Vielleicht bin ich auch nur zu anspruchsvoll.
Und zudem ist es mißlich, den Stab über einen Film zu brechen - oder über einen Roman, ein Theaterstück - ohne ihn gesehen (oder gelesen) zu haben, nachgerade aus willentlicher Ignoranz. Soweit ich weiß, hat sich nur Julie Burchill, selbsternannte Königin des "literarischen Punks" und britische Kultur-Krawallnudel, in den "Plattenkritiken" dazu verstiegen, die sie über neue Pop- und Rockalben, noch bevor sie auf dem Markt waren, Ende der 1980er Jahre für den New Musical Express geschrieben hat.
Außerdem ist mir klar, und das seit Jahrzehnten, daß im Genre der Science Fiction hanebüchene Prämissen, wildeste Unwahrscheinlichkeiten und das Ignorieren aller Naturgesetze eher die Regel als die Ausnahme darstellen - und daß die audiovisuelle Spielart in Filmen und Fernsehserien hier noch einmal ungenierter mit der Realität umspringt. Selbst in der sogenannten "harten Science Fiction" - in der sich ein Autor bemüht, sich an den Erkenntnissen der Physik und Astronomie zu orientieren und seine Handlungen und die Spielregeln seiner Geschichte daran ausrichtet - ist es durchaus verstattet, etwa einen "Überlichtantrieb" zu postulieren, dessen tatsächliche Konstruktion die Relativitätstheorie kategorisch ausschließt, damit die Mannschaft (bzw. Diversschaft) des Sternenkreuzers "Markus Söder" der Bavarian Space Agency nicht diverse Jahrtausende braucht, um beim Orionnebel - Distanz: 1.200 Lichtjahre - einzutreffen. Aber wenn sie am Ziel aus dem Hyperraum ins Raumzeitkontinuum zurückstürzen, erwartet der Leser, daß sie unter Beachtung der naturgesetzlich verhängten Verkehrsregeln auf Beteigeuze III landen - und nicht, indem sie sich wie einst Pan Tau an die Melone tippen. (Das Beispiel macht klar, daß auch hier die Grenzen fließend sind: daß sich Captain James Tiberius Kirk und alle seine Nachfolger im Trekkieversum ohne Empfangsstation an beliebige Ziele beamen konnten, war den Budgetbeschränkungen der ersten Staffel von 1966 geschuldet, die den Bau einer Raumfährenattrappe nicht zuließen; die Spielwarenfirma Mattel hat dem Studio Desilu, das die drei Staffeln der "Original Series" produzierte, das "lebensgroße" kastenförmige Modell, das ab Folge 27 zum Einsatz kam, im Gegenzug für die Produktionsgenehmigung des Merchandisings finanziert. NARRATOLOGISCH entspricht das Beamen eben jenem "Rücksturz in den Normalraum" oder dem plötzlichen Auftauchen eines Zeitreisenden und bricht, wenn sich der Zuschauer einmal an dieses Versatzstück gewohnt hat, nicht den stillschweigenden Kontrakt, den Samuel Taylor Coleridge 1817 als "willing suspension of disbelief" bezeichnet hat - die Bereitschaft, solche Unmöglichkeiten um der Geschichte willen zu akzeptieren.)
Anders als bei einem Roman mit seiner Laufzeit von mehreren Hundert Seiten und einem Investment an mehreren Tagen Lesezeit verfügt ein Film zudem über den Vorteil, daß die Dynamik der dramatischen Handlung die wilden Ungereimtheiten oft gnädig zudeckt. Daß es vollkommen absurd ist, wenn die "Nostromo" im ersten "Alien"-Film von 1979 MetallERZ über interstellare Entfernungen zur Erde transportiert, um es dort verhütten zu lassen, spielt im weiteren Verlauf des Film keine Rolle, ebensowenig wie der hanebüchene Auftakt von Christopher Nolans "Interstellar" von 2013, bei dem die Getreidesorten, von denen sich die Menschheit ernährt, die Reproduktion verlernt haben - was die Evolution in 500 Millionen Jahren nicht geschafft hat - die Erde sich daraufhin von Pol zu Pol in einen Dust Bowl verwandelt hat und die Menschheit das Problem nicht etwa mit Ingenium und Forschung angeht, sondern die Wissenschaft schlichtweg verbietet, und das praktischerweise weltweit. (Daß der Film trotzdem ein einziges Ärgernis darstellt, liegt daran, daß er sich auch im Folgenden in seinen Ungereimtheiten und logischen Brüchen heillos verheddert.) Filme, denen es auf wilde galaktische Abenteuer ankommt oder satirischen Klamauk, wie etwa John Carpenters "Dark Star" oder "Galaxy Quest," sind von solchen Einhegungen sowieso ausgenommen, weil dergleichen den Fundus abgibt, mit dem sie ihren Mummenschanz in Szene setzen und parodieren.
