Zugegeben: ganz sicher bin ich mir nicht, ob die Falschmeldung - auf Neudeutsch: Fake News, die vor langer Zeit, als in Deutschland noch Journalismus betrieben wurde, der seinem Ruf gerecht wurde, auch als "Zeitungsente" bekannt war - die vor zwei Tagen von "Handelsblatt" gebracht und anschließend von der BILD-Zeitung aufgegriffen worden ist, tatsächlich den Tatbestand der Lüge erfüllt. Dazu gehört nach juristischem wie allgemeinen Verständnis auch der Vorsatz, das Wissen, daß man die Unwahrheit sagt oder schreibt, daß man seine Leser oder Zuschauer bewußt täuscht.
Andererseits kann ich mir aber auch nicht vorstellen, daß bei einer Meldung von solcher Wichtigkeit, von solcher Bedeutung für die jetzt angelaufenen Impfkampagnen in der EU gegen SARS-CoV-2, sämtliche Kontrollmechanismen in den Chefredaktionen der beiden Zeitungen versagt haben sollen. Daß deutsche Journalisten schlicht nicht mehr in der Lage sein sollen, einfache Sätze auf Englisch zu verstehen.
Die Nachricht, in grellem Gelb balkendick in 24-Punkt-Größe gedruckt, lautete, das der Corona-Impfstoff AZD1222 des britisch-schwedischen Konsortiums Oxford-AstraZeneca bei Geimpften, die älter als 65 Jahre sind, nur eine Wirksamkeit von 8 Prozent entfalten würde. Wenn diese Nachricht tatsächlich zutreffen sollte, hätte das gravierende Folgen für das Impfprogramm der EU. Bekanntlich wächst die Anzahl der schweren Verläufe einer COVID-19-Infektion in den Alterklassen über 60 mit ansteigendem Alter exponentiell; auch das Risko eines tödlichen Verlaufes steigt damit rasant. Ein Impfstoff, der nur bei jedem zwölften Geimpften eine Schutzwirkung entfaltet, wäre für die am meisten Gefährdeten schlicht nutzlos.
Hinter der deutschen Zeitungsmeldung verbirgt sich aber implizit ein weiterer Vorwurf, der vielen, die sich in den letzten zwei zu Thema geäußert haben, in seiner Ungeheuerlichkeit gar nicht aufgegangen zu sein scheint: AstraZeneca hat am 30. August 2020 in den USA mit der abschließenden Testphase III mit einer Kohorte von 30.000 Teilnehmern begonnen und weitere Massentests in England, Brasilien, Südafrika, Japan und Indien durchgeführt. Die vorläufigen Ergebnisse wurden auf einer Pressekonferenz der Universität Oxford und AstraZeneca bekanntgegeben (darauf ergab sich nach dem damaligen Stand der Auswertung eine Wirksamkeit zwischen 62% und 90%). Der offizielle Abschlußbericht wurde am 8. Dezember 2020 veröffentlicht und berücksichtigte die Herabsetzung der verabreichten Impfstoffmenge, die zu einer allgemeinen Effektivität von 90% führte. Die britische Regierung hat am 27. November eine Notzulassung der Vakzine beantragt, die am 30. Dezember erteilt worden ist. Wir hätten es also, sollte der Bericht von BILD und "Handelsblatt" zutreffen, mit einer bewußten Täuschung der Herstellerfirma, der britischen Regierung und der britischen Zulassungsbehörde, der Medicines and Healthhcare Products Regulatory Agency zu tun, die bewußt den Tod von Abertausenden von betagten Bürgern in Kauf nimmt, ihnen aber das Wissen darum vorenthalten würde.
Auch für Deutschland bildet AZD1222 das Rückgrad der Impfkampagne; die Bundesregierung hat bei AstraZeneca das Doppelte der Impfdosen gegenüber der Menge bei Pfizer/BioNTEch vorbestellt; es gibt in Deutschland mehr als 20 Millionen Menschen im Alter über 65 Jahren; wäre die Vakzine für diese Menschen wirkungslos; wäre das Versprechen der Bundesregierung, diese Menschen bis zur Mitte des Sommers mit Vollschutz zu versehen, Makulatur.
Es ist kein Wunder, daß die deutschen Zeitungsberichte in England hohe Wellen geschlagen haben: nach dem Bericht der "Daily Mail" ist die Angelegenheit am Dienstagmorgen bei der Kabinettssitzung in Downing Street Nr. 10 zur Sprache gekommen und rundheraus als Falschmeldung benannt. Auch das deutsche Gesundheitsministerium hat gestern Nachmittag ein Dementi herausgegeben: die Berichte entbehrten jeglicher Grundlage.
