29. Dezember 2020

"Das Phonogramm von Pompeji." Zwei Ausgrabungen



(Alle Bilder Parco Archeologico di Pompei)



Tod und Leben, nahe hier beisammen,
Aschenurnen neben Rosenflammen;

Jeder Morgen ist ein Blumenbringer,
Jeder Blick streift einen Totenzwinger.

Und den Trümmerrest von Architraven
Überdecken siegreich der Agaven

Bläulichgrüne, riesige Rosetten;
Auf dem Boden nackte Amoretten,

Tonfiguren, Statuettentrümmer;
Und ich frag mich: Ob nicht auch im Zimmer,

Wo ich Fremdling gestern übernachtet,
Eine Aschenurne eingeschachtet,

Da im Traum ein Weib mit Kahn und Ruder
Mich willkommen hieß als ihren Bruder?

Christian Wagner (1835-1918), "Im Garten des Albergo del Sole. Pompeji" (1906)

In seinem regelmäßigen Rechenschaftsbericht nach Weimar über die Abenteuer des "Maler Müller" im Land, wo die Zitronen blühen, schreibt Goethe, der sich nach zehn Jahren unablässiger Tätigkeit im Kabinett seines Großherzogs, wo er von den wöchentlichen Arbeitssitzungen nur insgesamt sechs versäumt hatte (zwei fielen mit einer Dienstreise zusammen), endlich eine kleine und anonyme Auszeit gegönnt hatte, am Dienstag, dem 13. März 1787 an seine Confidante Frau von Stein: "Sonntag waren wir in Pompeji. - Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte. Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres." Aus der Tatsache, daß der Herr Geheimbde Rath weiter kein Wort über die Örtlichkeit verliert, darf man aber freilich schließen, daß er sich sehr wohl allerlei Interessanteres vorstellen konnte. Die Enge und Kleinheit der freigelegten Behausungen, die verwinkelten Gäßchen mit ihren Trittsteinen, die aufdringliche Tünchung der Wände in ihrem benehmenden dunklen Rotton, das bis heute unter "pompejanischem Rot" geläufig ist; die nicht selten ungeschlachten Proportionen der auf den Wandmalereien dargestellten Personen, das fettglänzende Grau, das oft dunkle Hauttöne andeutet, nicht zuletzt die Begattungsszenen auf den Fresken der "Lupanare," der öffentlichen Bordelle - all das konnte seinen am klassischen Ideal ausgerichteten Kunstsinn mit verschwimmendem Chiaroscuro, wie er es in den Kupferstichen seiner Studienzeit kennengelernt hatte, eigentlich nur beleidigen. Auch bei heutigen Betrachtern stellt sich beim Durchblättern von Bildbänden über die im Jahr 832 ab urbe condita von den pyroklastischen Lavaströmen des Vesuvs begrabenen Stadt am Golf von Neapel eher ein Gefühl von Beklemmung und Befremdung ein als ein ästhetischer Genuß - ein Eindruck, den übrigens Bauten und auch Gemälde aus der Anfangszeit der italienischen Frührenaissance oft hervorrufen, eine Art ästhetischer Atembeklemmung. Dennoch war die Entdeckung von Pompeji und dem benachbarten Herculaneum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Wendepunkt, weil sie einen unmittelbaren Einblick in die gelebte Alltagswirklichkeit der als Ideal verklärten Antike gestattete - und weil man an ihrem Beispiel zuerst die Techniken entwickelte, die diese handgreifliche Ans-Licht-Beförderung einer verlorenen Vergangenheit erst ermöglichte. In das Sortiment des bildungsbürgerlichen Kanons stieg die Stadt freilich erst im Lauf der neunzehnten Jahrhunderts auf - vor allem durch einen der größten "Bestseller" der frühen viktorianischen Zeit, Edward Bulwer Lytton "The Last Days of Pompeji" von 1834 (dessen frühe Popularität sich auch dem Zufall verdankt, daß wenige Monate nach dem Erscheinen des Buchs die Medien der Zeit voll von Berichten über einen neuen - wenn auch weitaus glimpflicher verlaufenen - neuen Ausbruch des Vesuvs berichteten. "Die letzten Tage von Pompeji" begründeten zwei Schulen der literarischen Vergangenheitsschau: zum einen den Historienroman, der sich an Topographie und dem Quellenstand und der historischen Forschung orientierte und die geschilderte Zeit nicht einfach als bunte Abenteuerkulisse benutzte (nach dem Muster von Alexandre Dumas pêres "Drei Musketiere") - und, weil sich Bulwers Roman auf das Schicksal und die drohende Verfolgung einer frühen christlichen Gruppe durch die heidnische Priesterschaft konzentriert, auf die Befestigung oder Evozierung des christlichen Ursprungs der westlichen Tradition, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt wie auch die quellenkritische vergleichende Religionsforschung von zwei Seiten "unter Beschuß gekommen" war. Dieser Traditionsschiene verdanken sich spätere Beispiele des Genres, wie etwa Henryk Sienkiewicz' "Quo Vadis" (1896), Lew Wallaces "Ben Hur" (1880) oder auch Charles Kingsleys "Hypatia" (1853) - wobei Kingsley als anglikanischer Geistlicher seinen Strauß mit der katholischen Kirche in Gestalt des Bischofs von Alexandria ausficht, der den ungebildeten, abergläubischen Mob zum Mord an der antiken Philosophin aufstachelt.

