I.
Fünf Tage vor Weihnachten kam Cheswardine heim zu seiner Frau, nachdem er eine Woche in Geschäftsangelegenheiten in London verbracht hatte. Vera empfing ihn an der Haustür (oder in deren Nähe) ihres hübschen, aber kinderlosen Heims in ihrer Eigenschaft als bestgekleidete Dame in Bursley in einem Teekleid, das auch ein wesentlich unempfänglicheres Mannsbild als ihren Gatten beindruckt haben würde; während er, in seiner Eigenschaft als nüchterner und erfolgreicher Steingutproduzent vorgab, daß das Teekleid nichts besonderes sei, und ihr den nüchternen, kurzen Kuß eines Mannes gab, der seit sechs Jahren im Stand der Ehe weilt und sich daran gewöhnt hat.
Trotzdem: das Teekleid gefiel ihm, und Vera konnte an den gewissen kleinen Zeichen ablesen, daß es ihm gefiel. Sie hatte auch darauf gehofft, daß das Teekleid diese Wirkung erzielte. Sie hatte gehofft, daß er in versöhnlicherer Stimmung heimkommen würde, als er abgereist war, und daß sie doch noch ihren Willen bekommen würde.
Nun darf man mit Fug und Recht gewisse Erwartungen hegen, wenn ein Ehemann, der über einen gewissen Wohlstand verfügt und ein schönes und verwöhntes Weib sein eigen nennt, eine Woche in London verbringt und fünf Tage vor Weihnachten heimkehrt. Es würde nicht nur gewaltigen Mut, sondern auch einen beeindruckenden Mangel an Takt und Anstand im Hinsicht auf den ehelichen Hausfrieden zeigen, diese Erwartungen zu enttäuschen. Und Cheswardine, der durchaus imstande war, den Extravaganzen seiner besseren Hälfte strenge Zügel anzulegen, war ein anständiger Kerl. Er hatte nicht vor, sie zu enttäuschen; er kannte seine Pflichten.
Und so begann er an jenem Nachmittag, während das Teekleid den Reiz des großen, im Chippendalestil eingerichteten Salons noch erhöhte, die kleine hölzerne Kiste zu öffnen, die er eigenhändig ins Haus getragen hatte; öffente sie mit großer Vorsicht, verstreute Verpackungsmaterial auf dem Teppich und holte schließlich ein Paar Vasen aus venezianischem Glas ans Tageslicht. Er stellte sie auf den Kaminsims.
"Da, bitte!" sagte er stolz.
Es waren ganz offenkundig teure, alte Vasen, von vorzüglicher Form, mit exquisiter Glasur in delikatem hellen Blau und Rosa.
"Siebzehntes Jahrhundert!" sagte er.
"Sehr hübsch," sagte Vera und zeigte sich begeistert. "Wofür sind die gedacht?"
"Dein Weihnachtsgeschenk," erklärte Cheswardine, und fügte hinzu, "meine Liebe."
"Oh, Stephen!" hauchte sie.
Unter solchen Umständen ist ein Kuß angemessen, und Cheswardine bekam einen.
"Bei Duveens haben sie mir versichert, daß sie einzigartig sind," sagte er bescheiden, "und ich glaube ihnen."
