - war bis zur Haustür gefahren; seine zusammengesunkene Gestalt zeichnete sich als dunkle Silhouette in der hellen Türöffnung ab. Wir wußten beide, daß wir uns nie wiedersehen würden; beide würden wir unser Geheimnis mit ins Grab nehmen. Der Tesla summte lautlos und unwirklich. Der Himmel hatte sich fast vollständig aufgeklärt; im Nordwesten wies das Sommerdreieck aus Deneb, Wega und Altair auf eine Position hinter dem Horizont, auf der London liegen mochte; im Süden zog sich das helle Band der Milchstraße in die Höhe; mitten darin leuchtete Saturn, zwei Wochen nach seiner Opposition. Auch der Höhepunkt der Perseiden lag vierzehn Tage zurück, aber kurz vor Rouen schrieb als Nachzügler ein verglühendes Körnchen Kometenstaub seine huschende Leuchtspur in die Atmosphäre.
Ulrich Elkmann
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