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Genau dieser "antike Alltag zum Anfassen" dürfte zur Ausbildung eines weiteren literarischen Topos im späten neunzehnten Jahrhundert beigetragen haben - einem wesentlich persönlichen, auf die Person des Erzählers in diesen Text zentrierten: der Vorstellung, wie durch Magie, Projektion, einen Blitzschlag aus heiterem Himmel den Sprung in diese Vergangenheit zu vollführen, um die Ecke zu biegen und den Zeitsprung vollführt zu haben. Eins der ersten Beispiele hierfür ist Edgar Allan Poes Erzählung "A Tale of the Ragged Mountains" von 1844, die es freilich noch bei der Mystifikation beläßt und die Möglichkeit offenläßt, es könne sich nur um eine Halluzination gehandelt haben. In Mark Twains "A Connecticut Yankee at King Arthur's Court" dient das "Let's do the time jump again!" dem Zweck, die idealisierte Ritterszeit König Artus' dem gnadenlosen Spott auszusetzen. Aber in manchen Texten steht die arkadische Sehnsucht -und vor allem die erotische Aufladung, das unerfüllbare Begehren nach einer numinosen Frauengestalt - im Zentrum. Das ist bei Théophile Gautiers "Arria Marcella" der Fall, am 1. März 1852 in der "Revue de Paris" erschienen - wobei auch Gautier die Möglichkeit offenläßt, die Begegnung seines Erzählers mit seinem Ideal im Dunkel des nächtlichen Pompeji sei Resultat eines Opiumrausches, und es findet sich - ohne Zweifel von Gautiers Vorbild angeregt - in Wilhelm Jensens Novelle "Gradiva" von 1903, in dem die flirrende Präsenz der "Schreitenden", deren Bild auf einem Halbrelief den Erzähler verhext hat, in die Glut und Lichtfülle eines mediterranen Mittags verlegt ist. Wie viele Texte aus dem Randbereich zwischen Traumvision, Phantastik und Symbolik ist Jensens Text letztendlich inkommensurabel: die letzte Begegnung mit der Erscheinung erweist sich als Täuschungsmanöver seiner Verlobten, die in aus seinem zunehmenden Wahn herausführen will; aber das Vorhergehende stimmt mit dieser Version nicht überein? Ist es eine Täuschung, der der Icherzähler erliegt - oder hat das Phantastische nichtsdestotrotz einen Weg gefunden, in die Wirklichkeit einzubrechen? Jensens Erzähler weiß es nicht, und der Leser wird es auch nie wissen. Jensens Text ist heute nur noch durch dem Umstand bekannt, daß der Gründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, ihm 1907 einen, nun, Analyseversuch gewidmet hat ("Der Wahn und die Träume in Wilhelm Jensens 'Gradiva'"). Angesichts des Vergessenwerdens, dem Freuds Theorien - und vor allem die von ihm verfaßten Bücher - selbst mittlerweile anheimfallen (nicht zu unrecht, da die empirische Hirnforschung der letzten 100 Jahre sämtliche Grundannahmen der Psychoanalyse - vom Ödipuskomplex über die Dreiteilung des "psychischen Apparats" in Überich, Ich und Es und "unbewußte Reize" - ausnahmslos ins Reich der Fabel verwiesen hat), könnte man hier von einem "Vergessenwerden zweiter Ordnung" sprechen.

* * *



Der Rekurs auf Freud führt hier direkt zu seiner Metapher von der Analyse der menschllichen Psyche als "Archäologie," die das verschüttete "eigene innere Afrika" aus dem Begrabenen ans Tageslicht befördert, wo es dann dem nüchternen Befund unterworfen werden kann (Freuds Wendung "wo Es ist, soll Ich werden" faßt dies in a nutshell). Den Ausdruck des "eigenen inneren Afrika" hat Freud bei Jean Paul gefunden; und schon Thomas de Quincey schreibt in seinem mäandernden Prosatext "Suspiria de Profundis" von 1845, der zwischen philosophischer Spekulation, assoziierendem Prosagedicht und halluzinatorisch aufgeladener Erinnerung changiert, im Abschnitt "The Palimspest of the Human Soul":

"But the more elaborate chemistry of our own days has reversed all these nootions of our simple ancestors, with results in every stage that to them would have realized the most fantastic amongst the promises of the thaumaturge. Insolent vaunt of Paracelsus, that he would restore the original rose or violet out of the ashes settling from its combustion - that is now rivalled in this modern achievement."


- und bezieht sich damit nicht nur auf die alchemistische Vorstellung, die sich in der Tat nicht nur bei Paracelsus, sondern in zahlreichen anderen alchemistischen Schriften findet, es wäre möglich, aus den "essentiellen Salzen", die als Resultat eines Verbrennungsvorgans in der Retorte - dem "Alembik" - zurückbleiben, die ursprüngliche Blume wieder auferstehen zu lassen (der Ausdruck "Palingenese" für diese Operation bezieht sich in der Theologie ursprünglich auf die Auferstehung der Toten beim Jüngsten Gericht) - sondern auch, ganz direkt, auf die Wiederlesbarmachung der verkohlten Papyrusrollen, die 1750 in Pompeji in der nach dem Fund benannten "Villa dei Papiri" gefunden wurden, und die nur durch speziell zu diesem Zweck konstruierte Abwickelvorrichtungen Millimeter für Millimeter wieder lesbar gemacht werden konnten. De Quincey sieht in den Errungenschaften der modernen Wissenschaft - der chemischen Analyse, nicht zuletzt von Funden am Tatort (Sherlock Holmes' Kenntnis von hunderten von Tabaksorten läßt grüßen), in Baron Cuviers Rekonstruktion einer ausgestorbenen Spezies aus einem einzigen Knochen, und eben in den damals angehenden archäologischen Kampagnen, die die Zeugnisse aus dem Boden holten und von vergangenen Reichen zu berichten wußten, von denen keine Überlieferung zeugte - exakt dies verwirklicht, und vor allem: bei weitem übertroffen.

* * *



Zurück zu Pompeji: wenn wir schon nicht vermittels eines DeLorean oder der Tardis zurückfahren können, gibt es doch immer wieder Funde, die aus den Lapillischichten auftauchen, die dem Betrachter das Gefühl der "unmittelbaren Tuchfühlung" vermitteln. (Ob dies eine ästhetisch genehme Begegnung ist, sei, pace Goethen, dahingestellt.) So in dem Fall des in in diesem Jahr freigelegten Thermopoliums. Wie der dem Griechischen entlehnte Name sagt - θερμός thermós (warm) und πωλέιν poléin (verkaufen)- handelt es sich um einen Ort, an dem warme Speisen und Getränke verkauft wurden. Der Name selbst wird in der Fachliteratur kaum verwendet, weil er sich lediglich in den Satiren des Plautus an drei Stellen findet; ansonsten findet sich in den lateinischen Quellen der Begriff Caupona; er hat sich aber in den Cicerones zu Pompeji eingebürgert, wo man die Überreste von gut 80 solcher Einrichtungen gefunden hat. Es handelt sich im gemauerte Tresen am Straßenrand; von zumeist einem guten Meter Breite, in die sich Öffnungen für Töpfe für Speisen und Getränke eingelassen waren, die von einem Feuer darunter warm gehalten wurden. Die eigentliche Zubereitung erfolgte auf einem eigenen Herd dahinter, zumeist unter einer eigenen Überdachung. Kurz und gut: es handelt sich um Schnellimbisse, um Frittenbuden (wenn man denn in der römischen Welt Erdäpfel und diese spezielle Zubereitung gekannt hätte). Diese Tresen waren oben oft mit Marmorplatten belegt; die Vorderfront war mit bunten Mosaiken des Angebots und der Zubereitung verziert. Das jetzt freigelegte Thermopolium beeindruckt vor allem durch die Frischheit der Farben, die die Zeit noch durch keinerlei Patina abgestumpft hat: eine McDonald's-Filiale könnte nicht bunter sein.