Nun sollte man meinen, daß ein Paar venezianischer Vasen, die Duveens als einzigartig bezeichnet hatte, eine Frau zufriedenstellen würde, die sich eine teuere Garderobe leisten konnte und der es auch sonst an nichts Wesentlichem fehlte. Aber Vera war nicht zufrieden. Im Gegenteil: sie war sogar tief entäuscht. Denn diese Vasen zeigten ihr, daß sie sich nicht hatte durchsetzen könnten. Sie nahmen ihr alle Hoffnung. Bei dem Ehestreit vor Cheswardines Abreise nach London war es hauptsächlich um ein Weihnachtsgeschenk gegangen. Vera hatte in Bostocks Kaufhaus in der Nachbargemeinde Hanbridge einen Klavierhocker gesehen, in jenem neuen Stil, der als Art Nouveau oder Jugendstil bezeichnet wird, und hatte sich darin verliebt. Sie hatte ihren Gatten mit dorthin geschleppt, und er hatte sich absolut nicht darin verliebt. Er war aus hellem Holz gefertigt, und die Beine waren so gewunden und verdreht, als stammten sie von Bäumen, die sieben Jahre in einem Fegefeuer für sündige Gehölze zugebracht hatten. Hier und da waren Onyxe ins Schnitzwerk eingelassen. Der Sitz war wunderbar weich. Was Vera am meisten gefiel, war, daß das Notenfach unter dem Sitz nicht nach oben aufzuklappen war wie bei den meisten Klavierhockern, sondern zwei seitliche Klappen aufwies. Man drückte auf einen Knopf (aus Onyx), und die Schubfächer sprangen auf und präsentierten handgerecht die gewünschte Musik; die östliche Abteilung war für Klavierstücke reserviert; die westliche Abteilung für Lieder. Kurzum, es war der Dernier cri unter den Klavierhockern; von unübertroffener Modernität.
Aber Cheswardine gefiel er nicht, und er hielt mit dseiner Meinung nicht hinter dem Berg. Er erklärte, daß er überhaupt nicht zu den Chippendale-Möbel "passen" würde, und Vera sagte, daß alle schönen Dinge zueinander "passen," und Cheswardine räumte recht barsch ein, daß das zutraf. Man muß wissen, daß ihr Heim ihre große Leidenschaft darstellte. Sie änderten fortwährend etwas an der Einrichtung - was mehr war, als sie für ein Kind unternommen hätten, selbst wenn sie eines gehabt hätten; und Cheswardines besserer, aber nüchternerer Geschmack bildete immer einen Gegensatz zu Veras Vorliebe für das Neue und Ausgefallene. Abgesehen von der Mode verfügte Vera über nicht mehr Geschmack als eine Hausmaus.
Sie fingen in Bostock's keinen Streit an. Sie stritten sich auch nicht anderswo; aber nachdem Vera vorgeschlagen hatte, daß er ihr eine große Freude machen würde, wenn er ihr den Klavierhocker zu Weihnachten schenken würde (sie schien der Ansicht zu sein, daß er so besser zu den Chippendale-Möbeln "passen" würde), und Cheswardine höflich aber bestimmt abgelehnt hatte, war die Stimmung zwischen ihnen leicht frostig und auf ihrer Seite ein wenig tränenfeucht. Vera hatte durchblicken lassen, daß, auch wenn Cheswardine nicht im Geringsten an Musik interessiert war, selbst wenn er Musik verabscheute und den schwarzen Broadwood-Flügel scheußlich nannte, das kein Grund war, warum sie auf einen hübschen neuen Klavierhocker verzichten sollte, in dem sie ihre Noten geordnet aufbewahren konnte. Und der angebliche Stilbruch war nichts als eine Ausrede... Und so weiter.
Es darf also nicht überraschen, daß die venezianischen Vasen aus dem siebzehnten Jahrhundert Vera kalt ließen, und daß es mit den Aussichten auf ein besinnliches Weihnachtsfest schlecht bestellt war.
Freilich machte Vera mit ihrem weiblichen, nachgiebigen Takt das Beste aus der Situation, und am Abend begann sie, Flur, Speisezimmer und Salon mit Christdorn und Mistelzweigen zu schmücken. Bevor das Paar sich zur Nacht zurückzog, erfüllte die gute alte Weihnachtsstimmung das Haus, und die Dienstboten waren in freudiger, erwartungsvoller Stimmung. Das Dienstpersonal würde kein Weihnachtsdiner bekommen, mit Gebäck, Kuchen und Portwein und einer Tischdekoration, die in der Fünf Städten nicht ihresgleichen hatte; sie würden nicht ihre Bekannten zu einem fröhlichen Abend zu sich laden. Für das Personal stand lediglich mehr Arbeit und weniger Schlaf als gewöhnlich an; aber so ist es eben mit dem Zauber von Misteln und Tannengrün, die sich um Bilderrahmen ranken und von den Lüstern herabhängen, daß sich unter den Dienstboten eine angenehme Stimmung breitmachte.
