22. Januar 2021

"Die verspätete Nation": Zur Reichseinigung vor 150 Jahren





Oder: Ein Gepräch im Hause Steinmeier über den abwesenden deutschen Nationalstaat.

Vor vier Tagen, am 18. Januar 2021, jährte sich zum 150. Mal der "Tag von Versailles," der Gründungsakt des Deutschen Reiches als konstitutionelle Monarchie und die Annahme der Regentschaft durch Wilhelm I, nachdem die neue Verfassung am 1. Januar des neuen Jahres in Kraft getreten war, die Reichstag und Bundesrat am 9. und 10. Dezember ratifiziert hatten. Formell begann mit der Verabschiedung auch die Regentschaft; die Annahme war ein formeller Akt. Es war die Kulmination der Hoffnung auf die Eingung der Deutschen in einem gemeinsamen Nationalstaat, der im Gefolge des Wiener Kongresses erstmals konkrete Gestalt angenommen hatte und beim Hambacher Fest 1832 erstmals zum Ausdruck gebracht worden war. Das Aufgehen, die Unterordnung der bis dahin existierenden Kleinstaaten und Monarchien in einer größeren nationalen Klammer. Das Zögern Wilhelm, den ihm angetragenen Titel des Deutschen Kaisers anzunehmen, verdankte sich diesem Impuls: er befürchtete, daß die Bedeutung Preußens als Primus inter Pares der deutschen Staaten erheblich schwinden würde. Aber mit der Etablierung der von Bismarck beförderten "kleindeutschen Lösung" - unter Ausklammerungs der k.u.k Doppelmonarchie - gab es zum ersten Mal einen Zusammenhalt "der Deutschen" in einer gemeinsamen nationallen Ordnung: etwas das auch das Mittelalter nie gekannt hatte, als das Heilige Römische Reich deutscher Nation zwar über den Ewigen Reichtstag über eine Proklamationsinstanz zur Regelung der Herrschaftsnachfolge und darüber auch in länderübergreifenden Rechtsfragen über eine entsprechende Gerichtsbarkeit verfügte, für das aber in jeder anderen Hinsicht das Urteil Voltaires zutraf: "Ce corps qui s'appelait et qui s'appelle encore le saint empire romain n'était en aucune manière ni saint, ni romain, ni empire." (Er hätte auch noch "ni allemand" hinzusetzen können.)

Man sollte annehmen, daß die Schaffung eines solchen Staates, einer Nation, dem Staatsoberhaupt einer Nation, die sich, bei allen Brüchen und Zäsuren, bei mehreren Neubegründungen, immer noch aus dieser Nationwerdung herleitet, immer noch Teil dieser historischen und kulturellen Matrix ist, zum 150. Jubiläum Anlaß zu einem öffentlichen Gedenken, zu einem Festakt sein sollte. Gemäß dem Tonus der Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland nicht mit Gepränge und militärischem Pomp, sondern mit ostentativer Schlichtheit, mit einer geradezu philiströsen Bescheidenheit, aber doch als eine markante Wermarke. In den USA mag man den Nationalfeiertag am 4. Juli mit Paraden und Tschingderassabumm ebenso zelebrieren wie die Französen die Erstürmung der Bastille am 14. Juli, ohne daß die Bürger dieser Nationen von den Leitmedien der Auftrag erteilt erhielten, sich lieber wegen der schwarzen Flecken in ihrer Vergangenheit in Grund und Boden zu schämen. Deutschland ist dies aus den naheliegenden Gründen nicht möglich. Das liegt nicht nur an dem Bruch durch den Massenmord des Dritten Reiches, sondern der daraus resultierenden Memorialkultur der letzten 70 Jahre. Aber immerhin war es bis in die siebziger und achtiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts möglich, das Gedenken an die davorliegenden Epochen, die diesen Staat, seine kulturellen Traditionen und Entwicklungen geprägt haben, zu pflegen, sine ira et studio.

