I.
Im geschäftigen Leben eines Grandhotels gibt es immer wieder Momente, in denen die chaotische, wilden Vorgänge zur Ruhe kommen, und der ganze riesige Organismus wie unter dem Einfluß eines einschläfernden Opiats zu träumen scheint. Die Zustand tritt etwa dann ein, wenn die Gäste sich in den Rauchsalons oder in der Loge eines Theaters den geheimnisvollen Vorgängen der Verdauung hingeben. Am Abend dieses Notturnos war die wohlbekannte Rotunde der Eingangshalle des Majestic mit ihrem gefliesten Boden, den Säulen aus Malachit, den Perserteppichen, den Sitznischen und den berühmten ausgestopften Bären, die neben der breiten Haupttreppe Wache hielten, fast verlassen, bis auf den Chefportier, den Nachtportier und die Empfangsdame. Es war viertel vor neun, und der Chefportier übergab gerade das Szepter über sein Reich an den Nachtportier und weihte ihn in die Geheimnisse des Tages ein. Diese beiden Eminenzen, die Tag und Nacht Zeugen der Wechselfälle des menschlichen Lebens wurden, hielten des Morgens und des Abends Kriegsrat. Sie kannten das Leben und gaben sich keinen Illusionen hin. Shakespeare selbst hätte von ihnen noch lernen können.
Die junge Frau in der Rezeption hatte sich an das Fenster vor ihn gelehnt, wie ein schönes, entspanntes Tier in seinem Käfig, und betrachtete die beiden Majestäten, die da von zwei der Säulen eingefaßt vor ihr standen. Sie waren zu weit entfernt, um ihr Gespräch belauschen zu können, und sie sah ihnen nur zu, verloren in einem Tagtraum, den die süße Schwermut des Sommerabends, die Ruhe, die eingetreten war, und die Aussicht auf den morgigen freien Tag ausgelöst hatten. Die Herrschaften in ihrer prunkvollen Livree schenkten ihr keine Beachtung; wahrscheinlich war sie in ihren Augen nicht mehr als ein dekorativer Blickfang. Und doch war sie es, die das geheime Zentrum aller Aktivität darstellte, nicht sie. Wenn eine Rechnung beglichen wurde, war sie es, die das Geld in Empfang nahm; wenn ein Gast ein Zimmer wünschte, suchte sie es aus; und die Herren hatten sie mit "Miss" anzureden. Das riesige, prächtige Hotel drehte sich um ihr schlichtes Herz, das unter ihrer weißen Bluse schlug. Besonders im Sommer.
Ihre Anwesenheit und die ihrer Kolleginnen an der Rezeption (heute abend war sie freilich allein) diente der Erbauung der männlichen Gäste, deren primitive (wenn auch zutiefst menschliche) Instinkte Gefallen daran fanden, daß diese hübschen Gefangenen in ihrem Käfig auf sie warteten,wenn sie von ihren Wanderungen heimkehrten, sie mit einem Lächeln begrüßten, sich mit hochgezogenen Brauen ihre kleinen Gehirne über gewaltigen Kladden zermarterten, aus rosigen Mündchen Unverbindlichkeiten plapperten, und ihre entzückende Kleidung mit langen schmalen Händen ordneten, die dafür geschaffen waren, von Ringen und Armreifen geschmückt zu werden und nicht für die Arbeit mit Lineal und Stahlfeder.
Das hübsche kleine Ding, dem die hohen Herren drüben keine Beachtung schenkten, entsprach in seinem Aussehen ganz und gar dem üblichen Bild einer Sekretärin. Sie war von mittlerer Größe; sie besaß eine gute Figur, blondes Haar (und davon reichlich), und ein nettes, ziemlich ausdrucksloses Gesicht; Mund und Ohren waren sehr klein; die Augen groß und blau, die Nase stach nicht weiter hervor, Wangen und Stirn, die die Farbe von hellem Elfenbein zeigten, ein wenig ausgebildetes Kinn mit einem Grübchen unter der Unterlippe. Die Winkel der vollen Lippen waren fast immer zu einem geschäftsmäßigen, aber unweigerlich attraktiven Lächeln hochgezogen. Die Haar war von der üblichen Krausheit. Man hätte sagen können, sie eine nette, fröhliche junge Frau war, charmant, aber wohlanständig, die sich des Sonntags in einem Einspänner gut ausgenommen hätte.
Das also war Nina, einundzwanzig Jahre alt und verträumt. In ihrer Phantasie hing der gesamte Betrieb des Majestic von ihr ab; sie überschätzte die Bedeutung ihrer einsamen Präsenz im Empfang, und darunter verborgen regte sich der Wunsch eines hübschen Mädchens aus armem Elternhaus nach Reichtümern, endlosem Luxus in Gestalt von Kleidern und Delikatessen und danach, hingebungsvoll angebetet zu werden.
In diesem Moment betrat ein Unbekannter das Hotel. Seine Ankunft riß es aus dem Dornröschenschlaf, in den es versunken schien. Das Notturno hatte begonnen. Nina setzte sich aufrecht hin und verstärkte ihr ewiges Lächeln. Die beiden Portiere nahmen Habachtstellung an, und setzten jenes besondere, mondäne Lächeln auf, das nur ihnen zu Gebot steht. Einige dienstbare Geister von niedrigerem, aber immer noch imposanten Rang erschienen zwischen den Säulen; ein Page tauchte wie durch einen Zauberspruch aus dem Bereich des Hauptkamins auf wie Mephistopheles in Fausts Studierstube, und ein paar Gäste überquerten plaudernd das geflieste Pflaster auf ihrem Weg von einem Hotelflügel in den anderen.
"Wie geht's Ihnen, Tom?" sagte der Unbekannte, schüttelte dem Chefportier die Hand und nickte dem Nachtportier zu.
An seinem Tonfall konnte man erkennen, daß er ein Amerikaner war, und sein Benehmen zeigte, daß es sich bei ihm um einen jener Weltenbummler handelte, die jeden Portier auf der Welt mit Namen kennen, und sich darauf verstehen, ihr Vertrauen und ihre Treue zu gewinnen. Er trug einen blauen Anzug und einen hellgrauen Hut mit breiter, geschwungener Krempe; sein grauer Schnurrbart war kurz gestutzt. In der linken Hand trug er eine braune Tasche.
