(Somerset Maugham. Gemälde von Philip Steegman, 1931. National Portrait Gallery)
Niemand wußte besser als er selbst, daß er ein bedeutender Mann war. Er war die Nummer eins in einem der wichtigsten Niederlassungen der bedeutendsten englischen Handelsfirma, die in China tätig war. Er hatte sich seine Stellung durch Fleiß und Kompetenz erworben und er dachte nur amüsiert an den unwissenden Angestellten zurück, als der er vor dreißig Jahren nach China gekommen war. Wenn er an seine Herkunft dachte, an das bescheidene kleine rote Reihenhaus in Barnes, einem Vorort, dessen Einwohner sich nach einer bescheidenen Eleganz sehnen und es doch nur zu einer schäbigen Tristesse bringen, und das mit der prächtigen Villa mit ihrer großen Veranda und geräumigen Zimmern verglich, die ihm als Geschäftsadresse und als Wohnsitz diente, mußte er zufrieden lächeln. Es hatte es weit gebracht. Er dachte daran zurück, wie er als Kind aus der Schule heimgekommen war (er besuchte St. Paul's), und mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern zu Abend gegessen hatte: es gab eine Scheibe kalten Braten, Brot und Butter und Tee mit viel Milch, und jeder bediente sich selbst, und verglich es mit den Mahlzeiten, die er jetzt einnahm. Er trug stets Abendgarderobe, und er erwartete, daß ihn die drei Boys bedienten - egal, ob er allein speiste oder Gäste empfing. Boy Nummer Eins war mit seinen Vorlieben bestens vertraut; er selbst mußte sich nie um die Einzelheiten der Haushaltführung kümmern, aber er ließ jeden Abend ein vollständiges Dinner auftischen, mit Suppe, Braten als Hauptgericht mit süßen und sauren Beilagen, so daß er nicht in Verlegenheit kam, wenn er spontan jemandem zum Essen einlud. Er war ein Gourmet und sah nicht ein, warum er weniger gut speisen sollte, wenn er keine Gesellschaft hatte.
Er hatte es wirklich weit gebracht. Das war der Grund, warum er kein Bedürfnis verspürte, nach England zurückzukehren. Er war seit einem Jahrzehnt nicht mehr in England gewesen, und verbrachte seinen Urlaub in Japan oder Vancouver, wo er sichergehen konnte, alte Bekannte aus China zu treffen. In der alten Heimat kannte er niemanden mehr. Seine Schwestern hatten ihrem Stand gemäß geheiratet; ihre Männer waren Beamte und ihre Söhne waren Beamte: zwischen ihnen gab es nichts Verbindendes; sie langweilten ihn. Er kam seiner Pflicht als Verwandter nach, indem er ihnen zu Weihnachten ein paar Meter feinen Seidenstoff schickte, ein paar auserlesene Stickereien, ein paar Pfund Tee. Es war nicht so, daß er geizig war: solange seine Mutter noch lebte, hatte er sie jeden Monat unterstützt. Aber er hatte nicht vor, nach England zurückzukehren, wenn er aus dem Geschäftsleben ausschied. Er hatte zu oft erlebt, daß andere damit gescheitert waren. Er würde ein Haus nahe der Pferderennbahn in Shanghai erwerben und den Rest seines Leben mit Bridgespielen, Reiten und Golfspiel angenehm zubringen. Aber bis dahin würde noch einige Zeit vergehen. In fünf oder sechs Jahren nahm Higgins seinen Abschied, und er würde die Leitung des Firmensitzes in Shanghai übernehmen. Bis dahin war er mit seiner Stellung hier ganz zufrieden; er konnte Rücklagen bilden, was in Shanghai nicht möglich war, und obendrein ein angenehmes Leben führen. Ein weiterer Vorteil war, daß er der wichtigste Mann der kleinen Gemeinschaft war; er bestimmte, was hier galt. Selbst der Konsul achtete darauf, es sich mit ihm nicht zu verscherzen. Mit einem seiner Vorgänger hatte es gewaltigen Ärger gegeben - und es war nicht er gewesen, der am Ende den Kürzeren gezogen hatte. Der Taipan reckte kampflustig das Kinn in die Höhe, als er an die kleine Episode dachte.