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Aber im Hinblick auf dem 18. Januar 1871? Fehlanzeige. Keine Festrede der Bundeskanzlerin, keine des Bundespräsidenten, keine Sondersitzung des Parlaments. Wobei dies nicht völlig stimmt: fünf Tage vor dem Termin, am Mittwoch, dem 13. Januar 2021, hat Bundespräsident Frank Walter Steinmeier vier Historiker "zu einem Gespräch" zum Thema im Schloß Bellevue empfangen, nämlich Sir Christopher Clark, Eckart Conze, Hélène Miard-Delacroix und Christina Morina. (Wobei historisch Gebildeten, also solchen, deren Kenntnisnahme geschichtlicher Entwicklungen sich nicht auf den Schulunterricht und die endlos-immergleichen Fernseh-Dokumentationen um Hitlers letzten Hilfskoch beschränken, die Namen Clarke und Conze immerhin noch etwas sagen dürften, die beiden anderen hingegen vermutlich Hekuba sind.) Man muß dies erst einmal kurz auf sich wirken lassen, um zu erfassen, welche absolute Antithese zu einen öffentlichen Gedenken sich in einem solchen Akt zeigt. Bei Paraden, beim Gedenkakt an markante Punkte der eigenen Geschichte braucht es keine Instruierung: der Anlaß darf als bekannt vorausgesetzt werden. Man braucht nicht zu erwarten, daß allen Zuhörern der Ansprachen die Einzelheiten, die oft widersprüchlichen Aspekte vertraut sind. Ambrose Bierce definiert in sinem erfrischend zynischen "The Devil's Dictionary" ein Denkmal als Mahnmal an etwas, das entweder dieser Erinnerung nicht bedarf oder sie nicht verdient. Aber es ist Teil des gemeinsamen historischen Selbstverständnisses, Facette dessen, was jeden Staat, der solche Zeremonien pflegt, zu etwas Besonderem macht, zu etwas Eigenem. (Und es ist eben bezeichnend für das deutsche Dilemma, daß man sofort betonen muß, daß dieses "Besondere" eben ge nau NICHT bedeutet "besser als andere," sondern nur eben verschieden, durch andere geschichtliche Ereignisse, durch andere gemeinsame Erfahrungen geprägt.)

Aber "ein Gespräch," ein Kolloquium, ein unverbindlicher Plausch am Kamin, noch dazu bewußt nicht aud den fraglichen Termin gelegt: das ist es genaue Gegenteil eines solchen öffentlichen Gedenkens. Es hat sogar - vielleicht unberechtigt - den Ruch des Rührend-Uninformierten: war da nicht mal etwas? Ich, das Staatsoberhaupt, lasse mir von ein paar Akademikern Geschichtsunterricht erteilen. Schön, daß wir mal darüber gesprochen haben. Ganz so grotesk war es natürlich nicht, wie man den Manuskript der kurzen Rede entnehmen kann, die auf der Netzseite des Bundespräsidialamts nachzulesen ist. Dennoch zeigt sich in diesem Akt eine Ablehnung an eben dieses Zeremoniell, mit dem in Staaten die eigene Haltung zu ihrer Geschichte zum Ausdruck gebracht wird - nicht in Reflektion, sondern eben als Zeremoniell, als ein geronnener symbolischer Ausdruck. Es bezeichnet die größtmögliche Distanzierung, die noch möglich ist, wenn man den fraglichen Termin nicht durch Übergehen ignorieren gewillt ist. Es bleibt überhaupt festzuhalten, daß die Berliner Republik sich nicht nur schwer mit derlei symbolischen Akten tut, sondern daß es ihr kategorisch unmöglich ist Symbole für ihre Geschichte und die eigene Haltung zu finden: das erbärmliche Projekt der "Einheitswippe" zum Gedenken an die Wiedervereinigung 1990 sei nur als Beispiel genannt: was soll diese grotesk ins Gigantische verzerrte Kinderwippe darstellen? Daß es "mal so, mal so" geht? Das "Pendel hin und her schwingt"? Der sozialistische Zwangsstaat ist mit dem Mauerfall zerschellt, die Geschichte hat den Stab über ihn gebrochen, und daß man seit geraumer Zeit den Eindruck hat, unsere Classe politique arbeite schwer an einer Restitution dieser Verhältnisse, kann ja wohl nicht gemeint sein.