Und als Vera die Schlafzimmertür schloß, sagte sie mit einem zauberhaften, nachsichtigen Lächeln: "Ich habe gestern bei Bostock's ein ganz wunderbares Zigarrenschränkchen gesehen."
"Ach!" sagte Cheswardine. Er besaß kein Zigarrenschränkchen, und er wünschte sich eins, und Vera wußte, daß er sich eins wünschte.
Und Vera schlief im warmen Bewußtsein ihrer treusorgenden weiblichen Fürsorglichkeit ein.
Am nächsten Morgen, beim Frühstückstisch, sagte Cheswardine: "Es läßt dir keine Ruhe, nicht wahr, Maria?"
Er nannte sie Maria, wenn er streng mit ihr sein wollte.
"Nun," sagte sie, "da hast du recht. Überhaupt..."
Und er gab ihr eine Fünfpfundnote.
Es war ein jährliches Ritual zwischen ihnen. Er gab ihr das Geld, um ihm ein Weihnachtsgeschenk zu besorgen. Aber es muß nicht betont werden, daß der Zusammenhang zwischen ihrem Geschenk für ihn und dem Geld, daß er ihr aushändigte, zwischen ihnen niemals Erwähnung fand.
Bevor er zur Fabrik fuhr, fand sie Gelegenheit, die venezianischen Vasen zu loben, undbestand darauf, daß er sich warm anzog, denn er zeigte Anzeichen, daß einer seiner bösen Erkältungen im Anmarsch war.
II.
Am frühen Nachmittag fuhr sie zu Bostock's Kaufhaus, in Hanbridge, um das Zigarrenschrnkchen und ein paar Kleinigkeiten für den Haushalt zu kaufen. Bostock's ist ein Qualitätsgeschäft. Es hat nicht ganz die gehobene, vornehme Gediegenheit von Brunt's, gleich nebenan, wo man seine Speisezimmereinrichtungen und die Kleider für die Bälle im Januar bestellt. Aber man führt dort Qualität, und es bildet eine der Attraktionen im dem Paris unter den Fünf Städten. Es gibt drei Schaufensterfronten; man könnte es das "Haus der hundert Fenster" nennen. Man kann bei Bostock's beinahe alles erstehen, von einem Klavierhocker im Jugendstil bis zu einem Käserad - denn er gibt dort eine Delikatessenabteilung. (Bei Brunt's führt man keinen Käse.)
Vera erledigte ihre uninteressanten Einkäufe zuerst, im Kellergeschoß, dann ging sie nach oben in die weihnachtlich hergerichteten Abteilungen, die ohne jede Frage wunderbar wirkten: der strahlende Glanz der elektrischen Festbeleuchtung; das glitzernde Funkeln vergoldeter Spielsachen; eine aufgeregte, lächelnde Menge von jungen und alten Gesichtern; und die Kassierer hinter ihren kleinen Tresen, die das Geld einsackten, so schnell sie nur konnten! Eine freudige, herrliche Szene, die dazu angetan war, der Geschäftsführung von Bostock's helle Freudentränen in die Augen zu treiben. Bostock's machte in diesem Jahr einen Rekordumsatz. Die Straßenbahnen donnerten über die vereisten Straßen aller Fünf Städte, um Käufer nach Bostock's zu bringen. Die Kinder träumten von Bostock's. Väter setzten finstere Mienen auf und blieben zurück, um die Rechnungen zu bezahlen. Bei Bostock's war man nicht wirklich beunruhigt, denn bei Bostock's ließ man sich durch nichts aus der Ruhe bringen; aber es hing etwas bei Bostock's in der Luft, eine seltsame Stimmung, die der Selbstgefälligkeit einen Dämpfer versetzte. Die Leute schienen wie benommen, wenn sie das Kaufhaus betraten, um sich in einem Kaufrausch zu verausgaben.