Es gibt am Schluß von Fellinis Film "Roma" von 1972 eine Szene, die jedem, der den Film gesehen hat, unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt ist. Während sich die vorhergehende Handlung auf die Kabalen "moderner Menschen", auf die Seelenlosigkeit des Großstadtlebens konzentriert, wird in diesem Schlußtableau gezeigt, wie beim Bau einer U-Bahnlinie die Bohrmaschinen auf ein verschüttetes Haus aus der Antike stoßen. Vertreter der zuständigen Altertumsbehörden werden herbeigerufen, und zusammen mit dem Bohrtrupp erkunden sie die seit zwei Jahrtausenden nicht mehr betretenen Räume. Das Licht der Helmlampen und der Taschenlampen geistiert über die reich bemalten Wände und hebt die Wandgemälde aus dem Dunkel: die Männer und Frauen, die Gärten und Tiere, die längst zu Staub zerfallen sind. Und - unter dem Einfluß des Luftsauerstoffs - beginnen diese Bilder zu verblassen, auszubleichen, bis nur noch der nackte Stein übrigbleibt. Und die Kamera fährt hoch, aus der Baugrube hinauf, und zeigt das Tosen des Verkehrs, der sich hupend und lärmend durch dieses Nadelöhr zwängt, die Fiats und Vespas, deren Fahrer von dem Drama, das sich unter ihren Füßen abgespielt hat, keine Ahnung haben. Mir jedenfalls kam beim Anblick dieser Fresken in rot und gelb (die Assoziation an die Kette mit dem goldenen Doppelbogen kam nicht von ungefähr) sofort diese Szene in den Sinn.



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Um aber im Bereich der literarischen Spekulation zu bleiben: wenn man schon keinen direkten Einblick in den Alltag dieser vergangenen Zeiten erhalten kann, ließe sich, unter Verwendung imaginierter Technik, vielleicht eine andere direkte Zeugenschaft herstellen? ("Time Viewer", gewissermaßen "Teleskope für einen Einblick ins Vergangene," sind im Genre nicht ganz unbekannt; die Spekulation darüber beginnt mit Camille Flammarions "Lumen" von 1887, der feststellt, daß ein phanstisch auflösendes Teleskop in astronomischer Entfernung von der Erde aufgrund der endlichen Lichtgeschwindigkeit notwendigerweise Szenen aus der Vergangenheit zeigen würde. Bei Flammarion ist dies - wir knüpfen an "Ben Hur" & Co. an, die Zeugenschaft des Kreuztodes Christi. Am ausgefeiltesten haben Arthur C. Clarke und Stephen Baxter dieses Konzept im Jahr 2000 in ihrem Roman "Light of Other Days" ausgefaltet; älteren Genrelesern ist John Taines Roman "Before the Dawn" von 1934 vielleicht noch ein verblaßter Schemen auf der weißen Kalkwand des Gedächtnisses, in dem die letzten Tage der Dinosaurier auf dem Bildschirm erscheinen.) Im Okkultismus zu Ende des 19. Jahrhunderts findet sich gelegentlich die Überlegung, ob es sich bei "Geistererscheinungen" nicht um eine Art "Aufzeichnung" handeln könnte, um ein Residuum etwa eines traumatischen Erlebnisses, das dazu führt, daß vom "Ektoplasma," vom "Astralleib," den diese Zeit als matieriellen, eben "feinstofflichen" Träger als solchen Spuks postulierte, eine Abspaltung erfolgte, die dann ganz im Sinne einer Aufzeichnung unter den dafür günstigen Umständen (etwa zur Mitternacht) "abgespielt" werde. Im englischen Bereich hat Nigel Kneale (der durch die "Quatermass"-Filme bekannt wurde), dem Konzept mit seinem Fernsehspielt "The Stone Tape" von 1972 Bekanntheit verschafft: die Steine eines alten Gemäuers speichern die Emotionen und Zustände eines grausigen Mordgeschehen und führen dazu, daß Menschen, die auf dieser "Wellenlänge" empfänglich sind und dort übermachten, heimgesucht werden.



(Cave canem! Warnung vor dem Hunde! Das Graffito auf der oberen Umrahmung lautet "Nicia cinaede cacator", wörtlich - halten zu Gnaden - "Nicias, schamloser Scheißer!")

Die Idee einer tatsächlichen Tonaufzeichnung durch natürliche oder vergleichsweise primitive Mittel verdankt sich einem launigen Einfall von David E. H. Jones, der lange Jahre für das englische populaäre Wissenschaftsmagazin "New Scientist" unter dem Nom de plume "Daedalus" eine Kolumne über unmögliche Erfindungen, wissenschaftlichde Scherze à la der Loriotschen Steinlaus und vergleichbare Allotria verfaßt hat. Am 6. Februar 1969 schrieb er dort

"... a trowel, like any flat plate, must vibrate in response to sound: thus, drawn over the wet surface by the singing plasterer, it must emboss a gramophone-type recording of his song in the plaster. Once the surface is dry, it may be played back."

("Eine Maurerkelle muß als Reaktion auf Schallwellen vibrieren; wenn der Verputzer sie über den nassen Verputz zieht und dabei singt, muß sie, wie bei einer Schallplatte, eine Aufzeichnung im Verputz hinterlassen. Sobald die Oberfläche getrocknet ist, kann das wieder abgespielt werden.")

Das bekannteste Beispiel in der Science Fiction, das diese Überlegung aufgreift, findet sich in Gregory Benfords Kurzgeschichte "Time Shards," 1979 in neunten Band der von Terry Carr herausgegebenen Anthologienrreihe "Universe" erschienen. In Benfords Text spielt ein Team von Archäologen alte Vasen mit einem Laser ab, um die Hypothese auf praktische Anwendung zu prüfen. Nicht nur wird das rhythmische Schlagen der Töpferscheibe hörbar, wenn die Füße des Töpfers sie in Drehung setzen; es wird auch eine Unterhaltung vernehmbar, in dem sich der Töpfer und sein geistlicher Freund, der wohl etwas zuviel in den naturphilosophischen Spekulationen der Antike gelesen hat, unterhalten. Letzterer weist ihn darauf hin, daß der Griffel mit dem er den rotierenden Ton ausformt, schwingt, je nachdem, wie laut sie den Lärm in der Töpferwerkstatt überschreien müssen, und erfaßt intutiv das Prinzip der mechanischen Schallaufzeichnung. Die Botschaft des Töpfers an die Nachwelt, auf Mittelenglisch, lautet: Deckt eure Dächer nicht mit nassem Stroh und leiht euch kein Geld von Wucherern. (Benfords launiger Einfall krankt an der Volte, daß selbst ein genialer Beobachter mit der Weltsicht des Mittelalters, ohne die Konzepte der modernen Naturwissenschaft, nicht zu solchen Schlüssen gelangen könnte.)