Aber er lächelte auch, denn er war von nachsichtiger Art. Er befand auf dem Rückweg zu seinem Büro von einem ausgezeichneten Mittagessen in der Hong-Kong and Shanghai Bank. Dort speiste man vorzüglich. Die Küche war erstklassig und die Getränkekarte erlesen. Er hatte mit ein paar Cocktails angefangen, sich dann für einen guten Sauterne entschieden und mit zwei Gläsern Port und einem alten Brandy aufgehört. Er fühlte sich zufrieden. Und als er sich aufmachte, entschied er sich zu etwas Ungewöhnlichem: er ging zu Fuß. Die Sänftenträger blieben mit ihrer Sänfte ein paar Schritte hinter ihm, falls ihm danach war, dort Platz zu nehmen, aber es tat ihm wohl, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Er bekam sowieso zu wenig Bewegung. Jetzt, wo er zu schwer war, um noch auf ein Pferd zu steigen, fand er es schwer, sich ausreichend Bewegung zu verschaffen. Und wenn er selbst auch nicht mehr ritt, konnte er dennoch einen Reitstall halten, und während er die frische Luft genoß, dachte er an die anstehende Frühlingssaison. Er hatte ein paar Pferde erstanden, auf die er große Hoffnungen setzte, und einer der Jungs in der Firma hatte sich als guter Jockey herausgestellt (er mußte aufpassen, daß er nicht abgeworben werden würde. Higgins in Shanghai würde ihm ein halbes Vermögen anbieten, damit er für ihn ritt), und die Chancen standen nicht schlecht, daß er als Sieger aus zwei oder drei Rennen hervorgehen würde. Er schmeichelte sich, den besten Reitstall der ganzen Stadt zu besitzen. Die Brust schwoll ihm vor Stolz. Es war ein herrlicher Tag, und das Leben war gut.
Als er am Friedhof vorbeikam, blieb er stehen. Da lag er vor ihm, gepflegt und ordentlich, ein klares Zeichen für den Wohlstand der Gemeinde. Jedesmal, wenn er am Friedhof vorbeikam, fühlte er eine kleine Anwandlung von Stolz. Er war zufrieden damit, Engländer zu sein. Als der Friedhof angelegt worden war, war der Boden wertlos gewesen, aber im Zuge des wachsenden Wohlstands hatte sich das geändert. Es hatte Vorschläge gegeben, daß die Gräber verlegt und das Gelände als Baugrund ausgewiesen werden sollte, aber die Gemeinde war dagegen gewesen. Der Gedanke, daß die Toten auf dem teuersten Fleck der Insel ihre Ruhe fanden, gab dem Taipan ein Gefühl der Befriedigung. Es machte deutlich, daß es etwas gab, die wichtiger waren als Profit. Wenn es um die Dinge ging, "auf die es wirklich ankam" (ein Lieblingsausdruck des Taipans), dann ging einem wieder auf, daß Geld nicht alles war.
Er entschied sich zu einem Abstecher über den Friedhof. Er betrachtete die Gräber. Sie waren gepflegt und die Wege waren frei von Unkraut. Während er langsam weiterging, las er die Namen auf den Grabsteinen. Eine Dreierreihe markierte die letzte Ruhestätte des Kapitäns und des ersten und zweiten Offiziers der Bark "Mary Baxter," die beim Untergang im Taifun von 1908 ertrunken waren. Er erinnerte sich noch gut an das Unglück. Dort lag eine kleine Gruppe von Missionaren, mit ihren Frauen und Kindern, die während des Boxeraufstands umgekommen waren. Er hielt nichts von Missionaren, aber es ging nicht an, daß die verdammten Chinesen sie einfach so umbrachten. Dann las er auf einem Grabkreuz einen Namen, den er kannte. Edward Mulock war ein guter Mann gewesen, aber er kam mit dem Alkohol nicht zurecht und trank sich mit fünfundzwanzig zu Tode. Armer Teufel. Der Taipan hatte eine Menge solcher Leute gekannt; daneben befanden sich es eine ganze Reihe weiterer Kreuze mit einem Männernamen und dem Alter: fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig. Es war immer die gleiche Geschichte. Sie waren nach China gekommen, sie hatten noch nie im Leben so viel Geld in der Hand gehabt; sie hielten mit ihren Kameraden mit und verfielen dem Alkohol - und jetzt lagen sie hier. Hier in China brauchte man Willenskraft und man mußte den Alkhol vertragen können. Natürlich war das tragisch, aber der Taipan mußte trotzdem bei dem Gedanken an all die jungen Männer lächeln, die er einst unter den Tisch getrunken hatte. Und hier lag jemand, dessen Tod ihm genützt hatte, ein Kollege aus seiner Firma, etwas älter als er und sehr tüchtig; falls er noch am Leben wäre, wäre er sicher an seiner Stelle Taipan. Und dort lag die kleine Mrs. Turner, Violet Turner. Sie war ein hübsches kleines Ding gewesen; er hatte eine stürmische Affäre mit ihr gehabt; ihr Tod war ihm ziemlich nahegegangen. Er las die Lebensdaten auf ihrem Grabstein. Sie wäre auch nicht mehr die Jüngste, wenn sie noch leben würde. Und während er an all diese Toten dachte, spürte er, wie sich ein Gefühl von Zufriedenheit in ihm breitmachte. Er hatte gewonnen. Sie waren tot und er lebte, und er hatte verdammt nochmal gesiegt. Er sah sich noch einmal alle diese schmalen Reihen der Gräber an, und lächelte verächtlich. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich die Hände gerieben.