"Gut, Sir, danke der Nachfrage," sagte Tom. "Und Ihnen, Sir?"
"Ach, ich könnte wirklich nicht klagen."
Woraufhin beide Portiers ein herzhaftes Lachen hören ließen.
Tom geleitete ihn an die Rezeption, und versuchte ihm die Tasche abzunehmen. Ein paar rangniedrige dienstbare Geister gaben ihm Geleitschutz.
"Ich trage das lieber selber," sagte der Unbekannte. "Mr. Pank wird gleich noch einiges an Gepäck mitbringen. Den Rest haben wir am Kai aufgegeben." Er wandte sich an Nina. "Ah, meine Teuerste, Sie sind ein neues Gesicht hier."
Er sah ihr tief in die Augen.
"Ja, das bin ich," sagte sie, augenblicklich hingerissen. Seine selbstsichere, überlegene Art führte dazu, daß sich alle Mienen aufhellten, als wäre die Halle von Sonnenschein und Meereswind durchflutet worden.
"Geben Sie mir bitte zwei Zimmer und einen Salon," befahl er.
"Im ersten Stock?" fragte Nina nett.
"Im ersten Stock - auf jeden Fall! Und bitte mit Aussicht auf The Strand, meine Liebe."
Sie errötete und beugte sich tiefer über das Gästebuch.
"Tom, schicken Sie doch bitte jemandem zum Telephon und lassen Sie zum Regency durchstellen," sagte der Fremde.
"Ja, Sir. Samuels, laufen Sie zum Telefon und rufen Sie beim Regency Theatre an. Beeilung!"
Hurtiger Abgang eines kleinen Offiziers.
"Und schicken Sie Alphonse in zehn Minuten zu mir aufs Zimmer," fuhr der Unbekannte, an Tom gewendet, fort. "Ich hätte gerne ein opulentes Nachtmahl für vierzehn Gäste für viertel nach elf."
"Ja, Sir. Kein Abendessen, Sir?"
"Nein, danke, wir haben schon im Speisewagen gegessen. Nun, meine Liebe, haben Sie etwas für mich gefunden?"
"Nummer 102, 120 und 107," sagte Nina.
"Die Schlüssel für 102, 120, und 107," sagte Tom.
Ein weiter Abgang aus dem Allerheiligsten.
"Wieviel?" wollte der Unbekannte wissen.
"Die Zimmer kosten fünfundzwanzig Shilling, und der Salon zwei Guineen."
"Damit dürfte Mr. Pank einverstanden sein. Ach hallo, Pank, da sind Sie ja! Sie haben Zimmer 102 oder 120, ganz wie Sie möchten. Ich muß noch eben kurz einen Anruf erledigen, dann komm' ich zu Ihnen nach oben."
Mr. Pank war ein jüngerer Mann, mit einem schmalen, klugen, fast intelletuell wirkenden Gesicht. Er kam mit betont bedächtigen Bewegungen herein. Seine Aufmachung war makellos, aber unter dem Strohhut fiel ihm sein shcwarzes Haar in merkwürdigen Fransen in die Stirn. Er lächelte nachlässig und überlegen und verschwand in Begleitung zweier Handkoffer im nächsten Fahrstuhl.
Gleich darauf war zu hören, wie der Neuankömmling mit den Tücken eines englischen Telephons kämpfte.
"Sie haben sich noch nicht eingetragen," rief ihm Nina mit ihrer hellen, bezaubernden Stimme zu, als er auch der Frensprechzelle kam.
Er trat an die Registratur, nahm einen Stift, stützte sich auf dem Tisch ab und schrieb mit einer sorgfältigen, gut lesbaren Schrift "Lionel Belmont, New York" in das Gästebuch. Nachdem er damit fertig war, ließ er den Ellbogen auf den Platte liegen, hob die rechte Hand leicht und wies mit dem Stift anklagend auf Nina.
"Mr. Pank hat sich auch noch nicht eingetragen," sagte er langsam, mit einem hinreißenden Anflug von Strenge, als ob sich Mr. Pank eines schweren Vergehens schuldig gemacht hätte.
Nina lachte schüchtern und schob ihm die Zimmerkarte über die Seite des großen Buchs zu. Sie war von Mr. Lionel Belmont überaus angetan.
"Da haben Sie recht," sagte sie, und versuchte ebenfalls Strenge vorzuschützen. "Das muß er noch."
In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf Mr. Belmonts rechte Hand. Im hellen Schein des elektrischen Lichts konnte ein wenig die helle Haut seines Handgelenks und des Unterarms im Ärmel des Hemds erkennen. Sie sah genauer hin, und jeder Muskel in ihr spannte sich an.
"Ich nehm' an, Sie schaffen das allein, Mr. Pank noch dazu zu bewegen," sagte Lionel Belmont und drehte sich schnell und, schon mit anderem beschäftigt.
Es hatte nicht bemerkt, daß Ninas Augen groß aufgerissen waren und die Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. Gleich darauf war die Eingangshalle wieder verlassen. Mr. Belmont war im Aufzug verschwunden, Tom hatte Feierabend gemacht, und der Nachtportier hatte sich in sein Refugium begeben. Nina sank auf ihrem Stuhl zusammen. Ihre Nasenflügel bebten und sie hatte das Gefühl, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Soweit kam es nicht, aber sie hatte den größten Schock ihres kurzen Lebens erlebt. Und das hatte folgenden Grund.
II.
