25. Dezember 2020

Arnold Bennett, "Veras zweites Weihnachtsabenteuer" (1907)



(Mince Pies)

I.

Vera war es gewöhnt, daß ihr seltsame und merkwürdige Dinge widerfuhren - vielleicht, weil sie so eine außergewöhnlich feminine Frau war. Aber von alle den seltsamen und merkwürdigen Dingen, die ihr je zugestoßen waren, war dies mit Abstand das seltsamste und merkwürdigste. Es war eine nicht wirklich befriedigende Geschichte, weil die Affäre mit einem Rätsel endete - oder besser: weil Vera sie beendete. Der Leser kann sich aber damit trösten, daß er vielleicht vor einem unlösbaren Rätsel steht, daß Vera von genau denselben Fragen und Rätseln noch viel mehr gequält wurde.

Zwei Tage vor Weihnachten, etwa um drei Uhr nachmittags, als draußen gerade die Dämmerung hereinbrach und die ferne Rauchglocke, die über den Fünf Städten hing, im allgemeinen Grau des Himmels im Norden verschwamm, saß Vera vor dem Erkerfenster im Salon von Stephen Cheswardines neuerworbenen Haus in Sneyd. Sneyd ist die fashionabelste Wohngegend der Fünf Städte, geadelt durch die Gegenwart einer Gräfin. Und als die schlanke, dreißigjährige Vera nun dort leicht verstimmt saß (aus Gründen, die gleich klar sein werden), in ihrem reizenden Teekleid, fuhr ihr Gatte mit dem Einspänner vor dem Tor vor, und er war nicht allein. Er war in Begleitung eines Mannes von kraftvollem und schneidigen Äußeren, höchst ansehnlich und mit feingeschnittenen Gesichtszügen, lebhaften Augen und in einen prächtigen Pelzmantel gehüllt. Als sie seiner ansichtig wurde, klopfte Veras Herz zwar nicht heftig, aber es stand kurz davor.

Einen Moment später geleitete Stephen seinen Bekannten in den Salon.

"Meine Gattin," sagte Stephen, der sich die Hände rieb. "Vera, das ist Mr. Bittenger aus New York. Er wird uns die Ehre geben, heute bei uns zu übernachten."

Und jetzt klopfte Veras Herz tatsächlich heftig.

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Sie benahm sich mit der delikaten, aber eigensinnigen Anmut, die ihr immer zu Gebot stand, wenn ihr der Sinn danach stand. Niemand hätte vermutet, daß sie seit einer Woche kein Wort mehr mit Stephen gewechselt hatte.

"Ich bin entzückt - höchst entzückt," sagte Mr. Bittinger, mit einem deutlichen Akzent und mit einem Ausdruck der Verehrung. Es war deutlich, daß er höchst entzückt war. Vera hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Daran war nichts Überraschendes. Vera war sich ihrer Wirkung in dieser Hinsicht durchaus bewußt.

An diesem Punkt - als Veras Herz ihr bis zum Hals schlug - wird unsere Erzählung unheimlich und beunruhigend. Das bedarf der Erklärung.

Im Lauf des vergangenen Jahres hatte sich Stephen zumehmend Sorgen um seine Gesundheit gemacht. Das Geschäft mit den Steingutprodukten lief gut, obwohl die Hersteller natürlich wie immer darüber klagten. Der Handel lief sogar so gut, daß Stephen über Überarbeitung und Nervenschwäche zu klagen begann. Die Symptome seines Leidens manifestierten sich in seiner Verdauung; kurz gesagt litt er unter Magenschwäche und Sodbrennen. Und da Stephen bislang einer jener beneidenswerten Menschen gewesen war, die soviel und sooft essen können, wie sie Lust haben, und am nächsten Tag ohne alle Beschwerden aufstehen, machten ihm diese Umstände Sorgen. Zumindest führte es dazu, daß er im August - als er sich gezwungen sah, auf das Weintrinken zu verzichten - zu dem Schluß kam, daß die verrußte Luft in den Fünf Städten seiner Gesundheit schade, und sich entschloß, nach Sneyd umzuziehen. Folglich wurde der Hausstand auch nach Sneyd verlegt. Das neue Heim war größer und auch luxuriöser ausgestattet als der alte Wohnsitz in Bursley. Aber Vera gefiel der Umzug nicht. Vera zog die Stadt vor. Aber sie konnte keine Einwände erheben, weil es ja um Stephens Gesundheit ging.