"Mich hat noch niemand für einen Pechvogel gehalten," brummte er.
Er verspürte eine Art amüsierter Verachtung für die auf ewig Verstummten. Als er weiterging, stieß er unverhofft auf zwei Kulis, die dabei waren, ein Grab auszuheben. Das überraschte ihm, denn er hatte nichts davon gehört, daß ein Landsmann gestorben war.
"Für wen zum Kuckuck ist das?" fragte er.
Die Kulis sahen nicht einmal auf, sondern schaufelten weiter, tief in der Erde stehend, und warfen schwere Erdklumpen auf den Grabrand. Obwohl er sich schon so lange in China aufhielt, konnte er kein Chinesisch. Zu seiner Zeit war es nie nötig gewesen, die verdammte Sprache zu lernen, und so fragte er sie auf Englisch, wessen Grab sie da aushoben. Sie verstanden ihn nicht. Sie antworteten auf Chinesisch und er verfluchte sie als Dummköpfe. Er wußte, daß Mrs. Broomes Kind sehr krank war; aber das hier war kein Kindergrab, sondern für einen Erwachsenen bestimmt, einen ziemlich großen Erwachsenen. Es war unheimlich. Er bedauerte, daß er den Friedhof betreten hatte; er verließ ihn eilig und setzte sich in seine Sänfte. Seine gute Laune war verflogen und seine Miene hatte sich verdüstert. Als er wieder im Büro war, ließ er sofort seinen nächsten Untergebenen kommen:
"Peters, wissen Sie, wer gestorben ist?"
Aber Peters wußte es auch nicht. Der Taipan stand vor einem Rätsel. Er ließ einen der einheimischen Schreiber kommen und schickte ihn zum Friedhof, um die Kulis auszufragen. Er fing an, seine Post zu erledigen. Der Schreiber kam zurück und berichtete, daß die Kulis ihre Arbeit beendet hätten und er niemanden angetroffen hätte, der ihm Auskunft erteilen konnte. Der Taipan verspürte einen Anflug von Verstimmung; es gefiehl ihm nicht, wenn er nicht wußte, was vor sich ging. Sein Boy würde es wissen; er wußte stets alles, und er ließ ihn rufen; aber der Boy hatte auch nichts von einem Todesfall gehört.
"Ich hatte mir schon gedacht, daß niemand gestorben ist," sagte der Taipan gereizt. "Aber was soll das Grab dann?"
Er trug dem Boy auf, den Friedhofsaufseher aufzusuchen und herauszufinden, warum zum Teufel er ein Grab hatte ausheben lassen, wenn niemand gestorben war.
"Bring mir noch bitte einen Whisky und Soda, bevor du gehst," setzte er hinzu, als der Boy das Zimmer verließ.
Er wußte nicht, warum ihn die Sache so beunruhigte. Er versuchte, nicht mehr daran zu denken. Als er den Whisky geleert hatte, fühlte er sich besser, und erledigte seine Arbeit. Er ging nach oben und fing an, in ein paar Ausgaben von "Punch" zu blättern. In ein paar Minuten würde er sich in seinen Klub begeben und ein oder zwei Runden Bridge vor dem Abendessen spielen. Aber es würde ihn beruhigen, wenn er erst noch hörte, was der Boy zu berichten hatte, und so wartete er noch. Nach einiger Zeit kam der Boy in Begleitung des Aufsehers zurück.