Nina Malpas' Geburt fiel mit dem Erlöschen eines jener feurigen Ehedramen zusammen, in in den Kleinstädten der nördlichen Midlands häufiger als anderwo auflodern, wo die frühe Industrialisierung dazu geführt hat, daß sich die Frauen aus den unteren Bevölkerungsschichten unabhängiger verhalten, und wo es eine lange Tradition ist, daß der "Charakter" eher ausgelebt werden darf als im Süden Englands. Lemuel Malpas war ein schneidiger Handelsreisender aus Bursley, einer der Fünf Städte, in dem, was man "eine gute Branche" nennt. Diesem Schneid verdankte er es, daß er der Tochter eines Hotelbesitzers im Nachbarort Hanbridge den Hof gemacht und sie geheiratet hatte. Sechs Monate nach der Hochzeit - also zur risikoreichsten Zeit eines Ehelebens - war Mrs. Malpas' Vater gestorben, und Mrs Malpas kam als Alleinerbin in den Besitz von achttausend Pfund. Lemuel (dieser Name wird im Dialekt der Fünf Städte auf der ersten Silbe betont) hatte fest mit diesem Glücksfall gerechnet, und hatte vor, das Geld im Steingutwarengeschäft anzulegen. Mrs. Malpas, hübsch, lebhaft und von einer Selbstgefälligkeit, die auf die Bewunderung zurückging, die ihr in Jahren des Schankdienstes gezollt worden war, hatte entschieden andere Ansichten. Ihr Motto war: "Deins ist auch meins, aber was mein ist, bleibt auch meins." Der Dissens erwies sich als hartnäckig. Langen Verstimmungen folgten immer kürzere Aussöhnungen, und schließlich gelangten beide zu der Einsicht, daß ihr Bund, der nicht auf tiefer Zuneigung gründete, ein Fehler gewesen war.
Eines Morgens sagte Lemuel zu ihr: "Behalt deinen verd----n Zaster doch für dich!", machte sich auf die Reise und vergaß, zurückzukommen. Eine Weile später traf ein Brief aus Liverpool ein, in dem er seiner Frau viel Glück für ihren weiteren Lebensweg wünschte und sie in Kenntnis setzte, daß es ihm nicht leidtäte, sie verlassen zu haben; sie sei ja wohlversorgt. Mrs. Malpas war davon nicht angetan, aber ihr wurde bald klar, daß Lemuel nichts anderes getan hatte als man von dem klugen und forschen Lemuel sowieso erwarten durfte. Sie nickte grimmig und sprach: "Ist auch besser so!"
Ein paar Wochen später verkaufte sie die Möbel und bezog ein Zimmer in Scarborough, wo sie daranging, in angenehmer Umgebung das fröhliche, sorgenfreie Leben einer Strohwitwe zu führen. Und dann wurde, zu ihrer Überraschung und ihrem Verdruß, Nina geboren. Sie hatte nicht um Nina gebeten. Sie fand sich in der wenig beneidenswerten Position einer Mutter, deren Erklärungen an ihr Kind wenig glaubhaft wirkten. Ein Vermieter, dem sie erzählte, daß sich Lemuel in Australien aufhielt, hatte frech zur Antwort gegeben: "Ach - und ich hatte gedacht, er wär' an den Nordpol gezogen."
Das gab den Ausschlag für Mrs. Malpas. Sie zog wieder in die Fünf Städte, wo zumindest ihr Ruf sicher war. Nur eine Woche zuvor hatte Lemuel auf Umwegen in Erfahrung gebracht, daß sie ihren heimatlichen Bezirk verlassen hatte. Daraufhin hatte er beschlossen, sie ganz aus seinem Gedächtnis zu streichen. Mrs. Malpas' Schönheit war von der vergänglichen Art. Nach Ninas Geburt wurde sie füllig, und die Erinnerung an Schankräume, Cafeterias und dem Sandboden der Außenterrassen nahmen überhand. Das Hotel "Zum Tiger" in Bursley stand zum Verkauf, ein respektables Haus, das beste im Ort. Sie erstand es, mit Weinkeller, Busanbindung und allem, was dazugehörte, und verwandelte sich in eine typische Wirtin in schwarzer Seide und mit Goldringen.
Nina wuchs im "Tiger" auf. Schon von kleinauf war sie ein hübsches Kind, und und sah das Lob, mit dem sie von allen Seiten bedacht wurde, als selbstverständlich an. Sie besuchte eine gute Schule, nahm Klavier- und Tanzunterricht, und ließ sich ab sechzehn nach der letzten Mode frisieren. Sie tat, was man ihr sagte, ohne zu murren; sie schien von trägem Wesen zu sein; sie hatte all das Geld und die Kleider, die ihr Herz begehrte; sie war glücklich, und auf ihre stille Weise hielt sie sich für einen wichtigen Weltbürger. Als sie achtzehn war, starb ihre Mutter elend an Krebs, und es stellte sich heraus, daß Mrs. Malpas' Verbindlichkeiten ihre Vermögenswerte bei weitem überstiegen und der "Tiger" bis zum Dachfirst mit Hypotheken belastet war. Die Gläubiger nahmen es mit Gleichmut; sie schreiben es der Krankheit und dem Fehlen einer strengen männlichen Hand zu, und beschieden sich mit dem, was sie bekommen konnten. Aber Nina, das Kind des Wohlstands und der Sorgenfreiheit, mußte jetzt die Unbillen des Lebens mit erheblich weniger als nichts meistern. Von ihrem Vater hatte sich seit langem jede Spur verloren. Man fand eine Stelle für sie, und für die nächsten zwei Jahre betrachtete sie den Weltlauf aus der Perspektive eines bekannten Hotels in Doncaster. Ihre Trägheit, und die Gabe, sich sofort an jede neue Umgebung zu gewöhnen, bewahrten sie davon, sich in Yorkshire unglücklich zu fühlen. Sie hörte einfach auf, an den "Tiger" und das gute Leben früherer Tage zurückzudenken. (Wenn sie einen Herzog geheiratet hätte, anstatt in der Buchhaltung zu landen, hätte sie ebenso den "Tiger" und die Armut ihrer Jugend vergessen.) Dann widerfuhr ihr das Glück - oder das Pech - ein Stellenangebot beim Majestic, The Strand, London zu erhalten. Die Aussicht auf das Majestic und seine prachtvolle Umgebung weckte ihre schlummernde Seele aus ihrem Dornröschenschlaf.
Vor ihrem Tod hatte Mrs Malpas Nina allerlei über den verschwundenen Lemuel erzählt; dazu gehörte auch, daß er zwei kleine, auffällige Muttermale - das eine glatt, das andere haarig - auf dem Unterseite des rechten Handgelenks trug. Und genau dieser unverwechselbare Kennzeichen hatte sie auf dem rechten Handgelenk von Mr. Lionel Belmont erkannt.