Tja, und dann stößt man beim Stöbern in den längst verblichenen Texten, die auf den Regalen längst vergessener Bibliotheken Staub sammeln und verbleichen, unverhofft auf genau diese Idee, die lange vor Benford und Jones in einem Text dieser Gattung figuriert. Carl Grunert (1865-1965) ist heute wirklich vollständig vergessen und verschollen; Abhandlungen zur Geschichte des Genres in Deutschland verzeichen zwar noch Namen und Werke; aber selbst zu Lebzeiten dürfte er kaum einer allgemeinen Leserschaft bekannt gewesen sein. Im Zivilstand war er Chemie- und Physiklehrer, zunächst in seinem Geburtsort Naumburg, später in Berlin (diese Prägung merkt man seinen Texten an). Bekannt - sit venia verbo - ist er dadurch, daß sein gesamtes schmales literarisches Werk eindeutig dem Bereich zuzuschlagen ist, der heute unter Science Fiction fällt; die Texte von Kurd Laßwitz, ganz besonders dessen Roman "Auf zwei Planeten" waren ihm eindeutige Anregung und Vorbild. Seine gut 30 Erzählungen erschienen in vier kleinen Bänden: "Im irdischen Jenseits" (1904), "Menschen von Morgen: Zukunfts-Noveletten" (1905), "Feinde im Weltall?" (1907) und "Der Marsspion und andere Noveletten" (1908). Daneben erschienen noch ein paar verstreute Texte in der Leipziger "Illustrirten Zeitung," der Zeitschrift "Reclams Universums" und dem Jahrbuch "Arena." Man sollte sich von diesen Geschichten nicht zuviel erwarten: viele sind eindeutige Imitate, so etwa "Das Ei des Urvogels," bei dem unübersichtlich H. G. Wells' "Aepyornis Island" Pate gestanden hat. Zudem ist Grunert alles andere als ein guter Erzähler und Stilist; die Verwendung von sprechenden Namen und eine Neigung zum klafterdicken Kitsch - der den im Nachfolgenden ausgegrabenen Text zu dem macht, was man auf neudeutsch "cringeworthy" nennt - tun ein Übriges. Aber darum geht es hier nicht: es geht um die Dokumentation der Spur eines kleinen Einfalls, eines Gimmicks. Und da ist die Überraschung, auf dergleichen zu stoßen, mindestens so groß, wie wenn man im alten Pompeji auf eine McDonald's-Filiale stößt.

* * *

Carl Grunert, "Das Phonogramm von Pompeji" (1909)

I.

Seit zehn Tagen ungefähr grub man in Pompeji an der freigelegten Stelle dicht an der Porta Ercolanese, ein wenig westlich von der sog. Villa des Diomed.

Den größten Teil des eigentlichen Landhauses hatten die Arbeiter bereits von der sechs Meter hohen Aschenschicht befreit, und da man immer in horizontalen Schichten abtrug, so gewann man schnell einen Eindruck in den Grundriß des ganzen Baues, der sich von dem der benachbarten Villen nur wenig unterschied.

Dr. Enrico Tommasi, der die Arbeiten an Ort und Stelle überwachte, hatte mit ihrem Beginn die leise Hoffnung gehegt, bei der Aufdeckung der neuen Villa vielleicht ebenso von Glück begünstigt zu werden, wie man es vor mehr als hundert Jahren bei der Ausgrabung jener Villa des Diomed gewesen, wo man in den geräumigen Kellern des Hauses mehr als zwanzig Skelette und allerlei Geräte und Kostbarkeiten gefunden hatte.

So hatte sich sein besonderes Augenmerk naturgemäß auf den Inhalt der Keller gerichtet, und je näher die Arbeiter ihnen kamen, um so mehr suchte er sie in ihrer Behutsamkeit und Sorgfalt bei der Beiseitung der Lapillischichten anzuspornen.

Leider schien alle angewandte Mühe vergebens. Man fand in den Räumen des Hauses und Kellers wohl allerlei Geräte des täglichen Gebrauchs, aber doch nichts was nicht schon in ähnlicher Form im Museo Nazionale in Neapel aufgespeichert war.

Man konnte wirklich glauben, mit der Arbeit des heutigen Tages alle Räume der zierlichen Villa freigelegt zu haben, und auf das Geheiß Dr. Tommasis stellten die Arbeiter die Spaten zusammen.

Der Archäolog war enttäuscht, um so mehr, als er für den letzten Teil seiner Grabung den Besuch eines alten Studienfreundes, eine Deutschen, erhalten, des Ingenieurs Lang, mit dem er gemeinsam einige Semester in Berlin studiert hatte. In der ersten Entdeckerfreude, an jenem Tage, da er beim Untersuchen der Lapillischichten auf die "Villa" stieß, da er seinem Freunde hoffnungsfroh von diesem Funde berichtete und die Erwartung aussprach, die Wissenschaft mit neuen Zzeugnissen der versunkenen Jahrhunderte zu bereichern, hatte er ihn eingeladen - der Ingenieur war gerade vertretungsweise beim Bau des Simplontunnels beschäftigt und hatte ihm längst einen Besucht zugedacht -, nach Beendigung seiner Arbeiten einen Abstecher nach Pompeji zu machen und Zeuge seiner Entdeckungen zu werden.

Und nun standen die beiden Studienfreunde - die Arbeiter hatten heute schon früher Feierabend gemacht - allein in den ausgegrabenen Räumen und sprachen über die Ergebnislosigkeit der Grabung. Ingenieur Lang gab die Hoffnung auf einen besonderen Fund noch nicht auf.

"Aber, wo sollen wir noch etwas finden, amico?" fragte Tommasi ungläubig. "Die Räume der Villa liegen offen zutage, die Keller sind geöffnet..."

Der junge Ingeneiur antwortete zunächst nicht, sondern begann, indem er dem Freunde durch ein Zeichen bedeutete, stehenzubleiben, nochmals eine Wanderung durch die Räume der römischen Villa. Er durchschritt das kleine Vestibulum, das mit einem Gemälde, welches den Tanz der Grazien darstellte, geschmückt war, das dahinter gelegene Atrium und das sich daranreihende Peristylium, immer dabei mit einem im Vorbeigehen ergriffenen Spaten auf den Boden klopfend.

An einer Stelle des Peristyliums blieb er plötzlich stehen, sein Spatenmanöver mehrmals wiederholend.

"Hör einmal, Enrico!" Und wieder stieß der Spaten gegen die Marmorfliesen.

Der Archäolog war mit zwei Sprüngen an seiner Seite.

"Wann hast du diese Stelle entdeckt, Ricardo?" fragte er überrascht.

"Vorhin, als die Arbeiter die Spaten zusammentrugen. Der kleine Filippo, dem die Buddelei gewiß sehr langweilig vorkommen mag, machte sich zur Erheiterung das Extravergnügen, mit jedem Spaten, den er trug, einmal hier und da auf den Boden zu stampfen, und da hörte ich den seltsamen Klang, obwohl ich gerade im Gespräch mit dir war. Bedenke, daß ich mein Ohr seit Monaten jetzt im Simplontunnel auf derartige Perkussions- und Auskultationsgeräusche trainiert habe!"

"Aber die Keller liegen doch gerade an der entgegengesetzten Seite des Landhauses!" sagte Tommasi, noch immer zweifelnd.

Der Ingenieur antwortete nicht weiter, sondern warf seinen Rock ab und begann zu graben.

