Er ist ein großer Mann, ziemlich stämmig, aber mit schlaffer Haltung, als ob er sich nicht genügend bewegen würde, mit rotem, glattrasiertem, breitem Gesicht und grauem Haar. Er spricht ziemlich schnell und nervös, mit einer hohen Stimme, die nicht zu seiner Körpergröße paßt. Er bewohnt die Gästezimmer in einem Tempel gleich außerhalb des Stadttors, wo außer ihm drei buddhistische Mönche und ein winziger Novize leben und die heiligen Riten durchführen. Seine Räume sind spartanisch eingerichtet, mit ein paar chinesischen Möbeln und einer unüberschaubaren Menge von Büchern. Es ist kalt; das Zimmer, in dem wir sitzen, wird von einem Ölofen nur unzureichend gewärmt.
Er beherrscht mehr Chinesisch als sonst jemand in China. Seit zehn Jahren arbeitet er an einem Wörterbuch, das das Standardwerk eines namhaften Gelehrten ersetzen wird, mit dem er seit einem Vierteljahrhundert in Fehde liegt. Auf diese Weise fördert er die Sinologie und seine persönliche Rivalität. Er hat ganz das Benehmen eines Dons in Oxford oder Cambridge und man hat das Gefühl, daß es ihm bestimmt ist, einmal in Oxford einen Lehrstuhl für Chinesich zu übernehmen und dann endlich den ihm angemessen Platz zu finden. Er versteht mehr von Kultur als die meisten Sinologen. Auch wenn man sich in diesem Punkt nur auf sein Urteil verlassen muß, ist es deutlich, daß sie außer der Sprache selbst nichts kennen, und so sind seine Ausführungen zur chinesischen Philosophie und Literatur von einer Fülle und Umfassenheit, die man unter denen, die sich dieser Sprache gewidmet haben, nur selten antrifft. Weil er sich ganz auf seine Studien konzentriert hat und kein Interesse an Pferderennen und Jagd hat, gilt er bei den anderen Europäern als verschroben. Sie betrachten ihn mit dem Vorbehalt und dem Staunen, daß Menschen gegenüber denen an den Tag legen, die ihre Vorlieben nicht teilen. Es heißt, daß er nicht ganz normal ist; manche behaupten, er würde Opium rauchen. Es ist der Vorwurf, der jeden Weißen unweigerlich trifft, der sich mit der Kultur vertraut macht, in der er den Rest seines Lebens verbringen wird. Schon ein kurzer Besuch in diesen Zimmern, die auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichten, macht klar, daß hier ein Mann wohnt, der sich ganz dem Leben des Geistes gewidmet hat.
Aber es ist ein eingeschränktes Leben. Kunst und Schönheit scheinen ihm nichts zu bedeuten, und während ich zuhöre, wie er begeistert über die chinesische Dichtung spricht, frage ich mich, ob ihm nicht doch alle guten Seiten des Lebens entgangen sind. Hier vor mir sitzt ein Mann, für den die Wirklichkeit nur in Büchern existiert. Die Pracht von Lotusblüten bewegt ihn nur, wenn ihre Schönheit in den Versen Li Bais aufbewahrt ist und das Lachen der züchtigen chinesischen Mädchen berührt sein Herz nur in der Vollkommenheit eines kunstvoll gedichteten Vierzeilers.
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"The Sinologist" ist eines der Prosatücke aus Somerset Maughams Sammlung von Porträts und Reiseimpressionen, On a Chinese Screen, die 1922 bei Heimann in London erschien.
U.E.
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