Sie war davon überzeugt, daß es sich bei Lionel Belmont um ihren Vater handelte. Die Natur konnte nicht zwei Männern auf der Welt den gleichen Stempel aufgeprägt haben. Ihr war klar, daß er den Namen Lionel gewählt hatte, weil er fast wie Lemuel klang. Und sie war sich sicher, daß einen Einschlag des Dialekts der Fünf Städte unter seinem amerikanischen Tonfall aufgemacht hatte. Aber davon abgesehen war sie sich aus einem Grund sicher, daß es sich bei Lionel Belmont um ihren Vater handelte. Es war nicht die Stimme des Blutes, sondern die Gewißheit einer Frau, daß es sich so verhält, weil sie davon überzeugt ist.
III.
Nina verfügte über keine ausschweifende Phantasie. Der romantische Aspekt dieser ungewöhnliche Begegnung sprach sie in keiner Weise an. Sie gehörte zu jenen jungen Frauen, die fortwährend Liebesgeschichten lesen und sie trotzdem nur als "dummes Zeug" bezeichnen. Im ihrem tiefsten Herzen war die kleine, dumme Nina nur an Handfestem interessiert, und es war dieser Aspekt, der ihr kleines Hirn beschäftigte. Sie dachte nicht daran, daß die Wirklichkeit seltsamer ist als die Literatur. Ihr kleines Herz klopfte nicht aufgeregt bei dem Gedanken an die Wunder und Geheimnisse des Schicksals. Sie fühlte sich nicht auf geheimnisvolle Weise zu Lionel Belmont hingezogen, und sie hatte nicht das Gefühl, daß sein Auftauchen ihrem Leben etwas verlieh, was sie bislang vermißt hatte.
Andererseits fand Ihr Stolz - von dem Nina eine beträchtliche Menge vorzuweisen hatte - Befriedigung in der Tatsache, daß ihr Vater, dem sie jetzt begegnet war, so gutaussehend, vornehm, schneidig und wohlhabend war. Es war gut, es war außerordentlich gut, es war köstlich, einen solchen Vater zu haben. Der Besitz eines solchen Vaters eröffnete solch glänzende Aussichten für eine Zukunft, die so verlockend war, daß ihre jetzige Stellung sofort als zutiefst unbefriedigend erschien.
Es erschien ihr unbegreiflich, daß sie das Dasein einer Empfangsdame auch nur eine Woche lang ertragen hatte. Ihr waren die Augen geöffnet worden, und wie so viele Frauen vor ihr hatte sie erkannt, daß Luxus eine unentbehrliche Lebensnotwendigkeit für sie darstellte. Ihre Bedürfnisse schossen empor wie die magische Bohnenranke im Märchen. Gleichzeitig hatte sie Angst davor, eine unerklärliche Scheu, zu Mr. Belmont zu gehen und ihm zu sagen, daß sie seine Nina war; er hatte ja keine Ahnung davon, daß es überhaupt eine Nina gab.
"Ich bin Ihre Tochter! Ich habe Sie an Ihren Muttermalen erkannt!"
Sie sprach diese Worte vor sich hin, im Innersten ihrres kleinen Herzens, und war sich sicher, daß sie niemals den Mut finden würde, sie diesem großen, bedeutenden Mann zu sagen. Die Behauptiung wäre zu ungeheuerlich gewesen, zu unglaubwürdig, zu absurd. Die Leute würden in Gelächter ausbrechen. Er würde in Gelächter ausbrechen. Und es gab nichts, das Nina weniger ertragen konnte, als ausgelacht zu werden. Selbst wenn sie seine Vaterschaft beweisen könnte - sie dachte an die Schrecken eines Besuchs bei einem Anwalt - konnte es ja sein, daß er sie nicht anerkannte. Oder er würde sie mit fünfzig Pfund pro Jahr abspeisen, so wie man einem aufdringlichen Straßenkehrer eine Sixpence-Münze hinwirft, um ihn loszuwerden. In ihrer Vorstellung waren die Vereinigten Staaten ein Land, das sich vor allem durch seine originellen Scheidungsgesetze auszeichnete. Sie konnte sich vorstellen, daß Mr. Belmont wieder geheiratet hatte. Jeden Moment konnten eine fesche, hochnäsige Mrs. Belmont und eine umwerfende Miss Belmont (vielleicht im Alter von achtzehen Jahren?), beide angetan mit allem erdenklichen Luxus, eintreffen. Und wie würde sie sich mit ihrer weißen Bluse von Glaive's für zwei Shilling und elf Pence neben ihnen ausnehmen?
Mr. Belmont kam in Begleitung von Alphonse, dem Oberkellner des Salle à Manger mit dem Aufzug aus dem ersten Stock gefahren und kam durch die Eingangshalle zur Rotunde der Rezeption, blieb stehen und gab kurz Anweisungen. Mr. Belmont drehte sich um, während er sich mit Alphonse unterhielt und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Er sah einfach durch die hübsche Gefangene dort hindurch. Natürlich bedeutetge sie ihm nichts - so reich, selbstsicher und bedeutend, wie er war. Eine Hansom-Droschke wurde bestellt; er verließ das Hotel. Ihr fiel auf, daß er jetzt einen Abendanzug trug.
Nein! Ihre Sache war richtig und gerechtfertigt. Nur konnte sie nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen.
Dann fiel ihr ein, daß sie ihm ja schreiben könnte. Sie würde heute Nacht noch einen Brief an Lionel Belmont schreiben.
Ihre Schicht endete um halb zehn. Sie begab sich in ihr Kämmerchen im Dachgeschoß, und blieb zwei Stunden lang auf ihrem Bett sitzen. Dann kam sie wieder nach unten, mit ein paar Bögen blauem Briefpapier und Umschlägen in der Hand, und erklärte der in Rosa gehüllten Kollegin, die ihren Platz übernommen hatte, auf ihre neugierige Frage, sie wolle einen Brief schreiben.
"Sie sehen aber gar nicht gut aus, Miss Malpas," sagte das Mädchen, das betont Mitgefühl an den Tag legte.
"Ach ja?" sagte Nina.
"Ja, wirklich. Was haben Sie auf dem Herzen?"
"Was geht Sie das an? Bitte kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten, Miss Bella Perkins."