Aber es gibt Filme, die auf einer derartigen Verbiegung der Wirklichkeit fußen, deren Handlung ohne solchen Schindluder gar nicht möglich wäre, daß ich nicht bereit bin, mir dieses Produkt der Unterhaltungsindustrie anzutun. Ein solcher Film ist George Clooneys neuer Film, "The Midnight Sky" (Produzent: George Clooney; Regie: George Clooney; Hauptdarsteller: George Clooney), der eigentlich als sommerlicher "Blockbuster" in zahlreichen IMAX-Kinos anlaufen sollte und aufgrund der Coronaepidemie seit seit Mitte Dezember über den Streamingdienst Netflix abrufbar ist, und nach Angaben des Anbieters der meistabgerufene Film der letzten vier Wochen war. Carlos A. Gebauer hat vor ein paar Tagen auf der Achse des Guten einen mit Verve geschriebenen Verriß über die Ungereimtheiten und Zumutungen dieses Weltuntergangsdramas publiziert, auf den an dieser Stelle verwiesen sei. Der Film beruht auf dem Erstlingsroman Good Morning, Midnight von Lily Brooks-Dalton, der 2016 erschien und ohne jedes Echo (vielleicht nicht überraschend) in den Rezensionssparten der auf das Genre spezialisierten Publikationen und Webseiten blieb. Das Branchenmagazin "Publishers Weekly" befand immerhin, die Autorin versuche einen dürren Plot mit grandioser Theatralik zu kaschieren. Das mag wohl der Anlaß gewesen sein für die Georgianische Dreifaltigkeit, sich des Stoffs anzunehmen und dieses doppelte Kammerspiel vor der Kulisse des finalen Untergangs der Menscheit zu inszenieren. Aber mir geht es um einen speziellen, kleinen Aspekt, den ich noch in keiner der (zumeist recht begeisterten) Kritiken angesprochen gefunden habe, und der allein für mich Grund ist, den Daumen darüber zu senken. Und wenn dies als Erbsenzählerei empfunden wird, kann ich damit leben.
Die Hauptperson von Clooneys Film - und von Brooks-Daltons Roman - ist der Astronom Augustine Lofthouse (George Clooney), der sein Leben der Suche nach bewohnbaren Planeten im Weltall gewidmet hat und dessen Sozialleben deshalb nichtexistent ist und dessen Ehe an seiner Besessenheit zerbrochen ist. Bei diesem Topos handelt es sich freilich um ein Klischee, das sich seit Jahrhunderten hält: die Befassung mit den Tiefen des Alls als Zeichen einer Menschenfeindschaft, zumindest aber Lebensuntüchtigkeit, die mitunter nur dadurch zu kurieren ist, daß dem so Besessenen das Observatorium über dem Kopf angezündet wird (wie in Christopher Frys Drama "Venus Observed" von 1950), die Opfer von billigen Betrügereien werden (wie in Haydns Oper "Il Mundo della Luna" von 1777) oder zumindest zerstörerisch auf ihr Umfeld und diejenigen wirken, die das Unglück haben, in den Bannkreis des Betroffenen zu geraten (in Thomas Hardys Roman "Two on a Tower" von 1882 ebenso wie in Andrew Sean Greers Erstlingsroman "The Path of Minor Planets" von 2001). In Wirklichkeit, außerhalb des Einzugsbereichs des Klischees, sind Astronomen genau so sozial und konkurrenzneidisch beschaffen wie alle Kollegen, die in den forschenden MINT-Abteilungen ihr Werk tun. Wer realistische Schilderungen aus diesem Milieu lesen möchte, kann sich an die Erzählungen von Robert S. Richardson (1902-1981) halten, der im Hauptberuf Astronom tätig war und zeitweise am Palomar-Observatorium arbeitete und Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Sachartikel für SF-Magazine wie Astounding oder Galaxy verfaßte und sein professionelles Milieu als Hintergrund für Kurzgeschichten wie "The Red Euphoric Bands" (1966), "Under the Dragon's Tail" (1967) oder "The Xi Effect" (1950) verwendete, die er unter dem Pseudonym "Philip Latham" publizierte.