Den ganzen Herbst über hatte sie sich entsetzlich in Sneyd gelangweilt. Es gab praktisch niemanden, der ihre hübschen Kleider bewunderte, und ihre Freundinnen kamen sie nicht in Scharen aus Bursley besuchen, weil es zu beschwerlich war, spät in der Nacht wieder zurückzufahren. Während dieser Zeit kam Vera der hübsche Einfall, die Weihnachtstage in der Schweiz zu verbringen. Irgendwer hatte ihr von einem Hotel namens "Zum Bären" erzählt, wo sich an Heiligabend nicht weniger als hundert wohlhabende und gutgekleidete Engländer zu einem traditionellen englischen Weihnachtsmahl versammelten. Die Vorstellung entzückte sie, und sie war fest entschlossen, daß sie und Stephen die Festtage im Bären verbringen würden, wo auch immer sich die Bärenhöhle befinden mochte. Und da sich sich absolut sicher war, daß sie Stephen um den kleinen Finger wickeln konnte, betrachtete sie die Reise schon als gebucht, noch bevor sie ein Wort mit ihm darüber gewechselt hatte.

Stephen weigerte sich. Er erklärte, daß ihm schon beim Gedanken an Mince Pies übel wurde, und daß er das ganze "Ausland" verabscheute.

Vera nahm die Abweisung sehr persönlich.

Sie schmollte. Sie war schlechter Laune. Sie erklärte, wenn sie nicht Weihnachten im "Bären" feiern dürfe, würde sie es überhaupt nicht feiern, nirgendwo. Sie gab zu verstehen, daß sie lieber elend an Langeweile in der gottverlassenen Öde von Sneyd sterben wollte, und daß in IHREM Haus keinerlei Weihnachtsfeier stattfinden würde. Sie erkundigte sich nicht mehr nach Stephens Wohlergehen. Sie sprach nicht mehr mit ihm. Sie schaffte es sogar, damit zu übertreiben. Eines Tages sagte Stephen zu ihr als Antwort auf ihr beharrliches Schweigen: "Gut, Kind, wenn du solche Spielchen mit mir treibst, kann ich auch mitspielen. Außer in Gegenwart anderer Leute werde ich ab jetzt kein Wort mehr mit dir reden, bis du nicht zuerst mit mir geredet hast."

Sie wußte, daß er das ernst meinte. Er war ein Ungeheuer. Sie haßte ihn. Sie verabscheute ihn (jedenfalls redete sie sich das ein).

In jener Nacht, in der tiefen Qual ihrer Verzweiflung, hatte sie einen merkwürdigen Traum. Sie träumte, daß ein Unbekannter auf Besuch zu ihnen kam. Die Einzelheiten blieben unklar, aber der Fremde hatte eine weite Seereise hinter sich. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen, aber sie wußte, daß er eine Glatze trug. Und trotz seiner Kahlköpfigkeit war er ihr sympathisch. Er verstand sie, er lobte ihre Kleider, und er behandelte die Frauen, wie Frauen sich wünschen, behandelt zu werden. Und dann machte er Annäherungsversuche, als das Ungeheuer Stephen nicht in der Nähe war. Sie war über diese Zudringlichkeit erschrocken, und sie rückte vom ihm ab auf dem Sofa (er hatte sich neben sie auf ein undeutliches Sofa in einem nicht klar zu erkennende Zimmer gesetzt); aber zugleich war sie freudig aufgeregt, und sie fühlte sich nicht so schuldig, wie sie es eigentlich sollte. Dann verschwamm der Traum, genau an dem interessanten Punkt, an dem es darum ging, wie sie auf seine Zudringlichkeiten reagierte. Der Traum setzte zu einem späteren Zeitpunkt wieder klar und deutlich ein. Irgendetwas fiel im Speisezimmer zwischen dem Ungeheuer Stephen und dem Fremden vor, und sie stand vor der verschlossenen Tür. Es war Heiligabend. Sie klopfte verzweifelt an die Tür, und sprengte sie schließlich auf, indem sie sich dagegen warf. Stephen lag in der Mitte des Zimmers; der Tisch war zur Seite geschoben worden. "Ich habe ihn aus Versehen umgebracht," erklärte der Fremde in leutseligem Ton. Dann ergriff er ihr Hand und zog sich mit sich, weit, weit fort, und sie reisten mit dem Zug und mit dem Schiff und wieder mit dem Zug, bis sie endlich in einer riesigen, lärmenden Stadt ankamen - und Vera aufwachte. Es war ein sehr realistischer Traum gewesen, und er hinterließ bei ihr einen tiefen Eindruck.