Etwa anderes ist nach den oben umrissenen Implikationen auch gar nicht zu erwarten. Die Vorstellung, hier könnten Regierungen, Pharmafirmen und Regulationsbehörden nicht nur bewußt sämtliche Sorgfaltspflichten außer Acht gelassen haben und seien an einem Komplott zur bewußten Schädigung ihrer Bürger beteiligt, ist von jener Art, wie sie unsere Medien reihum seit Monaten nur bei "Coronaleugnern" verorten. (Das widerspricht nicht dem an dieser Stelle vor kurzem ausgesprochenen Verdikt, die Bundesrepublik Deutschland und die EU-Kommission hätten in krimineller Weise bei der Beschaffung der Impfstoffe versagt. Offenkundig haben sie das. Aber dahinter sehe ich kein bewußtes, zielführend auf maximalen Schaden ausgerichtetes Handeln, sondern nur völlige Unfähigkeit, Blindheit für die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen, absolute Beratungsresistenz und maßlose Selbstüberschätzung am Werk. Das sollte freilich nicht verhindern, die Verantwortlichen dafür, allen voran Frau von der Leyen, Frau Merkel und Herrn Spahn zur Verantwortung zu ziehen. Es ist ihre Aufgabe, die Krise zu bewältigen und die richtigen Schritte einzuleiten; sie tragen die Verantwortung für dieses unfaßbare Versagen.)
Die Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums von gestern enthält einen Hinweis auf das, was man wohl als "offizielle Erklärung", also den Versuch, das Medienversagen schönzufärben und zu entschärfen, werten darf:
"Auf den ersten Blick scheint es so, dass in den Berichten zwei Dinge verwechselt wurden: Rund acht Prozent der Probanden der AstraZeneca-Wirksamkeitsstudie waren zwischen 56 und 69 Jahren, nur 3 bis 4 Prozent aber 70 Jahre. Daraus lässt sich aber nicht eine Wirksamkeit von nur acht Prozent bei Älteren ableiten."
Mit anderen Worten, deutsche Journalisten sind einfach zu schlicht, um den Gehalt einfacher Sätze lesend zu erfassen. Die messen schon gern mal den Stromverbrauch in Gigabyte und halten das Stromnetz für einen Speicher. Ohne Zweifel: solche Koryphäen gibt es im Big Business des Nachrichtengeschäfts. Ich kann nicht ausschließen, daß die Falschmeldung sich der Gier nach der sensationellen Schlagzeile verdankt; ich war nicht dabei, als sich die Chefredaktionen entschlossen haben, dies als Aufmacher zu nehmen. Aber es überzeugt mich nicht.
Die Konsequenz, die diese Nachricht hätte - wenn, ja wenn sie denn zutreffen würde - wäre dermaßen gravierend, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß ein verantwortlicher Chefredakteur dergleichen ungeprüft ünernehmen würde. Dazu bedarf es nicht viel: es genügt, daß sich ein oder zwei weitere Journalisten in der Chefredaktion die Meldung ansehen und sie mit der Quelle, aus der sie entnommen ist, vergleicht. Wir wissen zwar, daß massive Fälschungen, Münchhausiaden und platte Lügen auch bei großen Medien vorkommen - nicht erst seit "sieh da, sieh da, Timotheus - die Enten des Relotius!", sondern auch schon, seit bekannt wurde, daß Ryszard Kapuściński einen Großteil seiner Reiseberichte aus Afrika schlicht erfunden hat (womit er es nur seinem großen Vorbild Egon Erwin Kisch gleichtat). Aber hier liegt der Fall anders. Bei Claas Relotius & Co. handelte es sich um "Frontberichte von Einzelkämpfern," um Stimmungsbilder (die im Fall von Relotius gezielt benutzt wurden, um ein gewünschtes Bild bei den Lesern zu erzielen), die nicht überprüfbar waren und den rasenden Reportern die Stellung des Ishmael in "Moby-Dick" verliehen: "Was tritt noch einer vor? Es hat das Drama überlebt." Hingegen ist es ein leichtes, auch für einen deutschen Journalisten, den Inhalt der Wirksamkeitsstudie von Pfizer/BioNTech, dem MHRA Approval Public Assessment Report, einzusehen und festzustellen, daß es dort heißt, daß bei den Probanden aller Alterskohorten eine "starke Immunreaktion" als Folge des Impfung auftrat. Um solche Falschmeldungen zu vermeiden, gibt es eine Chefredaktion und zweimal täglich eine Redaktionskonferenz, die über die Berichte und deren Inhalte abstimmt - vor allem auch in einer solchen bedeutenden Angelegenheit (Man muß das nur mit jenem berüchtigten Fall von journalistischem Versagen vergleichen, der einem beim Stichwort "Medienente" sofort in den Sinn kommt: den "Hitler-Tagebüchern." Die Redaktion des STERN hat sich durch die Aussicht auf einen sensationellen Coup 1983 auf blamabelste Art hinters Licht führen lassen; aber es stand nicht die Gesundheit von Millionen von Menschen auf dem Spiel.)