Und da stand der Jugendstil-Klavierhocker in einer Ecke, genau da, wo Vera ihn zuerst gesehen hatte! Sie trat näher und achtete nicht auf die furchtbare Gefahr. Die Notenschubfächer standen einladend offen.
"Vier Pfund, neun Shilling, und Sixpence, Mrs. Cheswardine," sagte einer der Verkäufer, der sie kannte.
Sie blieb stehen und berührte ihn leicht mit dem Finger.
Jeder kennt diese seltsame Ekstase, die einen mitunter in guten Geschäften überkommt, besonders zu Weihnachten. Ich möchte es lieber Ekstase als Rausch nennen, aber ich habe schon das Wort "Trunkenheit" dafür gehört. Es ist eine herrliche, überwältigende Erfahrung, wie ein guter Wein. Ein blinder Instinkt ergreift von der eigenen Vernunft Besitz, wirft sie aus dem Fenster und übernimmt alle Willenskräfte. Man wird für alle Argumente taub; man kümmert sich keinen Deut mehr um die Konsequenzen. Man will etwas; man muß es haben; und man bekommt es.
Vera wurde von diesem herrlichen und überwältigenden Gefühl überfallen, als sie sich vorbeugte und das kleine Möbelstück berührte. Was kehrte sie das Zigarrenschränkchen! Was kümmerten sie die Einwände ihres Gatten! Schließlich war sie eine erwachsene Frau (neunundzwanzig oder dreißig), und hatte ein Recht auf eine gewisse Freiheit. Sie war keine Sklavin und würde es niemals sein. Und es würde perfekt in den Salon passen.
"Ich nehm ihn," sagte sie.
"Ja, Mrs. Cheswardine. Ein einzigartiges Stück, absolut einzigartig. Penkethman!"
Und Vera folgte Penkethman zu einer Registrierkasse und erhielt eine halbe Guinee als Wechselgeld auf eine Fünfpfundnote.
"Bitte verpacken Sie es sorgfältig," sagte Vera.
"Ja, Ma'am. Es wird morgen früh geliefert."
Ihr wurde langsam bewußt, daß sie unter dem unheilvollen Einfluß der Ekstase gehandelt hatte und daß sie das Zigarrenschränkchen nicht gekauft hatte, und daß sie kaum noch Geld übrig hatte, und daß Stephens Verbot, anschreiben zu lassen strengste seiner Regeln war, als sie Mr. Charles Woodruff ausmachte, der damit beschäftigt war, Spielzeug einzukaufen - ohne Zweifel für seine Neffen und Nichten.
Mr. Woodruff war ein Freund der Familie und Junggeselle. Er hatte Vera geliebt, bevor Stephen aufgetaucht war, und war ihr noch immer sehr verbunden. Stephen und ihn verband eine gute Freundschaft. Stephen und Vera fanden nicht einmal etwas dabei, sich vor Mr. Woodruffs Augen zu streiten, der neutral blieb und keinem der beiden den Vorzug gab.
"Hallo!" sagte Mr. Woodruff und regte seine langen, schlacksigen Arme, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte. "Ich kaufe gerade ein bißchen Spielzeug."
Sie half ihm bei der Auswahl, und in Anschluß lud er sie zum Tee in der neueröffneten Sub Rosa-Teestube in der Machin Street ein. Sie nahm die Einladung an, und als sie an dem Klavierhocker vorbeikamen, gab sie Penkethman ein kleines Päckchen, das sie in der Hand hatte, und bat ihn, es in das Schubfach des Hockers zu legen. Sie war froh, mit Charlie Woodruff Tee trinken zu können. Es würde sie ablenken und am Nachdenken hindern. Die flammende Ekstase war nur noch Asche, und sie hatte ein dringendes Bedrüfnis, nicht nachzudenken.