Wundert es also, daß Veras Herz - ihr kleines, abergläubisches Herz, wie alle unsere Herzen - heftig schlug, als Stephen völlig unerwartet einen Unbekannten aus New York in ihr Heim einlud? Natürlich sind Träume nichts als Unsinn! Was denn sonst! Und dennoch -

Sie wußte nicht, ob sie betrübt oder erleichtert darüber sein sollte, daß Mr. Bittenger keine Glatze hatte. Er war dezidiert unglatziös; er trug eine prächtige Mähne aus kastanienbraunem Haar. Dieser Schopf führte jeden Zusammenhang mit ihrem Traum ad absurdum. Trotzdem blieb es ein merkwürdiger Zufall.

II.

An diesem Abend wartete Vera, die in ihrem Zimmer eifrig ihre Reize aufhübschte, um Leute aus New York in Verzückung zu setzen, mit insgeheimer Ungeduld darauf, daß Stephen ins Ankleidezimmer kam. Und während sie normalerweise die Tür zwischen dem Schlafzimmer und dem Ankleideraum schloß, ließ sie sie dieses Mal weit offenstehen. Schließlich kam Stephen herein. Und sie wartete, und hörte zu, wie er sich im Ankleideraum bewegte. Nicht ein Wort! Sie machte sich geräuschvoll bemerkbar, um seine Aufmerksamkeit zu erregen; sie ließ sogar eine Haarbürste zu Boden fallen. Nicht ein Wort! Nach ein paar Augenblicken wagte sie sich sogar ins Ankleidezimmer. Stephen wischte sich gerade das Gesicht ab, und er sah sie kurz über das Handtuch hinweg an, das Nase und Mund verdeckte. Nicht ein einziges Wort! Und wie finster der Blick dieses Ungeheuers war! Sie hatte den Eindruck, daß Stephen zu jenen lächerlichen Personen zählte, die alles wörtlich nehmen. Er hatte gesagt, daß er nicht mit ihr reden würde, bevor sie mit ihm geredet hatte - jedenfalls wenn sie allein waren; öffentliche Auftritte zählten nicht. Und er würde sich an seine Regel halten, ganz gleich, was sie unternahm.

Sie verließ eilig den Ankleideraum. Also gut! Also gut! Wenn Stephen Krieg haben wollte, dann sollte er ihn bekommen. Ihr Groll gegen ihn wuchs ins Unermeßliche. Zuvor war er nicht mehr gewesen als eine Art bescheidenes Landhäuschen. Jetzt erweiterte sie ihn zu einem Rathaus, mit imposanten Portalen, zahlosen Fenstern und reichgeschmückter Fassade, Marmorteppen, und Fahrstühlen, die geschäftig auf und ab fuhren. Sie wünschte, sie hätte ihn nie geheiratet. Sie wünschte, daß Mr. Bittenger eine Glatze HÄTTE.

