30. Januar 2021

Ein beunruhigender Aufruf





Seit gut zwei Wochen gibt es in den USA eine Petition, in der Autoren und Mitarbeiter großer Verlage die Forderung erheben, nicht nur dem aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Donald Trump, sondern sämtlichen Mitarbeitern seiner Regierung (auf Englisch "Administration") das Recht zu verweigern, künftig Bücher zu publizieren und Verlagsverträge abzuschließen. Die Eingabe läuft unter dem Motto "No Book Deals For Traitors" - "Keine Verlagsverträge für Verräter" - und hat bis gestern, den 29. Januar 2021, 590 Unterzeichner gefunden.

Im Wortlaut lautet der Aufruf wie folgend:

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THIS IS A LETTER OF INTENT FROM PUBLISHING PROFESSIONALS OF THE UNITED STATES.

We all love book publishing, but we have to be honest — our country is where it is in part because publishing has chased the money and notoriety of some pretty sketchy people, and has granted those same people both the imprimatur of respectability and a lot of money through sweetheart book deals.

As members of the writing and publishing community of the United States, we affirm that participation in the administration of Donald Trump must be considered a uniquely mitigating criterion for publishing houses when considering book deals.

Consequently, we believe: No participant in an administration that caged children, performed involuntary surgeries on captive women, and scoffed at science as millions were infected with a deadly virus should be enriched by the almost rote largesse of a big book deal. And no one who incited, suborned, instigated, or otherwise supported the January 6, 2021 coup attempt should have their philosophies remunerated and disseminated through our beloved publishing houses.

“Son of Sam” laws exist to prevent criminals from benefiting financially from writing about their crimes. In that spirit, those who enabled, promulgated, and covered up crimes against the American people should not be enriched through the coffers of publishing.

We are writers, editors, journalists, agents, and professionals in multiple forms of publishing. We believe in the power of words and we are tired of the industry we love enriching the monsters among us, and we will do whatever is in our power to stop it.

"Letter of Intent" ist in diesem Fall eher mit "Aufruf" als mit dem lexikongemäßen "Willenserklärung" oder "Absichtserklärung" zu übersetzen. Auf Deutsch lautet die Petition also:

"Die ist ein Aufruf mit Beschäftigten im Verlagswesen der Vereinigten Staaten.

Wir alle lieben Bücher und ihre Verlage, aber wir müssen ehrlich sein - unser Land befindet sich in seinem gegenwärtigen Zustand, weil die Verlagsbranche einigen höchst zweifelhaften Menschen zu Geld und Berühmtheit verholfen hat, und ihnen durch gewissenlose Buchverträge zu einem Anschein von Anständigkeit und Reichtum verholfen hat.

Als Autoren und Mitglieder der Verlagsbranche der Vereinigten Staaten stellen wir fest, daß die Teilnahme an der Regierung unter Donald Trump ein gewichtiger Faktor ist, was das Abschließen von Autorenverträgen betrifft.

Infolgedessen sind wir der Überzeugung: Niemand, der Teil einer Regierung war, die Kinder in Käfige gesperrt hat, Zangsoperationen an gefangenen Frauen durchgeführt hat und die Wissenschaft mit Füßen getreten hat, während Millionen von einem tödlichen Virus infiziert wurden, sollte sich durch einen lukrativen Buchvertrag bereichern dürfen. Und niemandem, der zu dem versuchten Staatsstreich vom 6. Januar 2021 aufgerufen, dazu angestiftet oder ihn anderweitig unterstützt hat, sollte es erlaubt sein, unsere geliebten Verlagshäuser dazu nutzen zu dürfen, ihre Ansichten zu verbreiten und davon zu profitieren.

Es gibt die "Son of Sam"-Gesetze, die verhindern, daß Kriminelle finanziell davon profitieren, indem sie über ihre Vedrbrechen schreiben. Und ganz in Sinn dierser Gesetze sollten diejenigen, die Verbrechen gegen das amerikanische Volk ermöglicht, durchgeführt und vertuscht haben, sich nicht aus dem Kapital der Verlage bereichern dürfen.

Wir sind Autoren, Herausgeber, Journalisten, Literaturagenten in zahlreichen Bereichen des Verlagswesens. Wir glauben an die Macht des Wortes und wir sind es leid, daß die Branhce, die wir lieben, die Ungeheuer, die unter uns leben, bereichert, und wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um dem ein Ende zu setzen.