Lofthouse/Clooney ist auf seine alten Tage (im Buch ist er 79) im Jahr 2049 auf einer Polarstation hoch im ewigen Eis der Arktis gestrandet; ihm verdankt die Welt die Entdeckung, daß der Planet Jupiter einen Mond besitzt, der für Menschen bewohnbar ist. Die Menschheit selbst wird durch eine nicht weiter erläuterte Katastrophe in Tagesfrist ausgelöscht; die verbliebenen Forscher der Station fliehen in die Zivilisation zurück (so wie die Marskolonisten in Ray Bradburys Marschroniken geschlossen zur Erde zurückkehren, nachdem dort ein Atomkrieg ausbricht); Clooney bleibt allein zurück, weil er aufgrund seiner Krebserkrankung sowieso nicht mehr lang zu leben hat. Clooneys Aufgabe besteht darin - neben dem Meistern der Unbillen der täglichen Lebensführung - Kontakt mit dem Raumschiff "Aether" aufzunehmen, das mit sechs Astronaut_*innen zum von Clooney entdeckten Jupitermond K-23 aufgebrochen ist, um diese Lebensbedingungen von nahem in Augenschein zu nehmen (das realiter übliche Verfahren, erst einmal ein paar robotische Späher vorzuschicken, scheint 2040ff. obsolet). Clooneys heroischer Trek über das Eis dient dem Zweck, eine Sendeantenne in einer noch weiter nördlich gelegenen Station in Betrieb zu nehmen, da seine Funkausrüstung zwar ausreicht, weit hinter dem Orionnebel nach bewohnbaren Welten Ausschau zu halten, aber nicht, um mit einem Raumschiff Kontakt aufzunehmen, daß sich auf dem Rückweg zur Erde befindet und zu dem die Signallaufzehn im Jupiterorbit maximal 52 Minuten beträgt. Die Mannschaft, bzw. Diversschaft, der niemand während des Untergangs der irdischen Zivilisation Meldung davon gemacht hat, daß auf Erden jetzt der Vorhang gefallen ist, wundert sich nur über die Funkstille, geht aber gelassen ihrem Tagwerk nach. (Auch dies ist ein Topos, der - bei aller Unwahrscheinlichkeit - durchaus schon in Genrewerken figuriert hat: die verlassene Erde, die ein Raumkreuzer nach dem Austritt aus dem Hyperraum vorfindet, kommt in Poul Andersons "After Doomsday" (1962) ebenso vor wie in John Brunners "The Astronauts Must Not Land" (1963); in Roland Rosenbauers Anthologie "Computerspiele" (1980) diente als Szenario als Auftakt für die Erzählungen, in denen die geladenen Beiträger dieses Rätsel lösen sollten. Eine Expedition zum Jupiter, die den Funkkontakt zur Erde verliert und auf einer verwüsteten Erde notlanden muß, war Thema des Fernsehfilms "Operation Ganymed," den Rainer Erler 1977 für das ZDF inszeniert hat.)
In "The Midnight Sky" ist die Erdatmosphäre vergiftet, die Oberfläche ein Kraterfeld; ein Überleben nur noch im Bereich der Pole möglich. Clooney gelingt es, die "Aether" zu kontaktieren, deren Besatzung bereits auf vier reduziert worden ist, weil die Hauptantenne durch Meteoriten beschädigt wurde und bei der Reparatur zwei der Astronauten Opfer einer zweiten Meteoritenschauers wurden. Zwei weitere Astronauten verglühen beim Landeversuch in der Erdatmosphäre, weil einer von ihnen darauf besteht, die Leiche seiner Tochter zu suchen. Clooney bleibt als letzter Mensch im Dämmerschein auf der Erde zurück, und ein neues erstes Menschenpaar setzt mittels eines Swingby-Manövers wieder Kurs auf K-23, um als Adam-&-Eva 2.0 einen Neustart zu versuchen.