Das Abendessen verlief mit erstaunlich problemlos. Mr. Bittenger hatte zwischen ihnen beiden Platz genommen. Es herrschte ein Ton von ausgesuchter Höflichkeit vor. In ihrer Eigenschaft als wohlerzogene Gastgeber bemühten sie sich beide, Mr. Bittenger trotz ihres erbitterten Zwists den Abend angenehm zu gestalten, was ihnen auch gelang. Als der Champagner zur Neige ging (und es war nicht Stephen, der ihm zusprach), geriet Mr. Bittenger zunehmend in gelöste Stimmung. Er war Einkäufer für einen großen Importeur von Steingutwaren in New York (Vera hatte das schon vermutet; solche Einladungen waren ein wichtiger Teil des Geschäftslebens in den Fünf Städten), und er berichtete höchst amüsant von den Mißgeschicken und Zwischenfällen, die dazu geführt hatten, daß er hier in England zu einer so ungünstigen Zeit für seine Einkäufe gestrandet war. Vera dachte über die Zwischenfälle und Mißgeschicke nach, und an ihren Traum von dem Mann, der so eine lange Seereise hinter sich hatte. Natürlich sind Träume sinnlos, aber trotzdem...

Das Gespräch kam auf das Thema von Stephens Gesundheit, was bei Unterhaltungen in diesem Heim unvermeidbar war. Mr. Bittenger hörte aufmerksam zu.

"Ich weiß, ich weiß!" sagte Mr. Bittenger. "Mir ist es auch genauso gegangen. Ich weiß, wie Sie sich fühlen - jedenfalls ansatzweise."

"Und haben Sie es überstanden?" fragte Stephen neugiereg, während er auf einer Scheibe trockenem Toast herumkaute.

"Darauf können Sie wetten!" sagte Mr. Bittenger.

"Das müssen Sie mir genauer erzählen," sagte Stephen, und fügte hinzu: "irgendwann später am Abend." Ihm stand nicht der Sinn danach, die Geheimnisse der menschlichen Verdauungsvorgänge am Abendbrottisch zu erörtern. Es gab da gewisse Einzelheiten ... und Mr. Bittenger befand sich in einer Stimmung, die man ohne Übertreibung als gehoben bezeichnen durfte.

Kurz darauf kam das Gespräch auf ihr jeweiliges Alter. Sie zierten sich zunächst - wie das bei Männern unvermeidlich ist - so ein Staatsgeheimnis zu verraten, und erklärten beide, daß der andere der jüngere sei.

"Nun," sagte Mr. Bittenger schließlich zu Vera, "für wie alt würden Sie mich einschätzen?"

"Ich - ich würde Sie für fünf Jahre jünger als Stephen halten," sagte Vera.

"Und darf ich fragen, wie alt Sie sind?" richtete Mr. Bittenger die Frage ohne Umstände an Stephen.

"Ich bin vierzig," sagte Stephen.

"Ich auch!" sagte Mr. Bittenger.

"Sie sehen nicht danach aus," sagte Stephen.

"Das will ich meinen!" sagte Mr. Bittenger stolz.

"Mein Mann bekommt schon graue Haare, sagte Vera, "während Sie - "

"Graue Haare!" rief Mr. Bittenger. "Ich wünschte, ich hätte graue Haare. Ich würde fünftausend Dollar darum geben, graue Haare zu haben."

"Wieso denn das?" fragte Vera mit einem Lächeln.

"Schauen Sie mal, liebe Frau," sagte Mr. Bittenger in einem seltsamen Ton und setzte sein Glas ab.

Und mit einer raschen Bewegung lüftete er eine Perücke von prachtvollem kastanienbraunen Haar - nur für einen Augenblick. Der Mann war völlig kahl.

III.

Vera reagierte nicht hysterisch. Sie stieß keinen Schrei aus, brach nicht in Tränen aus, wurde nicht kreidebleich, rang nicht verzweifelt die Hände, biß sich nicht auf die Lippen, bis sie bluteten, ließ ihr Weinglas nicht fallen, und stürzte auch nicht besinnungslos zu Boden. Trotzdem beunruhigte sie diese überraschende Wendung der Dinge außerordentlich. Natürlich sind Träume nichts als Unsinn. Und doch - die Wahrheit ist, daß wir uns einreden, daß Träume ohne Bedeutung sind, und bis zu einem gewissen Punkt haben wir damit auch Erfolg. Aber Vera hatte den Eindruck, daß dieser Punkt jetzt überschritten war. Und wenn die Dinge weiter so verliefen, wie es der Traum vorausgesagt hatte, dann würde sie sich in den nächsten achtundvierzig Stunden in den Armen dieses Mannes wiederfinden und er würde ihren Gatten umgebracht haben.