Normalerweise reagierte Nina nicht gereizt, aber heute nacht war sie nervös und angespannt.
"Oh!" sagte das Mädchen. "Die Gräfin von Doncaster sind verstimmt? Ich wollte Ihnen nur für morgen einen netten freien Tag wünschen."
Nina setzte sich an den Tisch, um den Brief abzufassen. Gleich über ihrem Krauskopf brannte eine elektrische Birne. Ninas Handschrift war nicht markant, aber gut lesbar. Sie haßte das Briefschreiben, zum einen, weil ihre Rechtschreibung zu wünschen übrigließ, und zum anderen, weil sie den vagen, aber hartnäckigen Verdacht hegte, daß Briefe sowieso albern waren. Sie dachte eine geraume Zeit nach, und schireb dann: "Mr. Belmont, hiermit wage ich es ... " Sie fing von neuem an: "Sir: ich hoffe, Sie halten mich nicht für ... " Ein dritter Versuch: "Lieber Vater!" Nein! Das war einfach lächerlich. Sie konnte es so wenig schriftlich wie mündlich erledigen.
Die Situation war zuviel für Ninas schlichtes Gemüt.
Plötzlich hallte die große kreisförmige Eingangshalle des Majestic von einem Lärm wieder, der so charmant wie auch phantastisch war. Ein Geplapper fröhlicher, heller amerikanischer Stimmen, das Trappeln elegant beschuhter Füße auf den Fliesen, das unvergleichliche Rascheln zahlreicher teurer Abendkleider, und über all dem das Timbre von Mr. Belmonts Stimme. Nina sah auf und sah ihren strahlenden Vater, umringt von einer Gruppe von Frauen: alle jung, alle schön, alle elegant gekleidet, alle mit großen modischen Hüten, alle selbstsicher, alle hinreißend - zweifellos die Gäste für das prunkvolle Nachtmahl.
Nina kam sich klein und unbedeutend vor und hegte Mordgelüste im Herzen.
"Dreizehn von euch!" rief Mr. Belmont und strich sich über den prächtigen Schnurrbart. "Zwei pro Hansom. Page, wir brauchen also sechseinhalb Droschken."
Perlendes Gelächter brandete auf; der Page lief los und begann in der Vorhalle wie eine wildgewordene Lokomotive zu pfeifen. Die dreizehn Schönheiten schwebten unter Aufsicht von Mr. Belmont hinaus in die gedämpft rauschende Sommernacht des Strand. Droschke um Droschke fuhr vor, und Nina sah zu, wie ihr Vater jeden Kutscher bezahlte, nachdem sie besetzt war. Nach drei Minuten war die traumhafte Szene vorüber. Mr. Belmont kam wieder ins Hotel, schenkte der Portiersloge ein fröhliches Lächeln, ignorierte die Rezeption und begab sich auf sein Zimmer.
Nina zerriß ihre unfertigen Briefe in kleine Fetzen, wünschte Miss Bella Perkins, die gerade ihre Bücher zuklappte, weil es halb zwölf war, eine knappe gute Nacht, und stieg mit langsamen, steifen Schritten die Haupttreppe empor, wie eine Priesterin bei der feierlichen Ausübung ihres Amtes. Im ersten Stock wandte sie sich nach rechts, und schritt einen langen Flur entlang, der nicht auf dem Weg in ihr Kämmerchen im neunten Stock lag. Der Flur war von glimmenden Funken erhellt, die an gelben Fäden von der Leitung herabhingen, die in der Mitte der Decke verlief; den Boden bedeckte ein schmaler, karmesinrot gestreifter Läufer mit einem Streßfen Parkett zu beiden Seiten. Nina schritt bedächtig über den Streifen genau in der Mitte des Läufers, wie ein Automat, und genau über ihr glommen die elektrischen Funken. Der Flur und ihre feierliche Prozession erschienen endlos. Schließlich fand ihre geheime Mission ein Ende, sie verließ den Pilgerpfad, verschwand in einem Seitenkabinett, und kam mit einem Bund von Generalschlüsseln wieder zum Vorschein. Nr. 107 war Lionel Belmonts Salon; Nr. 102, sein Schlafzimmer, lag genau gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Nina wußte, daß Nr. 108, ebenfalls ein Salon, vakant war. Sie schloß geräuschlos die Tür von Zimmer 108, schloß sie hinter sich, und verharrte still. Nach einer Minute schlatete sie das Licht ein. Die beiden Zimmer, 107 und 108, hatten einmal in Verbindung gestanden, aber als die Zahl der Gäste im Majestic stieg und der Platz knapper wurde, war die Tür verriegelt und ein Schrank davor gerückt worden. Dank dieser Tür konnte Nina hören, wie sich Mr. Belmont bewegte. Sie lauschte lange Zeit. Dann mußte sie unwillkürlich vor Müdigkeit gähnen.
"Was mache ich eigentlich hier?" fragte sie sich. "Was hab ich davon?"
Sie schaltete das Licht aus und öffnete die Tür, um wieder zu gehen. In diesem Augenblick wurde auch die Tür von Zimmer 107, einen Meter vor ihr, geöffnet. Sie fuhr erschreckt zurück. Nicht auszudenken, wenn sie im Flur mit ihrem Vater zusammengestoßen wäre! Vorsichtig spähte sie nach draußen und sah Lionel Belmont hemdsärmelig um die Ecke verschwinden.
"Er hat noch etwas mit seinem Freund Mr. Pank zu besprechen," dachte Nina, die wußte, daß Zimmer 120 dort hinter der Ecke lag.
Mr. Belmont hatte die Tür von Zimmer 107 angelehnt gelassen. Irgendeine verborgene, unwiderstehliche Macht zwang Nina dazu, den Flur zu betreten und anschließend die Tür von Zimmer 107 aufzustoßen. Dieselbe Macht, die nichts mit ihr selbst zu tun hattte, die von ihr Besitz ergriffen hatte, schien sie bei der Schulter zu packen und sie ins Zimmer zu schieben. Als sie sich, vor Angst zitternd und heftig atmend, aber auch neugierig, tatsächlich mitten im privaten Salon ihrer Vaters wiederfand, sagte sie sich: "Wenn er zurückkommt, kann ich ihn kommen hören und weglaufen, bevor er um die Ecke biegt." Und sie spitzte die kleinen rosa Ohren.