"Warum haben Sie ein Grab ausheben lassen?" fragte er den Aufseher geradeheraus. "Es ist doch niemand gestorben."
"Ich habe kein Grab graben lassen," sagte der Mann.
"Was zum Kuckuck soll das heißen? Heute nachmittag waren da zwei Kulis, die ein Grab ausgehoben haben."
Die beiden Chinesen sahen sich an. Dann erklärte der Boy, daß sie beide über den Friedhof gegangen waren. Dort gab es kein frisches Grab.
Der Taipan hielt sich gerade noch zurück. Beinahe hätte er gesagt: "Aber ich hab' es doch selber da gesehen!"
Aber er sagte nichts. Er verschluckte seine Worte und lief tiefrot an. Die beiden Chinesen sahen ihn ausdruckslos an. Einen Augenblick lang rang er nach Luft.
"Schon gut. Ihr könnt gehen," sagte er keuchend.
Aber sobald sie fort waren, rief er den Boy wieder zu sich, und als er vor ihm stand, mit seiner teilnahmslosen Miene, ließ er sich Whisky bringen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Hand zitterte, als er das Glas an die Lippen führte. Egal, was sie behaupteten: er hatte das Grab gesehen. Er konnte immer noch das dumpfe Geräusch der Erdklumpen hören, die auf die Grasnarbe geschaufelt wurden. Was bedeutete das alles? Er spürte, wie sein Herz schwer schlug. Er fühlte sich seltsam unwohl. Aber er riß sich zusammen. Wenn es kein Grab gab, konnte es sich nur um eine Einbildung handeln. Es war am besten, wenn er in den Klub ging, und den Arzt zu bitten, ihn zu untersuchen, wenn er ihm über den Weg laufen sollte.
Die übrigen Gäste im Klub wirkten wie immer. Er hatte keine Ahnung, warum er etwas anderes erwartet hatte, aber es war ihm ein Trost. Viele dieser Männer, die sich seit langer Zeit kannten, hatten in den Jahren ihrer streng geregelten Tagesablaufs kleine Marotten entwickelt - einer von ihnen summte unablässig vor sich hin, wenn er Bridge spielt; ein anderer benutzte immer einen Strohhalm zum Biertrinken - und diese Ticks, die den Taipan so oft gestört hatten, gaben ihm nun ein Gefühl von Sicherheit. Er war dankbar dafür, denn er mußte fortwährend an die seltsame Szene auf dem Friedhof denken. Er spielte unkonzentriert, sein Partner machte eine Bemerkung darüber, und der Taipan verlor die Beherrschung. Er hatte den Eindruck, daß die anderen ihn merkwürdig anschauten. Er fragte sich, wieso er seltsam auf sie wirkte.
Plötzlich hielt er es im Klub nicht mehr aus. Als er das Gebäude verließ, saß er den Arzt, der im Lesezimmer die Times las, aber er brachte es nicht über sich, ihn anzusprechen. Er war entschlossen, nachzusehen, ob das Grab wirklich existierte; er setzte sich in die Sänfte und befahl den Trägern, ihn zum Friedhof zu bringen. Schließlich konnte man nicht zweimal diese Halluzination haben, oder? Und er hatte vor, den Aufseher mitzunehmen. Wenn es das Grab nicht gab, dann würde er es auch nicht sehen, und wenn es existierte, würde er ihm die Abreibung seines Lebens verpassen. Aber der Aufseher war unauffindbar. Er hatte Feierabend gemacht und das Friedhofstor abgeschlossen. Als dem Taipan klar wurde, daß er den Friedhof nicht betreten konnte, fühlte er sich erschöpft. Er setzte sich wieder in die Sänfte und befahl den Trägern, ihn nach Hause zu bringen. Er war todmüde. Das war bestimmt der Grund: er hatte davon gehört, daß manche Leute unter Halluzinationen litten, wenn sie erschöpft waren. Als der Boy eine halbe Stunde vor dem Abendessen erschien, um den Abendanzug herauszulegen, kostete es ihn eine beträchtliche Anstrengung, aufzustehen. Am liebsten hätte er sich heute abend nicht zum Essen umgezogen, aber er gab der Versuchung nicht nach. Er zog sich stets um; er hatte es sich seit zwanzig Jahren zur eisernen Regel gemacht, und er wollte sich nicht gehen lassen. Aber er ließ eine Flasche Champagner zum Dinner servieren und fühlte sich danach besser. Anschließend ließ er den Boy den besten Brandy holen. Nach ein paar Gläsern fühlte er sich wieder hergestellt. Pfeif auf die Halluzinationen! Er ging ins Billiardzimmer herüber und spielte ein paar Stöße über Bande. Es konnte nichts Ernstes sein, wenn er noch so treffsicher war. Als er zu Bett ging, schlief er augenblicklich fest ein.