Sie war so wütend auf Stephen, daß ihr nicht klar war, ob sie sich nun wünschte, daß der Traum in Erfüllung ging oder nicht. Niemand hätte sich vorstellen können, daß unter dieser sanften Brust ein Wunsch nach Mord gärte. Und doch war es so. Diese bezaubernde, hübsche Frau, die sich da im Palast ihres Zorns gegen Stephen erging, hätte nicht sagen können, daß es ihr wirklich leidgetan hätte, wenn Stephen das als gerechten Sündenlohn empfangen würde.

Nach dem Dinner entschuldigte sie sich und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Sie mußte allein und in Ruhe nachdenken. Die Dinge gingen allmählich entschieden zu weit. Sie ließ durchblicken, daß sie sich nicht wohl fühlte. Mr. Bittenger bedauerte das und zeigte Mitgefühl. Aber war Stephen auch nur im geringsten besorgt? Keineswegs. Sie ging nach oben, und sie dachte nach, während sie auf dem Sofa lag, mit einer Decke über den Knien, während die Flammen im Kamin zuckende Schatten auf ihr Gesicht warfen. Ja, es war ihre Christenpflicht (wenn auch nicht als zürnende Gattin), Stephen zu warnen, daß der Tod seine knochige Hand nach ihm ausstreckte. Eine Vorwarnung zumindest hatte er verdient. Aber wie konnte sie ihn warnen? Es war klar, daß sie ihn nicht im Beisein von Mr. Bittenger, dem angehenden Mörder, warnen konnte. Also mußte sie ihn warnen, wenn sie beide allein waren. Und das bedeutete, daß sie in ihrem ehelichen Zwist die Schlacht verlieren würde. Niemals! Es war ausgeschlossen, daß sie hier nachgeben würde! Sie blickte finster in die zuckenden Flammen, und kam zu dem Schluß, daß Stephens Tod besser wäre als eine solche Niederlage. So ist's nun mal mit der menschlichen Natur bestellt.

Außerdem waren Träume nichts als Unsinn.

Kam Stephen nach oben, um sich nach ihrem Befinden zu erkunden? Oh, nein! Er kam nicht. Und als er nach einiger Zeit immer noch nicht gekommen war, ging sie wieder nach unten und sagte, daß sie sich besser fühle.

Und unten erfuhr sie, daß sie sich völlig umsonst Sorgen gemacht hatte. Mr. Bittenger würde am nächsten Morgen abreisen, am Heiligabend. Stephen würde ihn am frühen Morgen nach Bursley fahren. Er würde sein Gepäck im Five Towns Hotel abholen, und den Mittagszug nach Liverpool nehmen. Er hatte eine Überfahrt auf der Saxonia gebucht, die um drei Uhr nachmittags auslief. Er würde also Weihnachten auf hoher See verbringen, und da er sich zu Weihnachten auf hoher See befinden würde, war es ausgeschlossen, daß er am Heiligabend Stephen im Dorf Sneyd umbringen würde.

Was für eine Erleichterung! Und trotzdem regte sich ein gewisses leichtes Bedauern in ihren kleinen, abergläubischen Herzchen. Das kleine Herzchen ging wieder zu Bett. Und Stephen und der Fremde saßen noch lange beisammen und unterhielten sich - zweifellos über die Wunderkur.

Der Abschied am nächsten Morgen verstärkte das leichte Bedauern. Mr. Bittenger verfügte über ein einnehmendes Wesen, und Vera mußte den ganzen Nachmittag an ihn denken. Mr. Bittenger hatte sich so ausgiebig über ihre großzügige Gastfreundschaft bedankt - und wie sehr er es bedauert hatte, daß er sie jetzt verlassen mußte!