III.
Am nächsten Morgen stand eine Katastrophe ins Haus. Stephen hatte eine seiner bösen Erkältungen, eine der übelsten überhaupt. Die Erkältung selbst hätte Vera nichts ausgemacht, aber er mußte zuhause bleiben, und seine Gegenwart im Haus machts ihr etwas aus. Der Klavierhocker würde vor dem Mittagessen geliefert werden, und er würde das auf jeden Fall mitbekommen. Die Ekstase war spurlos verflogen, und sie hatte mehr Zeit zum Nachdenken, als ihr lieb war. Es war ihr unbegreiflich, war sie dazu getrieben hatte, den Hocker zu erstehen. (Diese Instinkte sind nur noch schwer zu erklären, sobald man das Geschäft verlassen hat.) Sie wußte, daß Stephen aufgebracht sein würde. Vielleicht würde er soweit gehen, ihn zurückgehen zu lassen. Sie war zwar eine schöne und verwöhnte Frau, aber letzten Endes schaffte es Stephen stets, Herr im eigenen Haus zu bleiben. Und sie konnte ihn nicht einmal milde stimmen, indem sie ihm das Zigarrenschränkchen schenkte. Sie konnte ein Zigarenschränkchen im Wert von fünf Guineen nicht mit zehn Shilling und sechs Pence bezahlen. Sie verfügte sonst über kein Geld. Sie hatte nie Geld, aber das Geld rann ihr nur so durch die Finger. Stephen behandelte sie gut, war sehr freigiebig, aber er würde ihr niemals Schulden erlauben, und er gab ihr das Geld für ihre Ausgaben niemals im Voraus. Sie hatte vor Neujahr nichts mehr zu erwarten.
Sie kümmerte sich um seine Erkältung, und rief im Werk an, damit sie einen der Angestellten vorbeischicken sollten, und sie verkniff sich die Bemerkung, daß Stephen sich im London wohl ziemlich fahrlässig benommen hätte, um sich eine solche Erkältung einzufangen. Ihre Zurückhaltung iin diesem Punkt überraschte Stephen, aber er schrieb es der Weihnachtsstimmung und den venezianischen Vasen zu.
Bostock's Lieferwagen mit seinen beiden Pferden fuhr eher am Gartentor vor, als sie es sich in ihren schlimmsten Befürchtungen ausgemalt hatte. Bostock's Leute hatten es an diesem Morgen augenscheinlich sehr eilig. In unglaublich kurzer Zeit stand die Holzkiste, in der das fragile Möbel verpackt war, im Hausflur und wartete darauf, ausgepackt zu werden. Vera quittierte den Empfang und sah das Corpus delicti finster an. Stephen saß vor dem Kamin des Speisezimmers; anscheinend döste er. Sie mußte das Ding schleunig nach oben bringen lassen und erst einmal eine Weile auf dem Dachboden verstecken.
Aber genau in diesem Moment kam Stephen aus dem Speisezimmer herbei. Stephens männliche Neugier war durch Bostock's Lieferwagen geweckt worden. Er hatte die Ablieferung aus dem Fenster verfolgt, und war in den Flur gekommen, um sich das anzusehen. Das Ereignis hatte die schwere Mattigkeit, die eine Erkältung mit sich bringt, wunderbar verscheucht. Er trug einen Morgenmantel, dessen Taschen vor Taschentüchern fast platzten.
"Du solltest nicht hier sein," sagte seine Frau.
"Unsinn!" sagte er. "Hier bei der Dampfheizung ist's sogar wärmer als drinner vor dem Kamin." Vera fand sich durch die Stimme der Wahrheit zum Schweigen gebracht und erwiderte nichts.