Im nächsten Moment tat Dr. Tommasi dasselbe. Und nun arbeiteten beide Freunde im Schweiße ihres Angesichts, indes die Sonne sich schon zum Untergang senkte. Ihre roten Strahlen übergossen die Trümmer versunkener Jahrtausende mit einem Schein warmflutenden Lebens.

Die Arbeit der beiden Freunde wurde belohnt: man stieß auf eine zweite, kleinere Kelleranlage, die sich bis in den gewachsenen Felsboden unterhalb des eigentlichen Fundaments fortzusetzen schien.

"Das sieht ja beinahe aus wie ein Kerker," sagte der Ingenieur.

"Was sollte in der so feundlich angelegten Villa ein solcher?" fragte Dr. Tommasi dagegen. "Eher glaube ich, daß es ein Versteck für die Schätze und Kostbarkeiten des gewiß sehr vermögenden Villenbesitzers gewesen ist, von dem nur er im Haus Kenntnis hatte."

Er setzte den Spaten wieder an, zog ihn aber im nächsten Augenblick wieder zurück und hielt auch die Hand des Freundes fest.

"Sieh doch," flüsterte er erregt.

Und mit seinem Spaten beschrieb er in der Aschenschicht der aufgedeckten Kellerhöhlung eine seltsam umgrenzte Form, die eben zutage trat.

"Was bedeutet das?" fragte der Ingenieur.

"So zeichnet sich ein von Lapilliasche eingehüllter menschlicher Körper ab," antwortete Dr. Tommasi.

"Was wollen wir tun?"

"Nicht weitergraben, sondern nach vorsichtiger Feststellung der Umrisse gleich morgen früh die Vorkehrungen zu einem Gipsausguß treffen. Es ist anzunehmen, daß, wie bei allen derartigen Funden, sich die Form des einstigen Körpers getreulich in der erhärteten Schlammumhüllung erhalten hat. Das Fleisch verwandelt sich im Verlauf der Jahrtausende zu Asche, aber die hohle Form, die es einst ausfüllte, bleibt unverändert in dem steinhart gewordenen, einst plastisch schmiegsamen Aschenteige bewahrt und erlaubt in besonders glücklichen Fällen Gipsabgüsse von jener Vollkommenheit, wie sie dich kürzlich im Museum von Neapel zu hellem Entzücken begeisterten."

"Dann also auf morgen, Enrico." -

"Auf morgen, amico - und wünsche mir Glück dazu!"

* * *

Am nächsten Morgen in aller Frühe hatte Dr. Tommasi bereits alles zum Gusse vorbereitet. Einige besonders in diesen heiklen Manipulationen geübten Leute hatten die in der Werkstatt der Natur im Laufe der Zeiten selbst entstandene Gußform hergerichtet, vorsichtig eine Eingießöffnung in der Lapillimasse hergerichtet und ebenso hier und da Öffnungen für die entweichende Luft, um ein ungehindertes Einfließen der Gußmasse zu ermöglichen. Alles hing von der äußersten Sorgfalt dieser Vorarbeiten ab, denn ein Experiment wie das bevorstehende ließ sich nur ein einziges Mal machen.

Auf ein Zeichen des Archäologen begann der Guß, und langsam floß der weiße, flüssige Gipsbrei hinunter in die schwarze Aschenmasse.

´ Die Gießer hatten die Menge des einfließenden Gipses nach dem ungefähr dem Aschenriß entsprechenden Größe des verborgenen Körpers bestimmt.

Seltsamerweise schien dabei ein Irrtum vorgekommen zu sein - die Form wollte sich nicht füllen, und es war ein Glück, daß Dr. Tommasi, eine unbewußten Eingebung folgend, ein bedeutend größeres Gießquantum hatte gußfertig machen lassen. Schier unersättlich schien der dunkle Schlund da unten in der Erde.

Endlich aber schloß sich die geheimnisvolle Höhlung in der Asche doch; der weiße Gipsbrei füllte mit einem Male die Gießöffnung und floß über.

Nach einigen Stunden begann Dr. Tommasi mit der vorsichtigen, stückweisen Entfernung der verhärteten Lapillimassen, welche die Form gebildet hatten.

Und das Werk war gelungen - herrlicher, als es der junge Archäolog je zu hoffen gewagt. Tief ergriffen stand er mit seinem Freunde und den plötzlich still gewordenen Arbeitern vor der schneeweiß schimmernden Gestalt, die da aus dem Aschengrabe auferstanden war zum leuchtenden Sonnenlichte!

Eine Mädchengestalt in der Blüte ihres Lebens! Ein weiblicher Körper von der Formenschönheit antiker Statuen! Wunderbar das klassische Profil, der schöngebogene Hals, die vom warmen Leben scheinbar noch bebende Brust!

Wahrlich, jener Kynthia glich die Auferstandene, von der Properz gesungen:

"Solche Menschengestalt - warum verweilt sie auf Erden?
Hier zu rauben, o Zeus, würde verzeihlicher sein.. -
So sah, an dem böbeischen See, von Liebe berauschet,
Deinen jungfräulichen Leib, göttliche Brimo, Merkur!
Weicht, ihr Göttinnen alle, die ihr dem phrygischen Hirten
Auf dem Ida euch einst schleierenthüllet gezeiget!"

Und wie wunderbar ergreifend stimmte der Schluß jener zweiten Elegie des zweiten Buches auf den so köstlich im Schoße der Mutter Erde erhaltenen Fund:

"Nichts soll diese Gestalt, nichts diese Schöne verzehren,
Würd' an Jahren sie dir, kumische Priesterin, gleich!"

Die Haltung war die einer Knieenden, aber nichts von den Qualen und Schfrecken des Todes war in ihren Zügen zu entdecken. Die eine Hand stützte die weiße Stirn, indes die andere auf der schmalen viereckigen Öffnung einer schweren, eisernen Türe lag, die erst jetzt sichgtbar wurde. Eine zierliche Lampe aus Bronze, deren Hednkel ein geflügelter Amor bildete, lag neben ihr.

Lange standen die Männer vor dem ergreifenden Bilde.

Da sagte der Ingenieur:

"Aber diese eiserne Pforte,, durch welche die Ärmste sich flüchten wollte, kann doch unmöglich ins Freie geführt haben., sie liegt ja tiefer als die Fundamente des Hauses?"

Und schon war er nahe an die dick mit dem Rost der Jahrhunderte bedeckte kleine Tür herangetreten und untersuchte sie eifrig.

Plötzlich richtete er sich auf.

"Enrico, wir sind noch nichct am Ende unserer Entdeckung; bereite dich vor, eine neue, ebenso überraschende zu machen!"

Damit wies er auf die schmale Öffnung in der eisernen Tür. Und nun entdeckte Dr. Tommasi, was der Freund meinte. Die andere Hand der Knienden faßte durch diese Öffnung hindurch - in einen zweiten Raum, der sich weit hinein in den Erdboden zu erstrecken schien.