Das änderte nichts daran, daß Träume Unsinn waren.

Sie saß vor dem Erkerfenster des Salons, gerade so, wie sie dort vor vierundzwanzig Stunden gesessen hatte, als sie niemanden anders erblickte als Mr. Bittenger, der mit raschem Schritt den Weg entlang kam.

Diesmal war sie um einiges mehr beunruhigt als bei der Entdeckung, daß Mr. Bittenger eine Glatze trug.

Schließlich waren Träume -

Sie stand auf, das Blut stieg ihr zu Kopf, und sie eilte aus dem Zimmer, ohne zu wissen, wohin sie fliehen sollte. Als sie wieder zu Sinnen kam, war sie in einem kleinen Frühstückszimmer am Ende des Hauptflurs, das nie benutzt wurde. Sie hatte die Tür nicht hinter sich geschlossen, und Mr. Bittenger, den einer der Dienstboten eingelassen hatte, sah sie dort und betrat ihren Zufluchtsort, immer noch in seinen prächtigen Pelzmantel gehüllt.

Und während er den Mantel ablegte, erzählte er ihr, was vorgefallen war. Das Pferd hatte auf der glatten vereisten Straße zwischen Sneyd und Bursley gescheut, die Abholung des Gepäcks im Five Towns Hotel hatte sich verzögert, er hatte den Zug nach Liverpool verpaßt, und damit auch sein Schiff. Er hatte Stephen im Werk davon berichtet, und Stephen hatte darauf bestanden, daß er die Weihnachtsfeiertage bei ihnen verbringen sollte. Er war zu Fuß von Bursley hergekommen. Und hier war er nun. Stephen, der noch geschäftlich einiges zu erledigen hatte, würde später mit einem Teil seines Gepäcks nachkommen.

Mr. Bittengers Gesicht strahlte vor Freude. Der Verlust seiner zwanzig Guineen für die Überfahrt aus der Saxonia schien ihm nicht das Geringste auszumachen.

Und er setzte sich neben Vera.

Vera wurde gewahr, daß sie beide auf einem Sofa saßen - das Sofa aus ihrem Traum - und es schien ihr, daß sie auch das Zimmer wiedererkannte.

"Ehrlich gesagt, liebe Frau," sagte Mr. Bittenger und sah ihr tief in die Augen, "ich bin eigentlich FROH, daß ich meinen Dampfer verpaßt habe. Jetzt habe ich die Gelegenheit, Weihnachten in England zu verbringen, und auch noch in Ihrer angenehmen Gesellschaft - in ihrer wunderbaren Gesellschaft - " Er beendete den Satz nicht, und sah sie unverwandt an.

Was war das bitte anderes als eine verfängliche Situation auf einem Sofa?

Mr. Bittenger hatte den Zug nach Liverpool mit Absicht verpaßt; davon war Vera überzeugt. Und wenn er ihn nicht mit Absicht verpaßt hatte, dann hatte er ihn deshalb verpaßt, weil der Traum das vorausgesagt hatte. Wer davon überzeugt ist, daß Träume nur Unsinn sind, darf das gerne glauben.

IV.

Obwohl Vera also darauf bestanden hatte, daß es in ihrem Heim in diesem Jahr keine Weihnachtsfeier geben würde, fand also eine Weihnachtsfeier mit allem Drum und Dran statt. Man konnte Mr. Bittenger doch nichts verweigern! Mr Bittenger wünschte sich Stechpalmenzweige; der Gärtner besorgte sie. Mr. Bittenger wünschte sich Misteln; Stephen fuhr los und kaufte ein Bündel ein. Mr. Bittenger konnte sich eine englische Weihnacht nicht ohne Truthahn, Mince Pies, Plumpudding und all die anderen Unverdaulichkeiten nicht vorstellen, und Vera versprach, daß diese Lebensnotwendigkeiten für die Festtage besorgt werden würden, in einer Stimme, die ihr selbst fremd schien, und Stephen erklärte nicht, daß ihm schon beim Gedanken an Mince Tarts übel wurde. Sogar das englische Wetter, das bekanntlich in den letzten Jahren leider dazu geneigt hat, die Milde des Wetters zu Weihnachten an der Riviera zu zeigen, tat Mr. Bittenger den Gefallen. Am späten Heiligabend begann es sachte, aber beständig zu schneien - feiner, gefrorener Schnee. Und die Sternsinger - eine Gruppe von Jungen und Mädchen aus dem berühmten Konsistorium der Gräfin von Chell nahebei - kamen vorbei und sangen im Garten im Schein einer Laterne, während der Schnee fiel. Und Mr. Bittengers Herz war bis zum Platzen voll vom Geist der wahren englischen Weihnacht.