Sie sah sich in dem luxuriös ausgestatteten Raum um: Glanz und Komfort, die vor zwanzig Jahren sogar in Mayfair Neid erregt hätten. Im Majestic gab es zahlreiche solcher Suiten. Niemand hielt das mehr für etwas Besonderes. Die Frackweste ihres Vaters war achtlos über einen Louis-Quartorze-Sessel geworfen worden, und dieser lässige Umgang mit dem kostbaren Stoff gab Nina merkwürdigerweise mehr Respekt vor dem Reichtum ihres Vaters und dem glamourösen Leben, das er führte.Sie sehnte sich danach, sich hier in einem kostbaren Teekleid auf dem Sofa zu fläzen und Anweisungen zu erteilen ... Sie trat an den Schreibtisch, auf dem Dutzende, ach was: Hunderte von Papieren und Dokumenten ausgebreitet waren. Auf der linken Seite der Tischplatte stand die braune Tasche. Sie war verschlossen und schien ziemlich schwer zu sein. Auf der rechten Seite lag ein Stapel Telegramme. Sie nahm eins davon und las:
"Pank, Grand Hotel, Birmingham. Warum nicht Einbruch Hotel? Einfachster Plan. Löst alle Probleme. - Belmont."
Sie las es zweimal, knüllte es mit der Linken zusammen und nahm ein anderes:
"Pank, Adelphi Hotel, Liverpool. Ihre Einwände absurd. Nehmen Sie Safe im Empfang im Majestic. Ganz einfach. Szene mit Mädchen für zweiten Abend vorsehen. - Belmont."
Schlagartig wurde ihr alles klar. Ihr Vater und Mr. Pank gehörten zu einer dieser Betrügerbanden, von denen sie in Dorcester so viel gehört hatte. Im Nu war sie wieder die erfahrene und argwöhnische Hotelangestellte, für die jeder Gast bis zum Beweis des Gegenteils ein Gauner ist. Wozu hatte sie schließlich drei Wochen im "St. Leger" gedient? In dem Hotel in Doncaster wußte man alles über Diebe und Betrüger. Der Besitzer verwahrte einen geladenen Revolver in seinem Schreibtisch. Sie selbst hatte eine Trillerpfeife bekommen, auf der sie beim kleinsten Anzeichen von Ärger pfeifen mußte. Sie hatte sie einmal benutzt, und es hatte nur eine halbe Minute gedauert, bis sieben Polzisten ins Lokal gestürzt kamen. Der Besitzer hatte wußte von Gaunerstücken von einem Ausmaß zu berichten, daß sich Charles Peace vor Neid im Grab umgedreht hätte. Und er hatte stets betont, daß niemand, wirklich niemand, auf Anhieb den Unterschied zwischen einem Gentleman und einem Ganoven erkennen konnte.
Ihr Vater und Mr. Pank hatten also alle im Hotel außer ihr hinters Licht geführt, und sie hatten vor, morgen nacht den Safe im Büro hinter der Rezeption auszuräumen. Es war klar, daß Mr. Belmont ein Schuft war, sonst hätte er nie ihre arme Mutter verlassen. Das war nicht schön, aber es war nicht zu ändern ... Und jetzt, in diesem Augenblick, besprach er seine Pläne mit diesem Mr. Pank ... Einbrecher schlichen immer in Hemdsärmeln herum ... Die braune Tasche enthielt die Einbruchswerkzeuge ...
Der Schock saß tief, er war furchtbar, niederschmetternd; aber er hatte den Vorteil, ihr Problem zu lösen. Nina besaß jetzt keinen Vater mehr. Vier Stunden lang hatte er als eine verlockende Möglichkeit bestanden; jetzt erkannte sie ihn nicht mehr.
Sie war dabei, nach einem dritten Telegramm zu greifen; als sie ein leises Geräusch hinter sich hörte und rasch umdrehte; sie hatte vergessen, die kleinen rosa Ohren zu spitzen. Ihr Vater stand in der Tür. Es war klar, daß er von seinen Gefühlen überwältigt war; in seinem Gesicht arbeitete es; er schien um die richtigen Worte verlegen, überrascht, vielleicht sogar erstaunt. Die schlichte, dumme Nina hatte einen Stirch durch seine Pläne gemacht.
Dann hatte er sich wieder in der Hand und kam ins Zimmer, mit einem Lächeln, das lässig wirken sollte. Nina hatte währenddessen kein Glied gerührt. Vielleicht sind Sie versucht, Mitleid mit diesem wehrlosen Mädchen zu haben, das hier zur Mitternacht einem gerissenen und gewissenlosen Weltmann aufgeliefert war. Aber man soll sein Mirtgefühl nicht an jemand verschwenden, der nicht darauf angewiesen ist. Nina zitterte zwar, aber sie hatte sich völlig im Griff. Sie wußte, wo sie sich hier befand, und wie sie sich verhalten mußte. Sie war so unbezwingbar wie der Felsen von Gibraltar.
"Na," sagte Mr. Belmont, "immerhin haben Sie Schneid!"
"Wobei?" hätte sie fast gefragt, hielt ihre Zunge aber klugerweise im Zaum. Das kleine Ding richtete sich auf wie eine aufgebrachte, unnahbare Königin, und schwebte an ihm vorbei, an ihrem Vater, und aus dem Zimmer.
"Warten Sie," hörte sie ihn hinter ihr sagen. "Wir klären das hier."
Heldenmutig ignorierte sie ihn; bei sich fand sie, daß er trotz all seiner Sünden doch recht attraktiv wirkte. Sie hielt das erste Telegramm immer noch in ihren langen, schmalen Fingern.
So endete das Notturno.
IV.