* * *

Man muß sich dies einmal ganz langsam und mehrfach durchlesen, um die ganze Ungeheuerlichkeit dieser Petition zu erfassen. Hier werden sämtliche Mitarbeiter einer demokratischen gewählten Regierung unumwunden zu "Ungeheuern" (monsters) und Verbrechern erklärt, denen mal keine Platform für ihre Ansichten einräumen darf. Sie sollen schlicht und einfach mundtot gemacht werden. Donald Trump und seiner Regierung werden umstandslos die Menscheitsverbrechen einer Dr. Josef Mengele in Auschwitz unterstellt ("performed involuntary surgery on captive women"). Der "Sturm" auf das Kapitol am 6. Januar während der Entscheidung über den Ausgang der Präsidentenwahl, stellt indertat einen schwarzen Fleck in der Geschichte dieser Wahl dar - aber es war NICHT Präsident Trump, der für die Sicherung des Kapitols zuständig ist - dies liegt neben der Leitung der "Capitol Police" letztendlich in der Zuständigkeit von Speaker Nancy Pelosi - , und ein Staatstreich, mit dem Ziel einer Machtübernahme des Staates, mit Kontrolle über Militär und Medien, sieht anders aus als die Kasperletruppe mit ihrem lächerlichen Mummenschanz, der die ganze Welt vor drei Wochen bei ihrem Treiben zusehen konnte. Und was das angebliche Verbrechen betrifft, "Kinder in Käfige zu sperren," so sollte es sich herumgesprochen haben, daß die Trennung der Kinder illegaler Einwanderer über die Grenze der USA zu Mexiko ab 2014 von Trumps Amtsvorgänger Barack Obama und seinem Vizepräsidenten eingeführt worden ist. Jener Vizepräsident hieß übrigens Joe Biden.

Zwei Dinge seien angemerkt. Zum einen glaube ich nicht, daß dieser Petition ein nennenswerter Erfolg beschieden sein wird. Es handelt sich nur um dies: eben einen Aufruf, eine Petition, einen offenen Brief, wie ihn jeder im Netz publizieren kann (und wie es auf Plattformen wie "change.org" auch tausendfach geschieht - ohne jede Wirkung. Es ist normaler Teil der freien Meinungsäußerung, aber man sollte damit keine Hoffnung verbinden, dadurch irgendetwas bewirken zu können. Selbst die "Erklärung 2018" vor zwei Jahren hat es mit ihren fast 170.000 Unterzeichnern (zu denen ich übrigens gehörte; es ist die einzige Petition, die ich in meinem Leben unterschrieben habe) nichts außer einer Verlesung im Pressesaal vor ein paar Parlamentariern und Medienvertretern durch Joachim Steinhöfel und Henryk M. Broder bewirkt. Medial waren freilich ein halbes Jahr lang die Unterzeichner auf üble Weise verleumdet worden; aber die tatsächliche "Wirkung" dieser Eingabe ist bei Null anzusetzen.

Man darf nicht vergessen, daß die in der Verfassung garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung in der Vereinigten Staaten ein wesentlich höher angesiedeltes öffentliches Gut darstellt als in Deutschland. Man weiß dort sehr gut, daß man eben keine Meinungsfreiheit hat, wenn "unliebsame" oder "falsche" Ansichten einer Zensur unterliegen. Man weiß, daß die Möglichkeit, sie zur Kenntnis zu nehmen, Grundvoraussetzung dafür ist, daß sich der einzelne Bürger eine Meinung dazu bilden kann. Schlicht gesagt: anders als bei uns ist man dort der Ansicht, daß die bloße Kenntnisnahme sogar von kriminellen, totalitären Ansichten eben nicht bedeutet, daß der Leser oder Zuschauer mit ihr übereinstimmt oder ihr hilflos ausgeliefert ist. Genau diese Haltung hat dazu geführt, daß es in den USA zahllose private Radiosender gibt, die die geschmacklosesten Verhöhnungen ganzer Minderheiten senden können (so war es jedenfalls bis vor wenigen Jahren). Das hat dazu geführt, daß nie jemand auch nur im Traum auf den Gedanken verfallen ist, ein Buch wie Adolf Hitlers "Mein Kampf" verbieten zu wollen; es hat dazu geführt, daß es bis heute in den USA ganz legal eine American Nazi Party gibt, die im März 1959 gegründet wurde, die ihren Namen 1983 in "New Order" änderte und deren Mitgliedschaft auf wenige hundert im ganzen Land geschätzt wird. Das hat dazu geführt, daß selbst in der Hochzeit des McCarthysmus zwischen 1948 und 1954 die CPUSA, die Communist Party of the United States, niemals verboten worden ist. Die "Son of Sam"-Gesetze, die im Aufruf erwähnt werden, beziehen sich explizit auf die Schilderungen gerichtlich verurteilter Schwerverbrecher, bei denen verhindert werden soll, daß sie durch Schilderungen ihrer Morde in Fällen, in denen sie durch die Medienaufmerksamkeit zu landesweiter Bekanntheit gelangt sind, profitieren.