Was Veras Herz betraf, hätte sie nicht sagen können, von was es erfüllt war. Mr. Bittengers Haltung ihr gegenüber wurde immer vertraulicher. Er ließ durchblicken, daß er all die Jahre , bevor er ihr begegnet war, für restlos vergeudete Lebenszeit hielt. Und Stephen schien es nicht zu kümmern.

Als sie sich an diesem Abend zur Nachtruhe begaben, stiegen sie die Treppe empor, deren Geländer die fließenden Hände von Mr. Bittenger mit Stechpalmenzweigen und Papiergirlanden umwunden hatten, und wünschten einander lautstark Frohe Weihnachten; aber drinnen im Schlafzimmer hielt sich Stephen an sein Schweigegebot. Und natürlich tat Vera es ihm gleich. Niemand konnte von ihr erwarten, daß sie als erste nachgeben sollte. Es war schließlich Stephens Schuld. Er hätte nur mit ihr zum "Bären" in die Schweiz fahren zu brauchen. Dann hätte es keinen Traum gegeben, keinen Mr. Bittenger, und keine Gefahr. Aber wie die Dinge standen, würde er in vierundzwanzig Stunden ein toter Mann sein.

Und den ganzen Heiligabend über wartete Vera, unter der Fröhlichkeit, mit der sie die temperamentvollen Ausfälle von Mr. Bittenger quittierte, in fürchterlicher Anspannung darauf, daß der Traum wahr werden würde. Nur Stephen fiel ihre Aufgeregtheit auf. Er sagte zu sich: "Der Streit zehrt an ihren Nerven. Noch einen Tag, und sie gibt nach. Das wird ihr guttun. Ich werde ihr großherzig verzeihen. Aber sie muß zuerst nachgeben."

Er hatte keine Ahnung, daß er an der Schwelle des Todes stand.

Das Weihnachtsessen verlief glänzend, und Stephen, dem es selten an Mut gebrach, aß sogar einen halben Mince Pie. Der Tag war fast vorüber, und noch war kein unvorhergesehener Todesfall eingetreten. Und als beide Männer erklärten, sie würden gerne, wenn sie gestatte, mit ihr in den Salon gehen und dort ein wenig rauchen, kam Vera zu dem Schluß, daß Träume wirklich nur Schäume sind. Sie ging zuerst in den Salon hinüber; Mr. Bittenger folgte ihr. Stephen bildete die Nachhut. Aber gerade als Stephen die Schwelle überschritt, sprach ihn der Gärtner an, der sich seltsam im Flur ausmachte und ein Packet in den Händen hielt. Stephen kehrte um und rief Mr. Bittenger zu sich. Und vor Vera fiel die Tür des Salons ins Schloß.

Sie wartete, allein, für eine unendliche lange Zeit, und als sie ungewöhnlichen und heftigen Lärm vernahm, hielt sie es nicht mehr aus und läutete nach den Dienstboten.

"Louisa," wollte sie von dem Stubenmädchen wissen," wo ist der Hausherr?"

"Ach, Ma'am," antwortete Louisa und mußte kichern - so viel Freiheit durfte man dem Mädchen zu Weihnachten wohl zugestehen - "Ihr könnt euch das gar nicht vorstellen! Tinsley hat gerade ein paar Boxhandschuhe vorbeigebracht, und der Herr und Mr. Bittenger haben ihre Jacketts im Speisezimmer abgelegt. Und sie haben den Tisch vor die Tür geschoben, und so was habt Ihr in Eurem ganzen Leben noch nicht gesehen, Ma'am!"