Stephen beugte sich vor, um die Lieferung in Augenschein zu nehmen. Es war ein appetitliches Weihnachtspräsent; zwischen den Latten schauten Strohhalme hervor, und es sah ganz danach aus, als enthielte es etwas Großes und zugleich Fragiles.
"Ah!" bemerkte Stephen humorvoll. "Aha! Das ist's also! Ah ja! Sehr gut!"
Er ging einmal um die Kiste herum.
Woher zum Himmel wußte er, daß sie das gekauft hatte? Sie hatte Mr. Woodruff nichts von ihrem Kauf erzählt.
"Ja, Stephen," sagte sie zögernd. "Das ist's, und ich hoffe - "
"Da dürften eine ganze Menge Zigarren hineinpassen, denke ich," bemerkte Stephen zufrieden.
Er hielt es für das Zigarenschränkchen!
Sie zuckte zusammen und hielt inne. Sie mußte sich sofort etwas einfallen lassen.
"Oh ja," flüsterte sie.
"Tausend?"
"Ja, bestimmt tausend," sagte sie.
"Das habe ich mir schon gedacht," murmelte Stephen. "Ich kann dir leider jetzt keinen Kuß geben, weil ich erkältet bin," sagte er, "ABer ich bin trotzdem ganz gerührt, Vera. Packen wir's aus? Dann können wir entscheiden, wo wir es aufstellen, und ich kann meine Zigarren darin einräumen."
"Oh nein!" protestierte sie. "Oh nein, Stephen! Das ist unfair! Das darf nicht vor dem Weihnachtsmorgen aufgemacht werden!"
"Aber ich habe dir schon gestern die Vasen gegeben."
"Das ist etwas anderes," sagte sie. "Weihnachten ist Weihnachten."
"Na gut," gab er nach. "Geht in Ordnung, meine Liebe."
Dann begann er zu schnuppern.
"Es riecht irgendwie merkwürdig," sagte er.
"Vielleicht liegt's am Holz," sagte sie zögernd.
"Ich hoffe nicht," sagte er. "Ich vermute, daß es das Stroh ist. Ein ganz merkwürdiger Geruch. Wir sollten es in den Seitenflur stellen, neben die Standuhr. Da ist's nicht im Weg. Und wenn ich schlechte Laune habe, kann ich's mir anschauen. Nicht, Maria?" Die Aussicht auf eine so großes und kostbares Zigarrenkabinett bereitete ihm sichtlich Freude.
In Anbetracht der Tatsache, daß das Päckchen, das sie Penkethman gegeben hatte, um es im Sitz des Klavierhockers zu verstauen, ein halbes Pfund von Bostock's reifestem Gorgonzola enthielt, den sie eigens auf Wunsch der Köchin besorgt hatte, überraschte der Geruch, der aus den geheinmisvollen Tiefen der Kiste drang, Vera in keiner Weise. Und sie überlegte, wie sie den Käse wohl am besten herausschmuggeln könnte.
Dreißig Stunden lang nahm der Geruch aus der ungeöffneten Kiste an Stärke und Intensität zu. Stephens Erkältung wurde schlimmer und verhinderte, daß er in den vollen Genuß seiner Schönheit kam, aber er bekam genug davon mit, um es mit dem Miasma einer toten Ratte zu vergleichen, und erklärte mehrmals, daß Bostock's weniger faules Stroh verwenden sollte. Er wurde oft im Flur gesichtet, wie er erwartungvoll sein Zigarrenschränkchen in Augenschein nahm. Einmal drängte er Vera, die Kiste zu öffnen und das Stroh zu beseitigen, aber sie weigerte sich, und brachte es sogar über sich, ihm zu sagen, daß er den Gestank übertreiben würde.
Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nicht einfach mitten in der Nacht aufstehen und die Kiste auspacken und ihr Geheimnis verstecken. Jedes Auspacken wäre unweigerlich ihr Untergang; denn sogar die Kiste aufgebrochen wurde, würde Stephen sein Zigarrenschränkchen erwarten. Und so schlichen die Stunden in Richtung Weihnachtstag dahin und zu ihrem Ruin. Sie genehmigte sich Kopfschmerzen.
Genau dreißig Stunden nach Ablieferung der Kiste kam Mr. Woodruff zum Tee vorbei. Stephen schlief gerade im Speisezimmer, in dem er sich besonders gern ausruhte, wenn ihn eine Erkältung plagte. Woodruff wurde in den Salon geführt, wo Vera ihre Migräne pflegte. Vera wurde wieder lebendig. Sie wurde sogar quicklebendig. Und sie ließ Woodruff Tee servieren, und nahm selber ein paar Tassen, und Woodruff verbrachte angeregte zwanzig Minuten.
Die beiden venezianischen Vasen standen auf dem Kaminsims. Vera erging sich in ekstatischer Begeisterung über sie, und bat Charlie Woodruff, sie aus der Nähe in Augenschein zu nehmen. Er stand auf, um die Vasen zu inspizieren, die Vera nebeneinander auf die Ecke des Kaminsims, die ihm am nächsten war, plaziert hatte. Auch Vera und Woodruff standen einhellig Seite an Seite. Und gerade als Woodruff eine der Vasen in die Hand nehmen wollte, stieß ihn Vera heftig an den Ellenbogen. Sein Arm schlug gegen die Vase, die Vase stieß gegen die zweite, und beide stürzten hinunter - auf die harten, gefühllosen, unnachgiebigen Steinfliesen vor dem Kamin.
IV.
Sie zerschellten in Atome.
Vera schrie. Sie schrie zweimal, und rannte aus dem Zimmer.
"Stephen, Stephen!" schrie sie hysterisch. "Charlie hat meine Vasen zerbrochen, alle beide. Das ist ZU arg. Er ist aber auch so was von ungeschickt!"
Es gab ein Tohuwabhu. Stephen war heftig aus dem Schlaf gerissen worden, und gleich darauf betrachteten sie hilfos die tausend Kristallfragmente, die vor dem Kamin verstreut waren.
"Aber - " fing Charlie Woodruff an.
Und das war alles, was er sagte.
Er und Vera und Stephen waren seit ihrer Kinderzeit enge Freunde gewesen, und so brauchte sie ihre Gefühle nicht vor ihm zu verbergen. Stephen hatte dasselbe Vorrecht, und sie machten beide ausgiebig Gebrauch davon.
"Aber - " sagte Charlie erneut.
"Mach dir nichts draus," unterbrach ihn Stephen schroff. "Solches Pech kommt vor."
"Ich werde ein neues Paar besorgen," sagte Woodruff.
"Nein, das wirst du nicht," gab Stephen zurück. "Das geht nicht. Es gibt kein zweites solches Paar auf der Welt. Verstehst du?"
Beide Männer bemerkten zur selben Zeit, daß Vera weinte. Tränen standen ihr sehr gut, aber das hinderte die Männerwelt nicht daran, sich betroffen und peinlich berührt zu fühlen. Charlie hatte das Bedürfnis, sich irgendwo draußen zu verstecken und einzugraben.
"Komm, Vera, komm," bat ihr Gatte sie und putzte sich seine Nase mit größerer Lautstärke, als seine Erkältung rechtfertigte.
"Ich - ich - diese Vasen gefielen mir mehr als alles - als alles, was du mir je geschenkt hast," heulte Vera, hinreißend, und tupfte sich die Augen.
Stephen sah Woodruff an, als wenn er sagen wollte: "Well, du bist an dieser Tränenflut schuld. Sieh zu, wie du damit zurechtkommst. Ich bin nur ein Kranker im Morgenmantel. Ich lasse euch mal allein."
Und er ging.