Was der Autor des Aufrufs, Barry Lyga, in seiner juristischen Ignoranz übersehen hat, ist die Tatsache, daß der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, das "Son of Sam"-Gesetz für verfassungswidrig erklärt hat. Erlassen wurde es auf Bundesstaatenebene für den Bundestaat New York 1977 nach der Verhaftung des als "Son of Sam" bekannten Serienmörders David Berkowitz, als befürchtet wurde, Hollywood könnte seine Morde als Filmstoff benutzen und ihn, aufgrund der bestehenden Gesetzeslage, als Beteiligter an möglichen Filmeinnahmen zu beteiligen. Angewendet worden ist es vom Staat New York zwischen 1977 und 1990 elf Mal, unter anderem zweimal im Fall von Mark David Chapman, dem Mörder von John Lennon. (Der oberste Gerichtshof hat sein ablehnendes Urteil übrigens damit begründet, daß bei einem Inkrafttreten Bücher wie David Henry Thoreaus "On Civil Disobedience" oder die "Bekenntnisse" der Kirchenvaters Augustinus verboten werden müßten.

Wie gesagt, dieser Aufruf widerspricht allem, was man in den USA als integralen Bestandteil der eigenen Kultur versteht, als Kern des eigenen politischen Selbstverständnisses. Dennoch dürfte es kein Zufall sein, daß dergleichen mittlerweile lanciert wird. In den letzten Jahren, ach eigentlich schon seit mehr als 30 Jahren, hat in den Vereinigten Staaten eine erschreckende Unkultur der "politischen Korrektheit," der "verstatteten Rede" um sich gegriffen, eine Zensur dessen wer eine Äußerung tätigen darf und vor allem: wie er es tun darf, wer kein Anrecht auf freie Rede hat (darunter fallen Weiße und Männer, in oft grell überzeichneter Form). Auch der Entzug der Kommunikationsplattformen für Präsident Tump - noch während seiner laufenden Amtszeit! - durch Twitter, Facebook und YouTube - ist ein zutiefst alarmierendes Zeichen. Wenn eine Handvoll von Firmenchefs den mächtigsten Politiker der Welt kurzerhand stummschalten können, sollten bei jedem, dem Freiheit und Demokratie am Herzen liegen, alle Alarmglocken läuten. Die die "linke Community", zu denen eben auch "kreative Geister" zum weit überwiegenden Teil zu zählen sind, nach vier Jahren einer unablässigen Dämonisierung Trumps von einem realitätsblinden Haß getrieben wird, nachzutreten und Rache zu nehmen, spielt hier unübersehbar eine Rolle, macht diese Hexenjagd aber erst wirklich gespenstisch.