Vera schickte Louisa fort.

Das war es - genau wie im Traum! Sie wollten einen Boxkampf austragen. Mr. Bittenger war ohne Zweifel darin gut geübt, und sie wußte, daß es Stephen nicht war. Ein unglücklicher Treffer an einer empfindlichen Stelle, und Stephen würde reglos auf dem Boden des Speisezimmers liegen - dort, wo der Eßtisch stehen sollte. Das Leben des Ungeheuers stand auf dem Spiel! Das Leben des Rohlings lag in ihren Händen! Der Traum erfüllte sich als furchtbare Tragödie!

Sie sprang auf und eilte zur Tür des Speisezimmers. Sie ließ sich nicht öffnen. Wieder wie im Traum!

"Du kannst jetzt nicht reinkommen," rief Stephen und lachte. "Hab' ein bißchen Geduld!"

Sie rüttelte an der Klinke und versuchte die Tür aufzustoßen.

Sie war drauf und dran, lauthals zu verlangen, daß drinnen aufgemacht würde, als ihr aufging, wie gefährlich das sein könnte. In ihrem Traum war der Tod ihres Gatten bereits eingetreten, als sie es geschafft hatte, die Tür zu öffnen.

Sie stürzte in die Küche.

"Louisa," befahl sie. "Geh in den Garten und klopf ans Speisezimmerfenster, und sag dem Herrn, daß ich sofort mit ihm im Salon reden muß!"

Und sie kehrte außer sich vor Aufregung in den Salon zurück.

Nach einer weiteren Ewigkeit hörte sie, wie eine Tür geöffnet wurde, und Stephen kam zu ihr in den Salon. Was für eine Erscheinung! Er trug keine Weste, wie Louisa gesagt hatte, und an den Händen trug er klobige Boxhandschuhe aus hellem Leder.

Sie sprang auf und küßte ihn.

"Steve," sagte sie. "Vertragen wir uns wieder?"

"Das will ich meinen!" antwortete er und gab ihr den Kuß mit Leidenschaft zurück. Er hatte gewonnen.

"Was habt ihr vorgehabt?" fragte sie ihn.

"Bittenger und ich wollten gerade eine Runde mit den Handschuhen hier austragen. Das gehört zu seinen Mittel gegen meine Verdauungsbeschwerden. Er sagt, daß es am besten dagegen hilft. Ich konnte sie nicht eher besorgen. Tinsley hat sie gerade vorbeigebracht. Da dachten wir, wir probieren das gleich aus."

"Warum hast du mich nicht ins Eßzimmer gelassen?"

"Mein Kind, wir haben den Tisch vor die Tür geschoben, um Platz zu haben. Und ich dachte, daß dir das womöglich nicht wirklich gefällt, und deshalb - "

"Stephen," sagte sie, in ihrem eindringlichsten Tonfall, "tust du mir einen Gefallen?"

"Worum geht's?"

"Tust du mir den?"

Eine Pause.

"Ja, sicher."

"Bitte box heute nacht nicht."

"Aber was soll Bittenger von mir denken?"

Wieder eine Pause.

"Egal. Willst du wirklich nicht, daß ich boxe?"

"Ich möchte nicht, daß du boxt - nicht heute nacht." "Abgemacht, mein Täubchen." Und er küßte sie noch einmal. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein.

Mr. Bittenger kehrte allein nach New York zurück.

Aber einmal angenommen, Vera wäre nicht eingeschritten: was wäre dann passiert? Das ist die Frage, die seitdem das kleine abergläubische Hirn Veras zermartert.

* * +

Wie "Veras erstes Weihnachtsabenteuer" erschien auch "Vera's Second Christmas Adventure" ohne vorhergehenden Magazinabdruck in Arnold Bennetts Erzählungssammlung The Grim Smile of the Five Towns.

U.E.

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