Die haarsträubende Konstruktion dieses Plots, dieser Plotte ist offenkundig. Daß sich die zweite Eva auch noch als Clooneys Tochter entpuppt, dessen Werk sie zu ihrer Karriere als Raumfahrerin inspiriert hat, fällt da schon gar nicht mehr ins Gewicht; so wenig wie die Tatsache, daß das kleine Mädchen, das Lofthouse in der Cafeteria der Station entdeckt hat, das nicht spricht und das er in passende Thermokleidung steckt, als er mit ihr zu seiner Odyssee aufbricht, sich als Halluzination oder Projektion eben dieser Tochter herausstellt. Solche Mystagogismen sind leider, zumindest seit "2001 - A Space Odyssey," Markenzeichen von Genrefilmen geworden, die sich den Anschein "höherer Bedeutung" geben wollen (und dabei in der Regel nur Kitsch hervorbringen, der beim Zuschauer Anlaß zu ausgiebigem Fremdschämen ist; auch "Interstellar" trieft davon). Da macht es auch nichts, daß Clooney seiner Filmtochter während ihres letzten Gesprächs erzählt: "I’m afraid we didn’t do a good job of looking after the place while you were away" - obwohl die Katastrophe, die die Menschheit ausgelöscht hat, eben ersichtlich kein Menschenwerk darstellt. (Wer sich fragt; woher ich solche Passagen referieren kann, ohne den Film gesehen zu haben: ich habe das Transkript überflogen, das sich hier findet.) Geschenkt auch, daß ein einzelnes Menschenpaar zur Neubegründung von Genus Homo keine hinreichende Basis bietet. Der Meteoritenschwarm entspricht ganz dem alten, aber grundfalschen Klischee in frühen SF-Erzählungen, die Raumschiffe gern in Siebe verwandelten: dicht gepackte Schauer faustgroßer Gesteinstrümmer. In Wirklichkeit bestehen selbst die prächtigsten Meteorströme aus höchstens millimetergroßen Brocken, und zwischen den einzelnen Partikeln liegen Dutzende von Kilometern. Jeder Blick auf dem Höhepunkt etwa der Perseiden oder Geminiden macht das anschaulich, wenn man kurz die Relationen überschlägt. Dutzende von Raumsonden haben in den vergangenen Jahrzehnten dieses interplanetare Sargassomeer durchquert, ohne daß es zu Havarien gekommen wäre.
Mißlich ist vor allem, daß dieser Film seine "Botschaft" ernst meint (um nicht zu sagen: daß er mit dem Holzhammer philosophiert): es geht um das Faustische, das "höchste Streben des Menschen", um die Sinnhaftigkeit und Vergeblichkeit des "Lebens an sich" und dem Dasein auf Erden (sonor brummelt Clooney den Flachsinn vor sich hin, der in Hollywood als Existenzphilosophie durchgeht: "Been thinking a lot about time - and how it gets used and why. Why one person lives a lifetime and another only gets a few years," während er durch die Eiswüste stapft).
Es sind aber nicht all diese Abstrusitäten, die mich veranlassen, dieses Werk von meiner Liste zu streichen, sondern wie erwähnt der grundsätzliche Aufbau, der der Handlung zugrunde liegt. Das Buchfassung beginnt im Jahr 2019 mit Lofthouses Bekanntgabe, einen bis dahin unbekannten Mond des Jupiter entdeckt zu haben. Der Film macht keine dafür keine präzisen Zeitangaben, spricht aber ebenfalls von dreißig Jahren. Und zeigt sich ein derart eklatanter Bruch mit der Wirklichkeit, in der das Werk zu spielen vorgibt, daß es unakzeptabel wird. Es handelt sich explizit um den fünften Planeten unseres Sonnensystems, wie wie ihn kennen. Es handelt sich nicht um einen Irrtum, den man als Rezipient zu übersehen geneigt ist - wie etwa im Fall von Williams Goldings Roman "Herr der Fliegen," wo der erste Akt der in die Barbarei abgleitenden Schülertruppe auf ihrer Robinson-Insel darin besteht, dem Klassendickerchen Piggy die Brille zu stehlen und ihn so fast blind zurückzulassen; sie brauchen die dicken Gläser als Brennglas zum Feuermachen. Nun werden aber vergrößernde Linsen bei Sehhilfen für Weitsichtigkeit verwendet; Kurzsichtigen verkleinert die Brille alles. Weitsichtigkeit aber hätte Piggy nicht sonderlich behindert. Es handelt sich auch nicht um einen kleinen barocken Schlenker in der Tradition des Magischen Realismus wie in Garcia Marquez' "Der Herbst des Patriarchen," wo eines Morgens in den Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die "Santa Maria," die "Nina" und die "Pinta" des Columbus in den Hafen von Cartagena einlaufen. Ein Himmelskörper, der eine Atmosphäre aufweist, die für Menschen atembar ist, muß recht genau die Größe der Erde aufweisen; selbst der Mars, der rund ein Zehntel der Masse der Erde und ein Drittel ihrer Schwerkraft an ihrer Oberfläche aufweist, besitzt nur eine Lufthülle, die ein Hundertstel ihrer Dichte besitzt.