Und als er vorsichtig noch einige verhüllende Aschenanhäufungen entfernt hatte, sah er in stummer Überraschung -eine dritte Hand, welche von innen die des Mädchens umklammert hielt.

Die zweite Gestalt war in dem neuen Versteck verborgen! Der die Aschenform ausfüllende Gipsbrei hatte also nicht eine, sondern zwei gebildet. Damit war auch der sonderbare Mehrverbrauch an Gießmasse und die längere auer des Gusses erklärt. Die durch die Öffnung in der Erztür fassende Hand wurde die Eingußstelle für die zweite noch in der Erde verborgene Gestalt.

Und nun arbeitete man mit fieberhaftem Eifer an ihrer Freilegung, die wegen der Lage des Objekts auf ganz besondere Schwierigkeiten stieß. Endlich gelang es, von außen an das Verließ im Innern der Erde heranzukommen.

Als die Sonne sank, war auch die zweite Gestalt von der verhüllenden Aschenkruste befreit. Wie ein weißes Marmorbild am sie aus der umgebenden steinharten, schwärzlichen Lapillischicht empor.

Ein junger Mann in fast liegender Stellung, den Kopf wie lauschen zu der kleinen Öffnung in der eisernen Tür emporhebend, mit der Rechten die Hand der Geliebten erfassend!

Ein Paar junger, blühenden Menschen, hier vor Jahrtausenden vom jähen Tode überrascht! Ein antikes Liebespaar! Geheimnisvoll im Schoße der Erde erhalten in all der Schönheit und Jugendpracht, in all ihrer Hingebung und Liebe, die auch ihr gemeinsamer Tod nicht zu zerstören vermochte.

Lange standen die beiden Freunde vor dem Doppelbildnis, das gleich einem Kunstwerk aus Alabaster im letzten Strahl der Abendsonne leuchtete, von ihrem roten Schein mit einem verklärenden Schimmer rosigen Lebens überleuchtet!

"Ist es nicht," sagte Erico leise, "als wenn sie lebten? Als wenn sie sich erheben müßten, befreit von aller Todesnot und Qual, mit frohem Auge die schöne Erde zu grüßen?"

Der Freund nickte. Dann sagte er: "Ich grüble noch immer über die Situation, in der das Verhängnis sie uns überliefert hat. Offenbar hat sie doch jene schwere Eisentür voneinander getrennt?"

"Ja," erwiderte Dr. Tommasi, und sein dunkles Auge richtete sich wie in visionärem Schauen in einer versunkene Welt, "es war ein Kerker, in dem der Jüngling schmachtete. Sie aber, die Liebliche, fand in jenen entsetzlichen Stunden des Untergangs, am 24. August des Jahres 79 n. Chr., da alle Bande der Menschlichkeit zerrissen waren, da ein jeder nur an sich und an die eigne Rettung dachte, da grauenvolle Nacht wie eine bleierne Last sich herniedersenkte auf das lebensfrohe Pompeji, da der Tod mit giftigem Anhauch auf Schritt und Tritt seone ungezählten Opfer forderte; sie fand den Weg hierrher in das einsame Landhaus, geführt vom Lichte nie erlöschender Liebe. Und sie fand ihn - im Kerker! Und die Hand der Geliebten, die gewiß so oft dem Jüngling die Sorgen des Tages von der Stirn gescheucht, sie war zu schwach, den schweren Erzriegel zu bewegen. Und so hat der Tod sie überrascht."

Dr. Tommasi schweig. Der Ingenieur trat noch einmal in die gewölbte Felsenkammer, die das Gefängnis gewesen war. Sein scharfes Auge hatte an der glatten Kalkwand sonderbare Ablagerungen entdeckt, wellen- und streifenförmige Bildungen.

Unvermittelt sagte er nun, "Erlaubst du mir, diese sonderbaren Oberflächengebilde wissenschaftlich einmal genauer zu untersuchen, Enrico? Ich müßte aber dann mit allem physikalisch-chemischem Rüstzeug hier hausen dürfen, und ich weiß auch nicht, wie lange meine Untersuchungen dauern..."

"Morgen früh lasse kiich diesen Abguß in das Mueso Nazionale schaffen, amico. Ich will ihn in der nächsten Sitzung des Internationalen Archäologischen Kongresses, der in einigen Wochen in Neapel tagt, den Gästen vorstellen. Von morgen früh darfst du hier deine chemischen Experimente machen, und ich will dir gern ein paar meiner anstelligsten Leute als Gehilden geben."

"Eben wollt' ich darum bitten, Enrico - ein paar, die im Abformen und Gießen erfahren sind."

"Den Luigi und den Gebriele sende ich dir. Und nun kommt! Heute abend trinken wir Asti spumante!"

II.

Einige Wochen später.

Im Sitzungssaale des Nationalmuseums drängte sich heute eine illustre Gesellschaft. Aus Italien nicht nur, auch aus Deutscaalnd und Frankreich und England waren die Archäologen von Ruf hehrbeigeeilt, um, der Einladung Dr. Tommasis folgend, den neuen Fund aus der "Villa dell' Allianza" - so hatte der glückliche Entdecker sie im Hinblick auf das im Tode verbundene Liebespaar als auch zu Ehren seiner Freundschaft mit dem Ingenieur getauft - in Augenschein zu nehmen.

Noch war der kostbare Fund, der auf einem schwarzen Postament neben dem Podium des Redners stand, dicht verhüllt. Dr. Tommasi schritt im Gespräch mit einem seiner auswärtigen Fachgenossen, dem weißhaarigen amerikanischen Altertunsforscher Mr. Navy, auf und ab, der einen zufälligen Aufenthalt in London zu einem Abstecher benutzt hatte.

Da stand plötzlich sein Studienfreund lang vor ihm.

"Oh," rief Dr. Tommasi, seine Unterredung unterbrechend, mit froher Überraschung aus, "das ist schön, amico! Schon glaubte ich, deine eifrigen physikalischen Studien hätten dich den heutigen Terming vergessen lassen. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie weit bist du übrigens mit deiner Untersuchung über die Bildung der vulkanischen Ablagerungen?"

"Ich habe sie zum Abschluß gebracht, Enrico, und deshalb komme hierher. Ich wollte dich fragen, ob du als Redner des Tages mir wohl gestattest, durch das Resultat meiner Untersuchungen einen Beitrag zu liefern, gewissermaßen das Korreferat zu deinen Ausführungen, die physikalischen Fundamente deiner Entdeckung."

"Aber, bedarf das noch der Frage, Ricardo? Wie schön wird sich dein Thema an das meine anschließen!"

"Ich habe zur Demonstration meiner und deiner Untersuchungen Abgüsse der Fundstätte herstellen lassen. Du erlaubst," - er öffnete eine Seitentür des Saales - "daß die Beweisobjekte hier aufgestellt werden?"

