(Moretum)
Und ein kleines Quiz.
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Der Esprit de l'escalier, der Treppenwitz (die Wendung findet sich zuerst bei Denis Diderot) bezeichnet gemeinhin eine Pointe, eine Volte, ein Antwort, die einem erst im Nachhinein einfällt, wenn man die Konversation, in die sie gepaßt hätte, schon verlassen hat: auf der Treppe halt. (Das ist nicht zu verwechseln mit der bekannten Anekdote, in der Alexandre Dumas pêre seinen Sohn, der ihm den täglichen Morgenbesuch abstatten wollte, von einem Diener hinauskomplimentieren ließ. Am nächsten Morgen entschuldigte sich der Autor der Drei Musketiere mit der Begründung. "Ich lag mit einer kleinen Erkältung im Bett." "Ich weiß," gab der Verfasser der Karneliendame zur Antwort, "Sie ist mir auf der Treppe begegnet.")
So (also im Sinne von Diderot, nicht A.D. fils), ging es mir auch mit dem in Folgenden übersetzten kleinen Text, der mir erst einfiel, als mein Beitrag zum kürzlich ausgegrabenen Straßenimbiß in Pompeji schon eingestellt war. So möge es denn als zweiter Besuch in der Kulinarik der Antike durchgehen.
Daß die römische Küche nach unserem Dafürhalten eher dürftig und wenig abwechslungsreich gilt, ist jedem geläufig, der sich etwa einmal mit der Rezeptsammlung des Apicius befaßt hat. Freilich gilt dies auch für alle anderen Küchen der Antiken, und nicht nur für Epochen, von denen uns Jahrtausende trennen. Der Mangel an Kühlmöglichkeiten, die für uns Postmoderne unbegreifliche Dürftigkeit der gebotenen Sorten; die hohen Kosten, die bescheidenen Zubereitungsmöglichkeiten, all das haben wir, die wir selbst bei bescheidenen Mitteln an ein wahres Schlaraffenland gewohnt sind, aus dem kulturellen Gedächtnis verloren. Deshalb eine kleine Erinnerung daran.
Nota bene: es ist möglich, daß ich darum gebeten werden, den nachfolgenden Text zu löschen, weil diese zwei Buchseiten den Rahmen eines Vollzitats überschreiten, obwohl es nur 2 von insgesamt 264 Buchseiten umfaßt. Sollte das der Fall sein, werde ich dieses Posting selbstverständlich löschen.
Bis dahin aber soll der Text als Anlaß für eine Quizfrage dienen: Von wem stammt dieser Text? Er ist zuerst 2006 in England veröffentlicht worden, und sein Verfasser ist jedem bekannt - wenn auch nicht unbedingt in seiner Rolle als Autor. Es handelt sich um eine Erstübersetzung ins Deutsche. Zu gewinnen gibt es freilich nichts. Sollte dieses Posting nicht inkriminiert werden, werde ich in einer Woche, am Sonntag, den 10. Januar, an dieser Stelle - und im Kommentarforum zu diesem Netztagebuch - die Lösung bekannt geben. In diesem Forum können bis dahin Lösungsvorschläge gemacht werden.
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(Dulcia)
Wir kennen das genaue Rezept für Garum nicht, aber die Forschung glaubt, daß es ungefähr wie folgt hergestellt wurde: Man nimmt das Blut und die Eingeweide von eingesalzenen Fischen, zusammen mit ganzen Kleinfischen wie etwa Sardellen, legt das Ganze in Salzlake ein und läßt die Mixtur zwei Monate in der Sonne stehen. Wenn es schneller gehen sollte, stellte man sie in einen geheizten Raum. Die Ergebnisse waren spektakulär.
Wer weniger stinkende Fischsoße vorzog, konnte die Pampe vier Stunden lang kochen lassen, bis sich eine klare Flüssigkeit bildete, die die Römer Liquamen nannten.
Mir ist nur ein britischer Altertumsforscher bekannt, der versucht hat, Garum nach alter Rezeptur herzustellen: Clive Badger, Kurator am Archäologischen Park in Xanten. Clive und seine Frau Kersten luden mich in ihrem Heim in einem Dorf in der Nähe des Rheins zu einem Essen ein, das beinahe in jeder Hinsicht historisch authentisch war.
Als Vorspeise gab es einen köstlichen Weichkäse - einem Ricotta ziemlich ähnlich - den die Römer Moretum nannten, und im Anschluß Dulcia - römisches Süßgebäck, fast wie türkische Baklava. Wir tranken warmen Wein, der mit Zimt gewürzt war. Ich hatte den Eindruck, daß das alles genau so war, wie es auch Kaiser Augustus serviert worden war.
Mit Ausnahme der Fischsauce. Die Sauce stammte aus Indonesien, und kam aus einer Flasche. Was? fragte ich. Kein richtiges Garum?
"Das letzte Mal habe ich Garum als Student zubereitet," sagte Clive. "In einem Mülleimer. Eine Katastrophe. Das Haus war anschließend komplett unbewohnbar."
Es scheint, daß die römische Weise der Zubereitung von Garum für die Nachwelt so verlorengegangen ist wie die Kunst der Marmorbildhauerei. Wir wissen nur, daß sie es im industriellen Maßstab herstellten, und in einer Weise darauf standen, die etwas Bedenkliches hat.