Die vier "galileischen Monde" des Jupiter sind von Galileo Galiei im Januar 1610 entdeckt worden, als er zum ersten Mal sein Teleskop auf den hellsten Wandelstern am Himmel richtete. Wohl etwas eher, im November 1609, machte Simon Marius seine ersten Beobachtungen im bayerischen Amberg; er begann mit einer systematischen Aufzeichnung am 8. Januar 1961, nachdem ihm die regelmäßigen Wiederholungen der Positionswechsel aufgefallen waren. Galileis erste Beschreibung erfolgte am 7. Januar 1610 in einem Brief an den Dogen von Venedig, Leonardo Donato (als ein Beispiel für die unerhörte Leistungsfähigkeit, dem er sein Instrument unter dem Siegel der Verschwiegenheit als militärisches Hilfsinstrument anbot). Marius' erste Beschreibung findet sich in seinem in Nürnberg gedruckten "Prognosticon auf 1611." Die Gleichzeitgkeit der Entdeckungen zog einen erbitterten Plagiatsstreit zwischen den Kontrahenten nach sich. Langer Rede kurzer Sinn: die vier großen Jupitermonde sind so groß und hell, daß sie dem einen oder anderen Beobachter im Lauf der letzten 400 Jahre aufgefallen wären. Ganymed, der hellste, mit 4600 Kilometern Durchmesser etwas größer als der Erdmond, besitzt eine Helligkeit von 4,6 Größenklassen und wäre mit bloßem Auge problemlos zu erkennen, wenn er nicht so nahe neben dem Planeten stünde, daß er in dessen Glanz untergeht. Ein erdähnlicher Planet wäre so hell, daß er auch unter diesen Bedingungen als kleiner Doppelstern neben Jupiter sichtbar wäre. Seit 47 Jahren haben acht Raumsonden das Jupitersystem besucht; sechs davon als Stippvisite; zwei sind in eine Umlaufbahn eingeschwenkt (Galileo 1995-2003 und Juno 2016). Millionen von Sternfreunden und Abertausende professionelle Astronomen haben den Riesenplaneten unentwegt beobachtet; das Spiel des Verschwindens und Auftauchens der Monde aus dem Schatten gehört zu den Anfangsübungen auf diesem Gebiet. Der dänische Astronom Ole Rømer entdeckte anhand dieser Beobachtungen 1676, daß sich Licht mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitet. Rømers Vorhaben war die Erstellung eines "Jovilabiums," einer Zeittafel, mit der man anhand dieses Auftauchens und Verschwindens eine "universelle" Zeit bestimmen konnte und durch den Vergleich mit der lokalen Zeit, die man durch den Höchstand der Sonne am Mittag ermitteln konnte, den Längengrad, auf dem man sich befand, bestimmen konnte - ein für die Nautik für lange Jahrhunderte unlösbares Problem bis zur Entwicklung der Harrisonschen Präzisionschronometer im 18. Jahrhundert.
Rømer bediente sich dafür der ersten halbwegs genau gehenden Pendeluhren, nach dem Prinzip, das Christiaan Huygens 1673 in seinem Buch "Horologium Oscillatorium: Sive de Motu Pendulorum ad Horologia Aptato Demonstrationes Geometricae" beschrieben hatte: die Reduktion des Pendelausschlages, die bei den vorigen Modellen in einem Kreisbogen von 80 bis 110 Grad geschwungen hatten, auf weniger als vier Grad reduzierte die Störungen der Oszillation erheblich und ermöglichte so eine Ganggenauigkeit von gut 10 Sekunden am Tag. Rømer entdeckte, daß die Bedeckungen der Jupitermonde eine gute halbe Stunde eher eintraten, wenn er uns auf seiner Bahn am nächsten war als bei seiner größten Entfernung. Der genaue Wert der Lichtgeschwindigkeit blieb freilich noch unklar, da die tatsächliche Entfernung der Planeten nicht bekannt war, nur das Verhältnis ihrer Bahnen zueinander.