Daß unser Bundespräsident zu "1871" keine Worte gefunden hat - zumindest keine öffentlichen - paßt vollkommen ins Bild. Wie nichts verkörpert Frank-Walter Steinmeier das a-historische, das anti-historische Prinzip, dem alles Nationale, und mit ihm alles, das ihm Ausdruck verleiht, zutiefst fremd ist, verachtet, ja verhaßt - und der dessen Versprechen und Hoffnungen auf eine abstrakte Utopie namens EU projiziert als Inbegriff des Supranationalen, das die vermeintliche Quelle alles nationalistischen Übels transzendiert und neutralisiert. Sicher ohne es zu wissen, knüpft Steinmeier hier an die Haltung Friedrich Nietzsches an, der Ende 1876 notierte: "Sie nennen die Vereinigung der dt. Regierungen zu einem Staate eine große Idee. Es ist die selbe Art von Menschen, welche eines Tages sich für die Vereinigten Staaten von Europa begeistern wird. Es ist die noch größere Idee" (Menschliches, Allzumenschliches," 19(74)).

Nietzsches Haltung zur Reichseinigung von 1871 zeichnet sich durch eine tiefe (und durchaus nicht nur für ihn) typsche Ambilvalenz aus: zum einen bedauert er den nationalistischen, gerade auch militaristischen Aufschwung im Gefolge der Staatswerdung. In der ersten seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen," 1873 als wütende Philippika gegen den "Bildungsphilister" David Friedrich Strauss verfaßt, bedauert er zutiefst die Ersetzung des "deutschen Geistes" durch die "deutsche Nation." Zum anderen erscheint ihm das Ende des kleinstaatlichen Partikularismus als Vorschein einer zukünftigen Entwicklung: nämlich der völligen Auflösung der Nationalstaaten und ihrer Besonderheiten zu "Vereinigten Staaten von Europa," inklusive dem, was er die "Ausbildung einer europäischen Rasse" nennt. Nietzsches Vision hat nichts mit dem elimonatorischen Rassismus der Nationalsozialisten zu tun, ist aber auf seine Weise nicht weniger erschreckend. Er verdankt sich der utopischen Illusion, die Beseitigung, Einebnung sämtlicher Unterschiede würde zu Frieden und Verständigung führen. Schon Kant hatte 1785 sein Projekt des "Ewigen Friedens" an eine solche Bedingung geknüpft (der bei ihm erst mit der Etablierung eines Weltstaates erreicht werden könnte), und sozialistische, utopische Visionen von Weltrettung ziehen daraus bis heute ihre vermeintliche Legitimation.

Zu den Mißverständnissen der Entsorger solcher nationaler Festivitäten zählt die Illusion, das Begehen überdecke das Vorhandensein historischer Schattenseiten, oder gar: sie würden express deswegen gefeiert, UM die Erinnerung daran auszulöschen, gewissermaßen um ein Brechtsches "Gespräch über Bäume," das man in dunklen Zeiten nicht führen darf, weil es so viele Untaten unerwähnt läßt. (Brecht als kommunistischer Propagandist wußte sehr wohl, daß aus seiner Haltung eine Pflicht erwächst, unablässig die Übel der Welt zu beschwören und den Zuhörer dagegen "auf Linie zu bringen," sein Diktum läuft auf die Pflicht zur Propaganda hinaus. Daß die Brechtsche Order gerade in deutschen Medien auf einen äußerst fruchtbaren Boden gefallen ist, weiß jeder, der in den letzten Jahrzehnten das Dauerfeuer in Sachen Weltrettung, Klimarettung, EU-Rettung, und die Verteufelung aller "Leugner" der jeweiligen Mission zu ertragen hatte.)

Der 14. Juli überdeckt in Frankreich gerade nicht das Wissen um die Greuel der Revolutionstruppen in der Vendée, der Fourth of July beschweigt nicht die Sklaverei und die Schrecken des Bürgerkriegs. Es handelt sich um etwas grundsätzlich Anderes: das Gedenken an einen als markant empfundenen Zeitpunkt, an dem die eigene Nation zu sich selbst fand und fortan entweder zum ersten Mal oder mit fundamental anderer Ausrichtung als ein eigener Staat auftrat.