Dr. Tommasi winkte den Trägern, und sie setzten einen ziemlich umfangreichen, kastenartigen Behälter auf einen Seitentisch in der Nähe des Rednerpultes.

Dr. Enrico Tommasi begann seinen Vortrag.

Er gab zunächst eine Schilderung seiner Arbeiten an der Porta Ercolanese. Mit der ihm eignen Anschaulichkeit hob er die einzelnen Phasen seiner Entdeckung hervor. Dabei nahm er Gelegenheit, den Anteil seiner Studienfreundes zu betonen und der Versammlung die Untersuchungen des Ingenieurs als Erweiterung seines eiignen Vortrags anzukündigen.

Und nun begann er intuitiv mit dichterischem Schwung die Vorgänge an jenem Augusttage in Pompeji zu erzählen: die Schrecken des plötzlichen Vulkansausbruchs, die Verwirrung und Zerstörung in den Straßen der griechisch-römischen Stadt, das Zusammenstürzen menschlicher Behausungen, das Zertrümmern der antiken Tempel und Statuen, die Verzweiflung der umherirrenden Bevölkerung, die, niedergedrückt von dem Gifthauch aus den Schlünden des Tartarus, zu Tausenden durch das nächtliche Dunkel keuchte, alle Gesetze der Ordnung, alle Bande der Familie durchbrechend.

Und auf diesem düsteren Hintergrunde, dessen Mittelpunkt der grauenhaft wie ein höllisches Fanal lodernde Mons Vesuvius bildete, zeichnete der Redner die lichte, still und treu dahinschreitender Gestalt des einsamen Mädchens, das in all dem entsetzichen Wirrwarr nur ein Ziel kennt: die Vereinigung mit dem Geliebten! Und da sie ihn entdeckt in dem tiefsten Verlies des abgelegenen Landhauses, da vermag die arte Hand den Kerker nicht zu öffnen. Und so ereilt sie beide der Tod.

Auf ein Zeichen Dr. Tommasis fiel die Hülle.

Einen Augenblick lang herrschte tiefe, feierliche Stille. Wie eine Offenbarung wirkte das ergreifende Doppelbild.

Dann aber brach ein Sturm des Beifalls und der Bedwunderung aus, wie ihn der hohe Sitzungssaal in seiner hohen Architektonik kaum je vernommen hatte. Die Begeistersten verließen ihre Pltze und drängten sich in die Nähe der Statuen.

Nachdem wieder ein wenig Ruhe eingetreten war, fuhr der Redner fort: "Wer aber vermöchte das Rätsel der beiden jungen Menschenkinder völlig zu lösen? Wer bannte den Jüngling in das geheime unterirdische Gewöbe da draußen in der einsamen Villa? Denn ein Kerker war es für ihn, das beweist die mit schweren Riegeln verwahrte Erztür, das beweist der Wasserkrug, dessen Scherben am Boden lagen. War es ein Übeltäter, den man hier vorläufig in Gewahrsam hielt? Waren es politische Motive, die sein Verschwinden bewirkten? Oder war er das Opfer privater Rache? Wer doch den Mund der Jahrtausende zum Reden bringen könnte!"

Der Sprecher unterbrach sich plötzlich.

Ein rätselhafter Laut kam irgendwo aus der Tiefe des Raumes! Ein Klagelaut!

Und abermals der erschütternde Klang wie von zögernd sich öffnenden, schmerzlich zuckenden Menschenlippen.

Geschah ein neues Wunder? Belebten sich die beiden weißen Gestalten und gewannen die Sprache wieder?

Und jetzt klang es ganz deutlich, wie aus weiter Ferne, abermals. "Dione, Dione!"

Wie gebannt starrte alles auf die beiden Gestalten. War es nicht, als ob das starre Weiß ihres Leibes sich leise rötete? Hob sich nicht die hüllenlose Brust der Dione in tiefem Atemzuge?

Und wieder kamen die Klänge durch den weiten Raum. "Dione? Du? Wie hast du mich gefunden?" sprach's in altem klassischen Latein.

Wie war das möglich?

Alle, am meisten Dr. Tommasi, blickten in namenlosen Schrecken und Staunen auf die beiden Figuren.

Und von neuem ertönten Stimmen, nun im Wechselgespräch: "Mein Geliebter! Den Göttern Dank, daß ich dich gefunden!"

"Wie fandest du den Weg zu mir, süße Dione?"

"Venus führte mich, Geliebter. Oh, wie finster und schaurig war mein Weg durch die Straßen, mein Lucilius! Denn das Ende der Welt scheint gekommen, die Erde speit Feuerströme aus, der finstere Orkus hat seine Pforten gesprengt."

"Ich fühle, daß die Erde erzittert in unheimlichem Rollen, meine Dione. Giftige Dünste dringen herab bis zu mir und dörren mir die Eingeweide."

"Der Mons Vesuvius schleudert Feuer und Steine in die Luft, und dicker Aschenregen fällt vom Himmel hernieder. Der Tod lauert in den Straßen unserer Stadt. Und ich suchte dich! Seit drei Tagen hattest du mir keine Botschaft gesandt, Geliebter. Zum Altar der Venus eilte ich heute früh. Und sie erhörte das Flehen deiner Dione. Sie lenkte meinen zagen Schritt hierhin in das Landhaus deines Vaters. Hundertmal drohte mir das Lämpchen zu erlöschen, das du mir jüngst geschenkt. Endlich fand ich das Herkulaneische Tor und den schmalen Pfad zu deinem Landhause. Ach, überall suchte ich dich, Geliebter! Überall rief die arme Dione deinen lieben Namen. 'Lucilius!', klang's mir von den leeren Wänden droben überall entgegen, aber mein Lucilius kam nicht! warum verbargest du dich tief unter der Erde?"

"Nicht ich habe mich verborgen, süße Dione; mein Vater hat mich hier eingekerkert, deinetwegen!"

"Dein Vater, meinetwegen?"

"Weil ich nicht von dir lassen wollte, angebetete Dione! Er aber hat mir die Tochter des Prokonsuls, die feile Mamilia, zur Gattin bestimmt. Du weißt, daß der durch den Prokonsul seine ehrgeizigen Ziele in om zu erreichen offt, und ich soll das Opfer seiner Pläne werden."

"Mein armer, teurer Lucilius! Um deiner kleinen Dione willen! Aber wo ist dein Vater? Hat er dich vergessen in dieser schrecklichen Stunde?"

"Er hat nur an sich gedacht und seine Reichtümer. Wenn er d i e nur retten kann! Aber er hat uns beide doch nicht zu trennen vermocht, denn du bist bei mir, Dione!"

"Ach, wenn ich doch diese schwere Tür zu öffnen vermöchte, Geliebter."

"Dazu ist deine weiße Hand zu schwach, Geliebte! Klage nicht: wir sind ja beieinander, ich darf deine Hand fassen, süßeste Dione!"