Natürlich hat sich die Sicht der spekulativen Literatur auf unsere planetare Umgebung in den letzten Jahrhunderten geändert. Bis in die fünfziger Jahre konnte man es noch vertreten, etwa auf Mars oder Venus halbwegs erträgliche Lebensbedingungen vorzufinden; bis die Besuche der Raumsonden diese Annahmen ins Reich der Fabel verwiesen. Aber daß eine "zweite Erde" dort bis 2019 unentdeckt geblieben wäre, stellt an meine Phantasie Anforderungen, die den Rahmen des Verstatteten sprengen. Es ist, als wollte jemand eine Geschichte auf dem verlorenen Kontinent Atlantis spielen lassen - ohne ihn erneut aus den Fluten steigen zu lassen (wie in Hans Dominiks gleichnamigem Roman) oder einen Zeitsprung zu bemühen, sondern einfach Frl. Greta Thunberg auf ihrem Trip zu den UN 2019 darauf stoßen lassen, nachdem ein paar Jahrhunderte christlicher Seefahrt und Jahrzehnte von Satellitenaufnahmen diesen Kontinent schlicht übersehen hatten.
Auch mit der Bewohnbarkeit einer solchen Welt dürfte es nicht zum Besten stehen. Der Film läßt zwar einiges an sinnfreiem "Technobabble" ab ("the moon's atmosphere is governed not by the sun, but by its thermal volcanic activity ... it appears as though it's being heated from the inside out"); aber die Galileischen Monde, deren Ozeane unter ihrem kilometertiefen Eispanzer durch Gezeitenrieb in flüssigem Zustand gehalten werden, entwickeln längst nicht genug thermische Energie, um diese Eisecken aufzuschmelzen. Ganymed etwa verfügt über eine Oberflächentemperatur von -150° Celsius am Äquator, und -220° an den Polen - keine guten Bedingungen für die Weizenfelder, die im Film auf K-23 im Abendlicht wehen. Überhaupt die Nomenklatur: es sind mittlerweile 79 Monde im Jupitersystem bekannt; die größeren tragen ausnahmslos Namen; die kleineren - Gesteinsbrocken von wenigen Kilometern oder Hunderten von Metern Durchmesser, werden nur mit den Kürzeln bezeichnet, die auch die "getauften" unter ihnen wie Eirene oder Philophrysine tragen: etwa S/2016 J 1 oder S/2011 J 2, wobei S für "Satellit" steht, die Zahl für das Entdeckungsjahr und das J darauf verweist, daß es sich um einen Trabanten des Jupiter handelt. K-23 für einen Jupitermond ist ein lächerlicher Name, wie Stechus Cactus oder Schw... Longus. Man könnte es als schwergängige Symbolik verbuchen, daß der Film die Erde so unbewohnbar macht wie es das Jupitersystem ist und umgekehrt - die ionisierende Strahlung, die im Film zur Vernichtung alles terrestrischen Lebens führt, macht in unserem Universum die Umgebung des Jupiter zu einer absolut lebensfeindlichen Zone für prospektive Besucher von der Erde.