Mich beschleicht hingegen der Verdacht, daß man von Seiten der Redaktionen die Flaschmeldung - und ihre schnelle Wiederlegung bewußt in Kauf genommen haben könnte. Weil diejenigen, die in diesem Metier arbeiten, in den letzten Jahren gelernt haben, daß es auf Fakten, Sachverhalte und tatsächliche Äußerungen gar nicht mehr ankommt. Daß es ausreicht, eine Falschmeldung nur in den Medien zu lancieren und oft genug zu wiederholen, um sie als unverbrüchliche Wahrheit in den Köpfen der Zuschauer zu veran kern, die durch keinen tatsächlichen "Faktencheck" mehr richtiggestellt werden kann. Das Paradebeispiel haben ebendiese Medien - hier vor allem: die US-Medien - 2017 am Beispiel von Präsident Trump mit dem "Very-Fine-People-Hoax" geliefert. Behauptet wurde, Donald Trump habe anläßlich einer Demonstration gegen den Abriß eines Denkmals des Südstaatengenerals Robert E. Lee, bei dem es zwischen Gegnern und Beführwortern der Aktion zu Gewalttätigkeiten gekommen war, und bei denen auch als solche erkennbare Neonazis aufmarschiert waren, erklärt, auf beiden Seiten seien "sehr anständige Leute" beteiligt gewesen und er habe eben diese Neonazis als "very fine people" bezeichnet. Dieser Medienmythos ist die mittlerweile am häufigsten widerlegte Geschichtsfälschung, der sich die US-Medien je schuldig gemacht haben. Präsident Trump hat wiederholt die Gewalttäter eindeutig verurteilt und ihre Bestrafung gefordert; seine Rede bezog sich einzig auf die friedlichen Demonstranten, die in der Beseitigung des Denkmal einen Ansatz zur Geschichtsfälschung befürchteten. Trumps entsprechende Äußerungen sind in Sekundenschnelle im Netz aufzurufen. Allein das hat der Version der Medien keinerlei Abbruch getan. Joe Biden hat seinen Wahlkampf im vorigen Jahr mit einer expliziten Wiederholung begonnen und hat sie oft wiederholt. Ebenso wurde Trumps Frage im Sommer, ob ultraviolettes Licht zur Bekämpfung des Coronavirus wirksam eingesetzt werden könnte - und es handelte sich um eine Auskunftsfrage: ob das überhaupt ein denkbarer Ansatz sei - von den Medien verfälscht, er habe den Vorschlag gemacht, zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 "Bleichmittel zu injizieren."
Wenn die Medienmacher - auf beiden Seiten des Atlantiks - also etwas gelernt haben, dann, daß es keinerlei Konsequenz hat, wie falsch die Meldungen, die sie bringen, auch sein mögen: wenn sie nur die von ihnen gewünschte Tendenz transportieren. Und ich hege den Verdacht, daß es kein Zufall ist, daß AstraZeneca als britischer Konzern hier Ziel einer solchen Aktion geworden ist. Wer sich in den letzten zwei Tagen auf sozialen Medien wie Facebook und Twitter umgetan hat, weiß, wie sehr die Auslassungen mit dem Tenor "die Regierung hat wirkungslosen Impfstoff beschafft!" mittlerweile ins Kraut geschossen sind. Natürlich kann ich nicht beweisen, daß hier der Versuch vorliegt, von der katastrophalen Impfstoffbeschaffung der deutschen Regierung und der EU-Kommission abzulenken, und gleichzeitig das "perfide Albion" im Nachhinein für den Affront des Brexits abzustrafen.
Aber der Verdacht liegt immerhin nahe.
U.E.
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