"Wird dir das Atmen auch so schwer, mein Lucilius? Wie schwül und dunstig ist auf einmal die Luft! Mein Lämpchen - kaum glimmt die kleine rote Flamme noch..."

"Geh, süßes Mädchen! Rette dich! Eil von hier! Merkst du nicht, wie die Festen dieses Hauses erzittern? Flieh und überlaß mich meinem Geschick."

"Dione - fliehen? Nein, mein Geliebter! Habe ich nicht dir gelobt, die Deine zu sein? Denkst du noch jener ersten Stunde, da Dione dein wurde? Ein Tag, düster und trüb, fast wie der heutige? Jupiter zürnte und ballte schwarze Wolken am Himmel und schleuderte den zuckenden Blitz. Mit den Freundinnen war ich zum fröhlichen Feste der Ernte in den Hain der Ceres gegangen. Da überfiel uns das Unwetter. Jeder flüchtete, jeder dachte nur an sich, allein stand Dione am Strand der kleinen Bucht. Da erschienst du! Auch dich hatten die ländlichen Freuden hinausgelockt zu Spiel und Tanz. 'Komm, liebes Mädchen,' sagtest du zu mir, 'dahinten naht noch ein letzter Nachen, der soll uns beide tragen.'"

"Aber meine liebliche Dione fürchtete sich, denn wild schäumte die Flut und schwarz war der einsame Nachen, uralt, wie Charon, sein Fährmann, und sie sagte zu mir: 'Gib mir die Hand, denn ich fürchte mich ohne dich.'"

"Oh Lucilius, mein Geliebter! Dione fürchtet sich abermals ohne dich! Gib mir die Hand!"

"Dione!"

"Siehst du ihn nicht, den schwarzen Nachen von einst? Dahinten aus den düsteren Zypressen kommt er hervor - immer näher - immer näher - Schwarz fluten um ihn die Wasser - endlos! - Und schauriges Dunkel rings um mich - Deine Hand - Geliebter - Geliebter!"

"Dione! Dione! Nicht allein - nimm mich mit dir! Dione!"

* * *

Es war still geworden in dem weiten Raum.

Der Mund der jäh erwachten Jahrtausende schweigt.

Und wieder erstarrt in ihrer bleichen Schönheit leuchten die weiten Gestalten von dem dunkeln Postament hernieder.

Auf dem Podium aber stand der junge Ingenieur.

"Nur ein paar Worte, meine hochverehrten Anwesenden. Sie alle sind soeben Zeugen geworden eines Triumphes der Wissenschaft und ihrer Gesetze, wie er bisher wohl einzig dasteht auf dem Gebiete archäologischer Forschung. Ein Wunder hat sich vor Ihnen allen begeben, ein wahrhaftes Wunder, das doch auf streng logischem, natürlichen Geschehen sich aufbaut. In jenem Kellergewölbe, das den Leichnam des Lucilius barg, entdeckte ich bei der Freilegung des Fundes an der glatten Kalkwand sonderbare Ablagerungen in seltsam symmetrischer Anordnung und wunderbar feiner Struktur, gewissermaßen erstarrte Wellenzüge eines vibrierenden Mediums. Durch die Untersuchungen des französischen Forschers Brun war mir bekannt, daß die von Vulkanen ausgeworfenen Dämpfe der Hauptsache nach aus Kohlensäure, Chlorwasserstoff und Ammoniak bestehen. Sie bildeten auch an dem verhängnisvollen 24. August des Jahres 79 die giftige, todbringende Atmosphäre, die, alles durchdringend, alles Lebendige erstickte. Auch jenes verborgene Gewölbe der "Villa dell' Allianza,' in dem der junge Lucilius schmachtete, füllte sich mit diesem Gasgemisch, immer dichter, immer vollständiger, allmählich jedes Restchen atembarer verdrängend. Aber noch vermochte Lucilius zu atmen und zu sprechen, noch klang seine Stimme und die seiner Dione durch den eng abgeschlossenen Raum, und die dadurch erzeugten Schallwellen setzten das eingeschlossene Gasgemisch in Schwingungen. Die eigentümliche geometrische Form des unterirdischen Gewölbes setzte sie um in stehende Wellen. Die hierdurch bedingte Form der Luftbewegung wirkte wahrscheinlich mehr oder minder beschleunigend auf die Bildung chemischer Umsetzungen innerhalb der Gasmenge. Die Lippmann'sche Theorie der Photographie stehender Lichtwellen liefert hierzu vielleicht ein Analogon. An den Stellen periodischer Molekularbewegung bildeten sich entsprechende chemische Veränderungen. Wo diese Wellenzüge die glatte Kalkwand berührten, da entstanden so in rhythmischer Aneinanderlagerung Niederschläge von Salmiak. So bildete sich eine auf chemischem Wege entstandene Aufzeichnung der Schallwellen auf der Kalkwand, ähnlich der auf der Wachswalze eines Phonographen. Die spätere Bedeckung des Gewölbes mit Lapilliasche hat die feinen Anätzungen der glatten Kalkwand nicht zerstört, sondern sie dem verwitternden Einfluß der Atmosphäre entzogen, so daß sie bei der Ausgrabung in aller ursprünglichen Schärfe und Feinheit wieder zutage traten. Und ich habe von diesem Phonogramm von Pompeji Wachsabgüsse genommen und sie in einem zu diesem Zwecke besonders konstruiertem Wiedergabeapparat zum Sprechen gebracht; mit welchem Erfolge, das haben Sie alle gehört. Und Ihr andächtiges Schweigen hat mir bewiesen, daß das Werk gelungen ist."

Damit endete der Ingenieur. Jubelnder Beifall brach los, man umringte den Redner und seinen Freund Dr. Tommasi.

Ingenieur Lang aber wandte sich leise an den letzern: "Du verzeihst mir die Überraschung, nicht wahr, Enrico?"

Enrico drückte ihm die Hand. "Hätte die sorgsamste Vorbereitung je eine solche Wirkung zeitigen können?"

Lang öffnete den kastenartigen Behälter. Und alle drängten sich herzu.

Da sah man die mit äußerst feinen Liniaturen bedeckten Wachsplatten und den von einer Schlittenvorrichtung darüber hinweggeführten Wiedergabeapparat.

Das war das Zauberwerk, das die schweigende Stimme versunkener Jahrtausende wieder zum Leben geweckt hatte in einer Schönheit und Lauttreue, wie sie bisher noch kein Lebender vernommen - die rührende Todesklage des jungen Lucilius und seiner Dione.

* * *

"Das Phonogramm von Pompeji" erschien in der "Illustrierten Zeitung. Wüchentliche Nachrichten über alle Zeitereignisse, Zustände und Persönlichkeiten, der Gegenwart, öffentliches Leben, Wissenschaft und Kunst," in Leipzig im 133. Band, Nr. 3462, vom 4. November 1909.



(Carl Grunert)
U.E.

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