Nun könnte man sagen: wozu der Aufwand? Mit kritischen Kanonen auf Spatzen schießen? Der Film gefällt dir nicht, und gut. Schon recht. Aber mir scheint sich hier ein Phänomen zu zeigen, daß mir des öfteren aufgefallen ist: Es scheint "Locations" zu geben, durchaus mythisch besetzte Schauplätze, über die sich kein guter Film inszenieren läßt - aus welchen Gründen auch immer. Das Stichwort "Atlantis" fiel schon. Dort, wo dieses Mythologem als Schauplatz eines Films gewählt wurde, ist ausnahmslos Klamauk und Sandalenkitsch herausgekommen. Für das alte Ägypten der Pharaonen gilt das Gleiche: von Boris Karloffs Mumiengrusel von 1932 über Elizabeth Taylor als Kleopatra bis hin zu Emmerichs "10,000 B.C." gruselt es jeden Zuschauer - aber eben nicht aus den intendierten Gründen. Der rote Planet Mars schien mir lange Zeit der dritte Anwendungsfall. Von Karl Freunds "Rocketship XM" von 1950 mit seinen durch ein Rotfilter abgelichteten Steinzeitmenschen (der Film war ein Schnellschuß, mit dem das Studio der Premiere von George Pals lange angekündigtem "Destination Moon" vorgreifen wollte) über "Robinson Crusoe on Mars" (1964) und "Total Recall" (1986) bis hin zu "Destination Mars" (2000) und John Carpenters "Ghosts of Mars" (2001) haben diese Streifen ausnahmslos ein erstaunlich hohes Fremdschämpotenzial - ganz zu schweigen von der dreiteiligen Fernsehverfilmung von Bradburys "Marschroniken" von 1979. Ridley Scotts Verfilmung von Andy Weirs Roman "The Martian" brach dann 2015 das Gesetz der Serie und bewies, daß man auch dort einen exzellenten Film ohne triefenden Kitsch, Beleidung aller Kenntnis um die Naturgesetze und billigster Metaphysik ansiedeln kann.
Wie es scheint, haben der Jupiter und seine Monde mittlerweile diese Rolle übernommen. "2001 - A Space Odyssey" läßt zwar den als Sternentor fungierenden dritten Monolithen um den Jupiter kreisen; aber der Film benutzt dies nur als Bahnsteig zum Umsteigen zur galaktischen Odyssee. Die Fortsetzung von Peter Hyams, "2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen" hingegen suhlt sich recht gefällig im raunenden Kitsch ("Es wird etwas Wunderbares geschehen!"); auch Sean Connery macht auf der Strafkolonie auf Io in "Outland" (1981) alles andere als Bella figura. Von Erlers "Operation Ganymed" bleiben nur ein paar deutsche Kleinschauspieler in Erinnerung, die sich prügeln, weil einer von ihnen darauf besteht, die Bodenproben, die einziger Zweck des ganzen Unterfangens waren, tatsächlich mit zurück in de Zivilsation zu bringen. "Europa Report" (2013) mag noch der erträglichste Film dieser Gruppe sein; hat aber nicht viel außer einigen netten GCI-Animationen zu bieten, weil der Ausgang der schlichten Geschichte von der ersten Minute an klar ist: Landeteam entdeckt Leben, die Aliens sprengen die Eisdecke, Fähre versinkt. End of story. Vielleicht IST es ja möglich, einmal einen erträglichen Film vor dieser Kulisse zu drehen (ich warte auf eine gelungene Adaptation von Arthur C. Clarkes Erzählung "A Meeting with Medusa" von 1971). "The Midnight Sky" ist dieser Film jedenfalls nicht.
* * *
Die oberste Abbildung zeigt das Titelbild des ersten SF-Pulpmagazins, Amazing Stories, 1926 von Hugo Gernsback gegründet, der Ausgabe vom November 1928. Zu diesem Bild schreibt Arthur C. Clarke in seinem Memoirenband "Astounding Days" (1990), in dem er seine frühen Leseerfahrungen im Genre rekapituliert:
My initiation to the genre had been provided two years earlier by the November 1928 Amazing Stories, so I must digress slightly to explain just how amazing that issue really was. I had forgotten it for almost five decades, when the realities of the Space Age caught up with it in a manner so uncanny that it still sends a frisson down my spine.
The magnificent cover of this large-format magazine (25 cents - which is pretty amazing in itself) was by the most famous of all sf artists, Frank R. Paul (1884-1963). It showed Jupiter looming over the improbably tropical landscape of one of its inner moons, and being admired by visitors from Earth as they streamed out of their silo-shaped spaceship.
The disc of the giant planet is dominated by the oval of the Great Red Spot, and by bands of clouds sculpted into loops and swirls by storms the size of Earth. The fine details of these atmospheric disturbances could not possibly have been observed by terrestrial telescopes in 1928 - yet they are precisely the same as those revealed by the Voyager space-probes almost half a century later! Paul's cover is one of the best - because indisputably documented - examples of precognition I've ever encountered.