Die früheste Erwähnung von spanischem Garum stammt aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Als sich das römische Imperium ausbreitete, scheint ihm Garum als Treibstoff gedient zu haben. Die Römer legten ihr Fleisch darin ein; sie würzten ihren Haferbrei damit, sie gossen es auf fast alle Speisen. Und weil es so vielseitig verwendbar war, war es entsprechend teuer - gut tausend Sesterzen für knapp sieben Liter.
An der Küsten von Spanien und Portugal hat man große Manufakturen gefunden, mit Bottichen aus Beton, die noch verweste Überreste von Thunfischen enthielten. Wir kennen andere große Produktionsstätten aus Nordafrika, wo schwarze Pfützen aus Fischgedärm wie Asphalt blasenwerfend in der Sonne kochten, immer wieder abgeschöpft und neu erhitzt, bis die Flüssigkeit von radioaktiver Durchschlagskraft war.
Aber das Bemerkenswerteste an Garum war seine Allgegenwart. Spanische Garum-Amphoren sind in Colchester ausgegraben worden, in Verulamium (dem heutigen St. Alban's), und am Hadrianswall, und die machen im Durchschnitt ein Zehntel aller Amphoren überhaupt aus.
Wenn auf dem Grund des Mittelmeers ein römisches Wrack gefunden wird, steht die Wahrscheinlichkeit hoch, daß es Garum geladen hatte, und bei Spanischen Schiffen bestehen normalerweise 60 Prozent der Fracht aus Amphoren für Garum oder Liquamen.
Die Vorliebe für Garum hielt sich im Römischen Reich jahrhundertelang; erst das Aufkommen des Christentums scheint ihr ein Ende gesetzt zu haben, weil die Christen scharfe Gewürze für genauso sündig hielten wie die Freizügigkeit in den öffentlichen Bädern.
Garum-Aphoren finden sich überall in Italien, in Frankreich, und Spanien und Portugal und Nordafrika. Garum wurde in Nimwegen verbraucht, in Palästina, in Bulgarien und der Schweiz.
Was können wir daraus schließen, wenn wir bedenken, daß Garum wahrscheinlich eklig, zumindest aber ein sehr spezieller Geschmack war? Es zeigt uns den enormen Einfluß der römischen Gewohnheiten in den Ländern, die erobert worden waren. In der gesamten römischen Welt war nicht nur das römische Bürgerrecht begehrt, sondern auch die stinkende Pampe, die die Römer auf alle Speisen schütteten.
Wenn wir mal kurz das alte Rom beiseite lassen und uns das heutige Europa ansehen, fällt uns sofort der Unterschied auf. Wir sehen immer noch einen eingefleischten Saucennationalismus. Die Belgier gießen Mayonnaise auf ihre Fritten - was Engländer in der Regel schockiert - und gruseln sich ihrerseits, daß wir Essig auf unsere Chips gießen. Die Deutschen würden nicht im Traum daran denken, englischen Senf an ihre Frankfurter Würstchen zu tun. Die Franzosen sind abgestoßen, wenn man ihnen Marmite oder Vegemite anbietet, und in Italien kennt man keine Brown Sauce.
Aber in der römischen Welt war es Garum, Garum, und nochmals Garum. Es war eine Art Euro-Ketchup. Es war, als ob man von in jedem Restaurant, von Portugal bis Irak, von Schottland bis Libyen, einkehren könnte, und auf jedem Eßtisch Worcestershiresauce vorfinden würde.
Die Vorliebe für Garum zeigt exemplarisch, wie die Römer es schafften, eine gemeinsame Identität hervorzubringen. Wir sehen hier eine Angleichung ohne Vorschriften und Regulierung. Die unterworfenen Völker wurden nicht gezwungen, Garum zu essen. Natürlich nicht. Aber Garum war eins der zentralen Merkmale einer römischen Lebensweise.
Und wer zeigen wollte, daß er zum wirklichen Römer geworden war, hielt sich die Nase zu, entkorkte die Amphore, und schüttete das Zeug auf alles.
Nachtrag. Und dann war da noch der hier:
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Nachtrag, 10. Jan. Wie vor einer Woche versprochen, hier die Auflösung der Frage nach dem Autor des Textes (obwohl ich es mir schenken könnte, da Leser Moise Trumpeter im Forum zu diesem Netztagebuch alsbald die korrekte Antwort gegeben hat).
Es handelt sich um Boris Johnson. Der kleine Passus ist ein Abschnitt aus dem neunten Kapitel, "The Approximation of Taste" aus seinem Buch The Dream of Rome, das im Februar 2006 im Verlagg HarperCollins erschienen ist und die Buchfassung einer zweiteiligen Sendung mit dem gleichen Titel darstellt, die am 29. Januar und 5. Februar 2006 auf BBC 2 ausgestrahlt worden ist.
Es gibt übrigens im Buch eine nette Schlußvolte, weil Johnson im letzten Kapitel vehement dafür plädiert, die Türkei in die EU aufzunehmen - um die moderaten und demokratischen Kräfte zu stärken, und dem militanten, national-islamistischen Impuls nach 9/11 eine "europäische Identität" entgegenzusetzen, die auch den moderaten Islam mit einbezieht. Wenn DAS nicht ein Treppenwitz der Geschichte ist, weiß ich es auch nicht.
U.E.
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