Es entspricht der Natur der Sache, daß eine solche Wahl widersprüchlich besetzt ist, und im Fall Deutschlands in besonderer Weise. Hellmuth Plessner hat den Begriff der verspäteten Nation geprägt - nicht nur für Deutschland, sondern auch für Italien, die den Zustand einer geeinten Staatsnation - bei gleichzeitiger jahrhundertealter einender kulturellen Tradition - erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen erreichte - lange nachdem "klassische Nationalstaaten" wie Frankfreich, England oder die Niederlande dazu gefunden hatten und auf eine historische Laufbahn unter dieser Klammer zurückblicken konnten.

Die Aufstände von 1848 fielen in die europaweite "Bewegung von 1848" - von Frankreich bis Ungarn und hatten einen sozialen Fokus, keinen nationalen. Daß dies in Ungarn anders war, verdankt sich dem Umstand, daß Ungarn nur als Minderheit in einem fremden Imperium, der K.u.K-Doppelmonarchie, existierte, nicht als souveränes Territorium.

Die Schillerfeste von 1859 zum 100. Geburtstag des Dichters können als ein erster Vorschein von "1871" gesehen werden - und es ist bezeichnend, daß viele zeitgenössische Beobachter sie als lächerlichen, provinziellen Pomp empfanden und beschrieben. Die Ambivalenz, auf die die Reichseinigung bei vielen Zeitgenossen stieß, findet sich nicht zuletzt beim dem großen literarischen Seismographen der Gründerzeit: Theodor Fontane. Wer seine Romane aufmerksam liest, bemerkt als Unterton ein tiefes Unbehagen, eine Bekümmerung über die Entwicklung, einen tiefen, zutiefst konservativ begründeten Vorbehalt gegenüber dem sich Bahn brechenden plebejischen Machtanspruch. Hier unterscheidet sich Fontane in nichts von seinem heimlichen geistigen Widerpart, Friedrich Nietzsche, mit dem ihn ansonsten nichts Gemeinsames verbindet. Das bekannte Gemälde von Anton von Werner von der Proklamation im Spiegelsaal von Versailles: ist das nicht furchtbar knastrig? Pickelhaubenhaft? (Daß Fontane Werners postkartenbunten Historiengemälden, die ihn zum Lieblingsmaler Wilhelms II. machten, so gar nichts abgewinnen konnte, trug nicht unerheblich dazu bei, daß er seine Sinekure als Erster Sekretär der Preußischen Akademie der Künste kündigte, wo er sich als Schreibkraft des von Wilhelm I. zum ihrem Direktor ernannten Werner wiederfand. (Wie Fontanes letzter Biograph, Iwan-Michelangelo D'Aprile bemerkt, liegt für uns Nachgeborene darin ein Glücksfall: ohne diesen Vorgäng besäßen wir keinen Roman von Fontane.)

In Frankreich wurde die militärische Niederlage nicht als Krise der Staatsidee gesehen, sondern als Resultat der schlechten Regierung, der Staatskrisen aufgrund der Dekadenz der Beteiligten - der gescheiterten Revolutionen von 1830 und 1848, dem Marionetten- Monarchismus Napoleons III, der mit dem Staatstreich von 1851 eine absolute Monarchie restituiert hatte. Dem stand in Deutschland eine aus späterer Sicht fast lächerliche symbolische Aufladung entgegen (der Kaiser als "Barbablanca"), die nicht zuletzt in den allgegenwärtigen Bismarktürmen ihen Ausdruck fand und dem "Platz an der Sonne," dem großen militärischen Auftrumpfungsgestus ab Ende der 1890er Jahre, der die größtmögliche Antithese zum Zünglein-an-der-Waage-Spielen des Eisernen Kaisers bildete. Man kann durchaus sagen, daß "das Deutsche" in den Jahren zwischen 1880 und 1910 seine größte Entfaltung erreichte - auf den Gebiieten der Wissenschaft und der Ingenieurskunst - wenn auch keineswegsauf kulturellem Gebiet (auf dem "die Deutschen" seit Olims Zeiten zur grotesken Selbstüberschätzung neigen).