Um fünf Uhr am folgenden Morgen preßte Nina ihr Stupsnäschen gegen die Fensterscheibe ihres Dachkämmerchen. Das riesige Schieferdach des Majestic weist drei Reihen kleiner runder Fenster auf, wie Bullaugen. Nina spähte aus der obersten Reihe, ganz am Ende des linken Flügels. Vor dort aus konnte sie fünf weitere große Hotels sehen, und den Vorplatz von Charing Cross Station, auf dem drei Nachtdroschken warteten, und einen roten Lieferwagen von W. H. Smith & Son, der gerade im Bahnhof verschwand. Der Strand war fast völlig verlassen. Es war eine merkwürdige Welt aus grauem Dämmerlicht, Schlaf und Ernüchterung. Im Umkreis von hundert Metern mochten wohl an die tausend Leute schlafen, und bald würden sie wieder in diese Nüchternheit eintauchen, der Strand würde aufwachen, der erste Omnibus des Tages würde vorbeifahren ...
Nina hatte sich in ihrem Leben noch nie so traurig und erschöpft gefühlt. Sie war fest entschlossen, ihren Vater zu vergessen. Sie würde dem Geschäftsführer von ihrer Entdeckung Bericht erstatten, denn Nina war eine ehrliche Angestellte, aber sie fühlte sich in ihrer Ehrlichkeit gekränkt. Jetzt würde niemand je erfahren, daß Lionel Belmont ihr Vater war ...
Vor sich sah sie die Aufgabe, ihn zu vergessen und die Träume von Reichtum, die sein Erscheinen ausgelöst hatte. Sie war wieder eine Schreibkraft ohne Zukunftsaussichten.
Um acht Uhr suchte sie den Geschäftsführer in seinem Büro auf. Mr. Reuben war ein junger Jude von ungefähr vierunddreißig Jahren mit distanziertem, aber unfehlbar höflichen Benehmen. Er war ein bedeutender Mann und war sich dessen bewußt; es war keine Übertreibung, wenn ihm nachgesagt wurde, daß er das Majestic erst großgemacht habe.
Sie berichtete ihm von ihrer Entdeckung; es gelang ihr nicht, ihren Stolz auf ihre Rechtschaffenheit und ihre eigene Bedeutung zu verbergen.
"Wie war noch der Name, Miss Malpas?" fragte Mr. Reuben.
"Mr. Lionel Belmont - zumindest nennt er sich so."
"Nennt sich so?"
"Hier ist eins von den Telegrammen."
Mr. Reuben las es, sah die kleine Nina an, und lächelte; er lachte nie.
"Miss Malpas," sagte er, "kann es sein, daß Sie keine Ahnung haben, um wen es sich bei Mr. Belmont und Mr. Pank handelt?" Und als sie den Kopf schüttelte, fuhr er in seiner kühlen, präzisen Art fort: "Mr. Belmont ist einer der führenden Intendanten der Vereinigten Staaten. Mr. Pank ist einer der führenden Dramatiker der Vereinigten Staaten. Mr. Panks Schauspiel "Nebraska" wird gerade im Regency von Mr. Belmonts eigenem amerikanischen Ensemble aufgeführt. Eine weitere Truppe von Mr. Belmont wird demnächst mit der Operette "Die Dolmenico-Puppe" bei uns auf Tournee gehen. Soweit ich weiß, arbeiten sie beide an einem neuen Stück, und weil sie zwar beide auf Reisen sind, aber nicht zusammen unterwegs sind, vermute ich, daß sich diese Telegramme auf dieses Stück beziehen. Haben Sie im Ernst daran geglaubt, Einbrecher würden sich ihre Vorhaben ganz offen per Fernschreiben mittteilen?" Er wedelte mit dem Telegramm vor ihrer Nase.
Nina, die am Boden zerstört war, gab keine Antwort.
"Lesen Sie jemals Zeitung - den Telegraph oder die Daily Mail -, Miss Malpas?"
"Ne-nein, Sir."
"Das sollten Sie aber, dann wären Sie nicht so ahnungslos und dumm. Im Hotelgewerbe kann man nie genug wissen. Ach übrigens: was hatten Sie eigentlich letzte Nacht in Mr. Belmonts Zimmer zu suchen, wo Sie diese prachtvollen Telegramme gefunden haben?"
"Ich war ... ich war dort, weil ich ... "
"Bitte hören Sie auf zu weinen. Das hilft Ihnen nicht. Sie werden heute noch ausziehen. Sie sind jetzt seit drei Wochen hier, nicht wahr? Ich werde Mr. Smith anweisen, Ihnen den Lohn für einen ganzen Monat auszuzahlen. Sie wissen einfach nicht genug, um hier im Majestic Dienst zu tun, Miss Malpas. Oder Sie wissen zuviel. Es tut mir leid. Ich hatte gehofft, daß Sie ein Gewinn für unser Haus sein würden. Bitte geraten Sie nicht auf Abwege; mehr kann ich Ihnen nicht raten. Kehren Sie nach Doncaster zurück, oder woher auch immer Sie gekommen sind. Sie werden dieses Haus bis fünf Uhr verlassen haben. Das ist alles."
Und damit drehte Mr. Reuben seinen Chefsessel um und wandte sich seinem Schreibtisch zu. Er vermied es, sich einzugestehen, daß es einiges an diesem Fall gab, das ihm seltsam vorkam. Nina schlich niedergeschlagen von dannen.
Nina kannte in ganz London nur einen einzigen Menschen, und ein wenig Tee getrunken hatte, machte sie sich eine Stunde später auf, um diesen Bekannten aufzusuchen. Das Gewicht ihrer Dummheit, Blindheit und Einfältigkeit lastete schwer auf ihr. Außerdem war ihr berichtet worden, daß Mr. Lionel Belmont bereits wieder nach Amerika abgereist war; sein Gepäck hatte die Aufkleber der American Transport Line getragen.
Sie passierte gerade die Front des Hotels, ein Bild des Jammers, als jemand neben ihr aus einer Droschke sprang und sie ansprach. Es war Mr. Lionel Belmont.
"Steigen Sie bitte ein, Miss Malpas," sagte er in freundlichem Ton. "Wir haben zu reden."
"Über was denn?" dachte sie bei sich. Aber sie stieg ein.
"Marble Arch, und dann die Regent Street entlang," sagte Mr. Belmont zum Kutscher. "Und lassen Sie's langsam angehen."
"Woher kennt er meinen Namen?" fragte sie sich.
"Ein Hamson ist der beste Platz in London, um unter sich zu sein," sagte er nach einer Weile.