"Schaumalichmeine..." protestierte Charlie Woodruff Vera gegenüber, als sie allein waren. Er begann Einspruch oft mit dieser merkwürdigen Phrase. "Es tut mir furchtbar leid. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Du mußt mir erlauben, daß ich dir etwas anderes schenke."
Vera schüttelte den Kopf.
"Nein," sagte sie. "Ich wollte unbedingt, daß Stephen mir den Klavierhocker schenkt, von dem ich dir vor zwei Wochen erzählt habe. Aber er hat mir stattdessen die Vasen geschenkt, und sie haben mir viel besser gefallen."
"Dann schenke ich dir den Klavierhocker. Wenn er dir vor zwei Wochen gefallen hat, dann gefällt er dir immer noch. Das ersetzt zwar die Vasen nicht, aber - "
"Nein, nein," sagte Vera fest.
"Und warum nicht?"
"Ich möchte nicht, daß du mir etwas schenkst. Da wäre nicht nett," sagte Vera.
"Aber ich schenke dir jedes Jahr zu Weihnachten etwas."
"Ach ja?" fragte Vera unschuldig.
"Ja, und du und Stephen schenken mir auch etwas."
"Außerdem gefällt Stephen der Hocker nicht."
"Ja und? Dir gefällt er. Und ich schenke ihn dir, nicht ihm. Ich geh morgen früh zu Bostock's und besorge ihn."
"Ich verbiete es dir."
"Ich tu's trotzdem."
Woodruff verließ das Haus.
Fünf Minuten später fuhr der Kutscher der Cheswardines mit dem Einspänner in Richtung Hanbridge, mit der Holzkiste auf der Ladefläche und einem Notizzettel. Er brachte das Zigarrenschränkchen zurück. Stephen hatte das Speisezimmer nicht verlassen, um nicht seiner aufgelösten Frau in die Arme zu laufen. Gleich darauf kam seine Gattin ins Speisezimmer, schwankend unter der Last der Zigarrenschränkchens, daß sie auf ihren zarten Armen trug.
"Ich dachte, das lenkt dich ab, wenn du deine Zigarren hier einräumst," sagte sie, "nur so als Zeitvertreib."
Stephens Gedanke war: "Am Ende gewinnen die Frauen doch immer." Dieser Gedanke kommt den Ehemännern aller Veras auf dieser Welt des öfteren.
Zum Abendmahl gab es reifen Gorgonzola. Stephen saß davor wie jemand, dem ein jemand begegnet, den einem bekannt vorkommt, ohne sich erinnern zu können, woher man ihn kennt.
Am nächsten Nachmittag wurde der Klavierhocker zum zweiten Mal abgeliefert. Charlie brachte ihn in SEINEM Einspänner vorbei. Eine strahlende Vera packte ihn mit übertriebener Geschäftigkeit aus. Was konnte Stephen schon gegen ein Geschenk von ihrem ältesten und engsten gemeinsamen Freund einwenden? Nun, er konnte allerhand einwenden und tat das auch ausgiebig, aber er tat es erst, als er allein im Salon war und sich angeschaut hatte, wie der Klavierhocker absolut nicht zu den Chippendale-Möbeln "paßte."
"Guck dir das verd---- Ding bloß an!" schimpfte er. "Guck's dir bloß an!"
Aber das Weihnachtsessen mit all seinen Gästen war ein rauschender Erfolg, und nachdem Vera auf dem Jugendstilhocker Platz genommen und Lieder geklimpert hatte, und sie so hinreißend einem zarten Vögelchen glich, und angesichts der festlichen Stimmung, die herrschte ... nun, angesichts dessen fügte sich Stephen in das Unvermeidbare.
***
"Vera's First Christmas Adventure" erschien, ohne vorherigen Magazinabdruck, im Juni 1907 in Bennetts zweiter Sammlung von Kurzgeschichten rund um die "Five Towns," The Grim Smile of the Five Towns.
U.E.
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