Wie Yahoo!-News vor einer Woche, am 21. Januar, mitteilte, finden sich unter den Unterzeichnern des Aufrufs Mitarbeiter der fünf größten Verlage der Vereinigten Staaten: Penguin Random House, die Hachette Book Group, HarperCollins, Simon & Schuster und Macmillan. Barry Lyga, der den Aufruf gestartet hat, ist hierzulande wohl ziemlich unbekannt (ich muß gestehen, daß ich diesen Namen nie zuvor gehört hatte); er hat drei Romane für jugendliche Leser und einige Comics verfaßt. Bei der Durchsicht der Liste der Unterzeichner ist das der vorherrschende Eindruck: Nonenities, Nobodys, Unbekannte; Verlagsmitarbeiter, aber aus der kreativen Branche solche aus dem dritten oder vierten Glied. Es gibt ein paar Ausnahmen: so findet sich dort Patrick Nielsen Hayden, der Leiter von Tor Books und Herausgeber des wichtigsten Programms von Science Fiction-Titeln weltweit. Und auch sonst sind die Namen, die mir als Leser geläufig sind, solche von Autoren, die auf dem Gebiet der spekulativen Literatur tätig sind (das hängt natürlich damit zusammen, daß ich dieses Genre seit Jahrzehnten aufmerksam verfolge). Keine der "ganz großen Namen, aber durchaus solche, die als Autoren einen guten Ruf haben und deren Erzählungen mit Preisen bedacht worden sind (wobei festzuhalten ist, daß, anders als im deutschen Literaturbetrieb, diese Auszeichnungen nicht von irgendwelchen Jurys vergeben werden, sondern durch die Bank auf dem Votum von Lesern beruhen): SF-Autoren, die unterzeichnet haben, sind unter anderem Charlie Jane Anders, Kelly Barnhill, Lauren Beukes, Holly Black, Stephen Dedman, Esther M. Friesner, Cassandra Khaw, Mark Stephen Levy, Lisa Mantchey, Sarah Pinsker, Cat Rambo und Greg van Eekhout. (Wobei ich mich frage, mit welchem Recht Frau Khaw von Bürgerin von Singapur und Frau Beukes mit südafrikanischer Staatsbürgerschaft sich als "Amerikaner" gerieren.)

Und hier liegt für mich das eigentlich Erschreckende dieses Vorgangs. Science Fiction als ernsthafte, respektable Literaturgattung bezieht ihren Ruf eben nicht durch spekulative Weltraumabenteuer in ferner Zukunft, in a galaxy far far away, nicht als narrative Umsetzung philosophischer Gedankenexperimente und existentieller Fragestellungen, sondern vor allem aus ihrer Rolle als Warnliteratur, als Dystopie, als die Ausmalung vor dem Verlust von Freiheit, vor der Drohung durch Totalitarismus und absoluter Kontrolle. Die großen Klassiker des Genres aus den vergangenen 100 Jahren haben das wieder und wieder zum Thema gemacht: Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" von 1932, George Orwells "Nineteen Eighty-Four" von 1949, Ray Bradburys "Fahrenheit 451" von 1953 und Margaret Atwoods "Der Report der Magd" / "The Handmaid's Tale" von 1986 sind nur die namhaftesten unter zahlreichen solcher Warnungen.

Wenn nun Vertreter einer Literaturgattung, die dies als die wichtigste und nobelste Tradition ansehen und in Ehren halten, mit Forderungen vortreten, die auf genau solche Einschränkungen, solche Zensur und Kontrolle hinauslaufen, dann ist das mehr als erschreckend. Es ist übler als die Ergebenheitsadressen, die etwa vom sowjetischen Schriftstellerverbund 1960 in "Prawda" und "Iswestija" nach der - befohlenen - Ablehnung des Literaturnobelpreises an Boris Pasternak veröffenlicht wurden oder die erbärmlichen Kotaus, die viele "Kulturschaffende" 1976 nach der Ausweisung von Wolf Biermann an die Führung der SED richteten. So verachtenswert dies auch war: es verdankte sich der prekären Existenz als Künstler unter einem totalitären Regime, das ihnen in jedem Moment bei Mißfallen die Existenz als Autoren, Regisseure, Übersetzer entziehen konnte. Hier handelt es sich um die Anmaßung, von sich aus in die Rolle der Zensoren schlüpfen zu wollen. Um es unumwunden zu sagen: das ist totalitär und sollte auch so genannt werden. Wer seinen Namen unter ein solches Ansinnen setzt, macht sich damit gemein. Es illustriert exakt den berühmten Satz, den Ignazio Silone 1945 nach seiner Rückkehr aus dem schweizerischen Exil zu Francois Bondy gesagt hat: "Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ich bin der Faschismus. Er wird sagen: ich bin der Antifaschismus." Vor allem zeigt sich darin eine Blindheit gegenüber dem eigenen Tun, der eigenen Haltung, die angesichts eben der oben genannten Tradition des Eintretens für die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft das Werk dieser Autoren nachhaltig entwertet. Wer dergleichen vertritt, kann sich nicht mehr auf der Seite der freien Meinungsäußerung wiederfinden.



U.R.

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