"Meine erste Begegnung mit dem Genre fand zwei Jahre früher statt, mit der Ausgabe von "Amazing Stories" vom November 1928. Ich muß kurz abschweifen, um zu erklären, wie erstaunlich diese Ausgabe war. Ich selbst hatte sie beinahe ein halbes Jahrhundert lang vergessen, bis das Raumfahrtzeitalter hier in einer Weise aufschloß, die es mir kalt über den Rücken laufen ließ.
"Das prächtige Titelbild dieses großformatigen Magazins (für 25 Cent - was selbst ganz erstaunlich ist), stammte von dem berühmtesten aller Science-Fiction-Illustratoren, Frank R. Paul (1884-1963). Es zeigte Jupiter, der über einer seltsam tropisch anmutenden Landschaft auf einem seiner inneren Monde schwebte, und eine Gruppe von Besuchern von der Erde, die aus ihrem siloförmigen Raumschiff eilten und den Anblick bewunderten.
"Die Scheibe des Planeten wurde vom Großen Roten Fleck beherrscht, und von Wolkenbändern, die von Stürmen zu Wirbeln verdreht wurden, die größer als die Erde selbst waren. Die genauen Details dieser atmosphärischen Störungen waren 1928 durch kein irdisches Teleskop zu erkennen - und doch gleichen sie haargenau denen, die die Voyager-Sonden fast ein halbes Jahrhundert später entdeckten! Pauls Titelbild ist eins der besten - weil unzweifelhaft dokumentierten - Beispiel für eine Voraussage, das mir je untergekommen ist."
Herausgeber Gernsback schreibt über das Titelbild auf S. 3 der Ausgabe:
Our Cover
this month depicts a scene from "The Moon Men," by Frank Breuckel, Jr., showing our pioneers emerging from their space-flyer, after having unexpectedly landed on Ganymede, the third of Jupiter's satellites, and beholding a tremendous disc (Jupiter) striped with broad, red bands and whitish-yellow ones, spread over an enormous part of the heavens.
Nicht daß es von Belang wäre, aber der von Frank R. Paul illustrierte Passus in Brueckels Erzählung lautet:
The pure air roused us all thoroughly, and together we crrowded forward to the door of the Space-Waif, eager to see the world upon which Fate had thrown us.
Lloyd hesitated a moment, then flung open the door. Eagerly we gazed out - upon a great expanse of blue water, reaching to a horizon which was remarkably close. Between the car and the sea a level slope a hundred yards wide led to the shore.
We tumbled out into this home-like landscape, and there, as we stopped to look about, another surprise awaited us. For to our right, a tremendous disk, striped with broad, red bands and whitish-yellow ones, spread over an enormous part of the heavens - fully one fourth of that quarter of the sky, while on our left shone a beautiful star - the sun . with an apparent diameter of about one-fifth that of the Earth. The sky on the side of the star was of the fairest blue, merging near the gigantic disk until it became a deep blue-black.
Behind us, where our attention was next drawn, rose a forest of titianic green fern-like trees - such flora as must have existed on our own planet during the carboniferous period. A hundred feet and more those huge fronds rose into the air, gracefully swaying in the breeze - giving the whole scene the aspect of a weird dream.
"Where are we?" I asked Lloyd.
He was gazing about him with the light of growing conviction in his eyes.
"We are on Ganymede - the largest of Jupiter's known moons," he replied, and both Lenhardt and Rosonoff nodded their agreement.
Ganymede is the third of Jupiter's satellites, is 3,550 miles in diameter, and revolves about its primary in 7 days, 3 hours, and 42 minutes, at a distance of 664,000 miles.
Brueckel ist recht typisch für die Autoren der frühen SF-Magazine: ein Amateur, der alles haarklein erläutert; die Story selbst ist ein drittklassiger Abklatsch der Mars-Erzählungen von Edgar Rice Burroughs, mit menschenähnlichen Barbaren und Stammeskämpfen, inklusive Sauriern. Brueckel ist am 24. Dezember 1910 geboren, also am gleichen Tag wie Fritz Leiber; gestorben ist er im April 1976 in Los Angeles; "The Moon Men" war seine erste Erzählung; bis 1931 folgten in den Gernsback-Magazinen noch 5 weitere; danach ist er nicht mehr in Erscheinung getreten.
(Frank J. Brueckel, Jr. Die Abbildung stammt aus dem Magazin "Wonder Stories," September 1930.)
U.E.
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