Anders als Frankreich und die USA mit der Erstürmung der Bastille und dem Unabhängigkeitskrieg (daß die erstere, historisch gesehen, eher ein verfälschender Mythos ist, tut dabei nichts zur Sache) hat Deutschland keinen nationalen Gründungsmythos - jedenfalls keinen, der die Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt hätte: nicht die Befreiungskriege gegen Napoleon, und eben auch nicht. Der"Sedanstag," die Bismarckverehrung und patriotische Rituale haben zwar versucht, das zu etablieren, aber schon im Kaiserreich wirkte dies oft nur wie ein hohles Zeremoniell - die passende Zielscheibe für die beißenden Karikatutren des "Simplicissimus" - und die Aushöhlung nationaler Symbolik und des rituellen Gedenkens überhaupt seit 1918 haben dies endgültig ad acta gelegt. Erschwerend kommt hinzu, daß das "geheime Selbstverständnis" Nachkriegsdeutschlands - im Westen wie im Osten - als expliziter Gegenentwurf zum Totalitarismus des Dritten Reiches angelegt und verstanden worden war und spätestens mit Richard von Weizsäckers Rede zum vierzigsten Jahr des Kriegsendes im Mai 1985 Gedenken in Deutschland nur noch als Mahnung vor der Barbarei und dem Gedenken an staatliche Verbrechen stattfinden kann. (Daß die DDR eine totalitäre Diktatur war, widerspricht dem nicht, denn es geht hier um die nach außen vorgetragene und symbolisierte Politik.)

Schon während der letzten 60 Jahre war die Reichseinigung nie ein Bezugspunkt, ein "Lieu de Mémoire," ein historisches Gedächtnisort. In der Geschichte der Bundesrepublik ist dieses Datum eine Leerstelle.

Die Bundesrepublik bezog ihre Legitimation stets aus der Neugründung als demokratischer Gegenentwurf zur totalitären Barbarei des Naziregimes, das als Kulmination aller nationalistischen Tendenzen gesehen wurde, als Schlußstein, in der "1871" eine Station auf dem Weg ins Verhängnis erschien, nicht als Resultat der nationalen Überwölbung des Flickenteppichs der Duodezfürstentümer, die der Staatsgründung vorausgingen - oder gar als letzte Konsequenz Preußens, das als Keimzelle dieser Entwicklung gesehen wurde. (Daß die Nationalsozialisten sich in ihrem historischen Mythos explizit als Nachfolger der preußischen Tradition gerierten, verstärkte diese Sicht nach 1945 erheblich.)

Was bleibt, unterm Strich? Wäre der Welt, wäre Europa ohne die Reichseinigung nicht vieles an Leid, an verhängnisvoller Entwicklung erspart geblieben? Nicht, weil es in irgendeiner Weise intendiert, geplant gewesen wäre, nicht aufgrund "inhärent angelegter Perfidie," etwa im Sinn des Fischerschen "Griffs nach der Weltmacht," sondern weil sich in der Gemengelage, die durch die Vereinigung zu einem wirtschaftlich starken Flächenstaat diese Tendenzen Bahn brechen konnten. Man kann diese These durchaus vertreten, auch wenn kontrafaktische, alternativhistorische Gedankenexperimente immer zweifelhaft sind. Ohne ein starkes geeintes Deutschland, daß sich als militärische Weltmacht verstand, wäre es wahrscheinlich nicht zur Urkatastrophe der zwanzigsten Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, gekommen. Andererseits zeugt es ebenso voon historischer Ignoranz, darin eine unausweichliche Folge sehen zu wollen (so wie es ja auch Ansätze gegeben hat, den Genozid des Dritten Reiches in eine bruchlose Linie zu stellen, die von der Reformation Luthers über Bismarck und die preußischen Traditionen darauf zulaufen). Aber eine solche Sicht, so extremistisch, einseitig und schlicht falsch sie auch ist, unterscheidet sich immer noch fundamental von dem peinlich berührten An-den-Katzentisch-Setzen, für das man sich im Bellevue entschieden hat: sie nimmt das Ereignis wenigstens noch ernst und erkennt ihm seine Bedeutung zu, anstatt die Achseln zu zucken.



U.E.

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