Es schien ihr auf jeden Fall sehr gemütlich und versteckt zu sein, und sie war beinahe überwältigt, daß sie so dicht neben einem der bedeutendsten Intendanten Amerikas saß. Ihr weißes Kleid mit dem schwarzen Samtbesatz berührte seinen grauen Anzug.
"Ich würde wirklich gerne wissen," sagte er, "warum Sie letzte Nacht in meinem Zimmer waren. Ganz ehrlich."
"Weshalb?" fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Sollte sie ihm verraten, wer sie war?
"Weil ... nun, weil ... Ich möchte ganz ehrlich mit Ihnen sein, mein liebes Mädchen. Ich möchte, daß die Dinge zwischen uns klarstehen. Es wird jetzt für Sie ein Schock sein, aber ich bin Ihr Vater. Bitte bekommen Sie jetzt keinen Anfall oder dergleichen."
"Aber das habe ich doch gewußt!" rief sie aus. "Ich hab die Muttermale an Ihrem Handgelenk gesehen, als Sie sich eingetragen haben. Mutter hat mir davon erzählt. Wenn ich doch bloß gewußt hätte, daß Sie das wissen!"
Sie sahen einander an.
"Ich hab erst vor ein paar Tagen in Erfahrung gebracht, daß ich so etwas wie eine Tochter habe. Ich hatte das Verlangen, mich einmal in der alten Heimat umzuschauen. Das hat mich sehr beschäftigt, daß ich eine Tochter habe, und ich habe mich sofort entschlossen, sie zu finden und kennenzulernen." Nina mußte lächeln. "Dann ist deine arme Mutter also vor drei Jahren gestorben?"
"Ja," sagte Nina.
"Reden wir nicht darüber. Mir fehlen gerade die richtigen Worte ... Und du hast mich also daran erkannt." Er zog seinen rechten Ärmel zurück. "Bist du deshalb in mein Zimmer gekommen?"
Nina nickte, und Lionel Belmont stieß einen Seufzer der Erleichterug aus.
"Warum hast du mir nicht gleich gesagt, wer du bist?"
"Ich habe mich nicht getraut," lächelte sie. "Ich hatte Angst. Ich dachte, Sie würden - du würdest ..."
"Weißt du," sagte er, "ich habe mir jemanden wie dich seit vielen Jahren gewünscht. Ich habe sonst niemanden, der zu mir gehört."
"Warum hast du mir dann nicht gleich gesagt, wer du bist?" wollte sie keck wissen.
"Ach je." Er lachte. "Wie hätte ich das machen sollen, einfach so frei heraus? Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, an der Rezeption, das Ebenbild deiner Mutter, als sie in deinem Alter war, hat mich fast der Schlag getroffen. Aber ich hab mich doch gut beherrscht, oder?"
Die Droschke rollte am Hyde Park entlang, und es elf Uhr vormittags an einem strahlen Junimorgen. Nina betrachtete die hübsche Szenerie: mit Rhododendron bestandene Beete, Herzoginnen, Pferde, Dandies - der ganze unvergleichliche Reichtum und Glanz der Hauptstadt. Sie holte tief Luft und begann sich der Aufgabe zu widmen, den Rest ihres Leben glücklich zu sein. Sie hatte den Eindruck, daß sie trotz ihres schlichten Kleids zu diesem prächtigen Bild paßte. Ihr Vater hatte ihr berichtet, daß sein Einkommen auf hunderfünfzigtausend Dollar gestiegen war, und daß er froh war, wenn sie ihm beim Ausgeben half. Ihr Vater hatte sie für ihre Tatkraft und Prinzipien gelobt, als sie ihm von der Szene mit Mr Reuben erzählt hatte, und daß ihr Irrtum verzeihlich war, und daß eine junge Frau, die so hübsch war, keineswegs so beschlagen sein mußte, wie Mr. Reuben es verlangt hatte. Er hatte ihr gesagte, daß er stolz auf sie war, und er war so rücksichtsvoll gewesen, nicht über ihren Irrtum zu lachen.
Sie hatte das Gefühl, daß ihr die einzig wahre Berufung bevorstand, die es für ein hübsches kleines Wesen gibt - nämlich das Geld anderer Leute auszugeben. Selbst ihre Mordgelüste gegenüber den dreizehn Chormädchen aus der letzten Nacht waren verflogen.
"Weißt du, Nina," sagte ihr Vater, "ich reise heute nachmittag nach New York ab."
"Im Hotel haben sie gesagt, du wärst schon abgereist."
"Sie haben nur mein Gepäck abgeholt. Die Minehaha läuft um fünf Uhr aus. Ich nehme an, daß du mitkommen möchtest. Unterwegs können wir uns besser kennenlernen, und uns alles von uns selbst erzählen."
"Angenommen, ich möchte nicht?"
Sie sagte das mit einem herrischen Tonfall, wie es sich für einen verzogenen Liebling gehört.
"Dann warte ich, bis das nächste Schiff geht. Aber das macht nur unnötige Umstände."
"Dann komme ich mit. Aber ich habe überhaupt nichts dabei."
Er öffnete die Klappe zum Kutschbock.
"Kutscher, Bond Street. Und trödeln Sie nicht. Beeilung!"
"Eben sollte ich's noch langsam angehen lassen," brummte der Kutscher.
"Und jetzt sollen Sie sich sputen. Also los!"
"Möchtest du, daß ich mich auch Belmont nenne?" fragte Nina.
"Ich hab den Namen gewählt, weil er vor zwanzig Jahren so ein schöner, kraftvoller Name war," sagte ihr Vater, und sie murmelte, daß ihr der Name sehr gefiel.
Während Lionel Belmont der Prächtige den Kutscher bezahlte und Nina eines der berühmtesten Depots der Welt für kostspieligen Flitterkram betrat, war ihre kleine Seele bis zum Bersten von der größten Freude erfüllt, der sie fähig war. Die schlichte, die einfältige Nina hatte das Nonplusultra ihrer Tagträume erreicht.
"Nocturne at the Majestic" erschien zuerst, ohne Magazinvorabdruck, in Bennetts zweiter Sammlung von Kurzgeschichten, Tales of the Five Towns von 1905.
U.E.
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