Plötzlich wachte er auf. Er hatte von dem offenen Grab geträumt und von den Kulis, die es aushoben. Es war keine Einbildung: er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Dann hörte er die Bambusratsche des Nachtwächters, der seine Runde drehte. Das Geräusch zerriß die Nachtstille so grell, daß er zusammenfuhr. Und dann packte ihn das Entsetzen. Das Gewirr der unzähligen Gäßchen der chinesischen Viertel flößte ihm Angst ein, und die Tempel mit ihren verwinkelten, geschwungenen Dachfirsten und den Götzenbildern mit ihren dämonischen Fratzen. Er ekelte sich vor all den Gerüchen, die ihm in die Nase stiegen. Und die Leute! Diese Heerscharen von blaugekleideten Kulis, und die Bettler in ihren schmutzigen Lumpen, und die Händler und die Beamten mit ihren langen schwarzen Röcken, immer lächelnd, undurchschaubar. Er fühlte sich von ihnen umringt, bedroht. Er haßte das Land. China. Was hatte ihn getrieben, hierherzukommen? Die Panik hatte jetzt vollständig von ihm Besitz ergriffen. Er mußte hier fort. Er hielt es hier kein weiteres Jahr aus, keinen Monat. Was kehrte ihn Shanghai?
"Oh mein Gott!" rief er laut. "Wenn ich doch bloß in England wäre, in Sicherheit!"
Er wollte heimkehren. Wenn er schon sterben mußte, wollte er in England sterben. Der Gedanke, zwischen all diesen gelben Menschen begraben zu werden, mit ihren Schlitzaugen und ihrem ewigen Lächeln, war ihm unerträglich. Er wollte zu Hause begraben werden, nicht hier, in dem Grab, das er heute gesehen hatte. Hier würde er keine Ruhe finden. Niemals. Es war ihm gleich, was die Leute davon hielten. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Es kam nur noch darauf an, daß er von hier fliehen konnte, solange er noch konnte.
Er stand auf und schrieb an den Direktor der Firma, daß er ernsthaft erkrankt sei. Er müsse sofort abgelöst werden. Er könne keinen Moment länger hier bleiben als nötig. Er müsse sofort nach Hause.
Am nächsten Morgen fand man den Brief zusammengeknüllt in der Hand des Taipans. Er lag vor dem Schreibtisch. Er war mausetot.
* * *
"The Taipan" erschien zuerst im Oktober 1922 in Pearson's Magazine.
Der größte Teil der in Ostasien angesiedelten Texte von Somerset Maugham spielt vor der Kulisse der malayischen Inselwelt, aber ein Teil verdankt sich auch dem viermonatigen Aufenthalt, den Maugham 1919 in China verdankte, wobei er 1500 Meilen den Jangtse hinauffuhr, bevor er das Land Anfang Januar 1920 wieder über Shanghai verließ. Die erste literarische Frucht dieses Besuchs waren die 58 kurzen Skizzen und Reiseimpressionen in dem Band "On a Chinese Screen" (1922). Wie Maughams Roman "The Painted Veil" (1925) spielt auch "The Taipan" in Hongkong. Der Hinweis auf den "teuersten Fleck der Insel" weist dezent darauf hin. Maughams Kurzgeschichte hatte wesentlichen Anteil daran, den Ausdruck "Taipan" für einen westlichen Handelsherrn bekannt zu machen. Es handelt sich um eine Übernahme des aus dem Kantonesischen stammenden Ausdrucks 大班 (die Aussprache im Mandarin im Zuge der Konsonantenerweichung der letzten zweitausend Jahre ist "dà bān"), "von hohem Rang." In der Schreibweise Tai-pan wurde die Bezeichung zum Titel von James Clavells Roman von 1966. Bekannte Taipans waren etwa die großen Handelsdynastien der Jardines, Swires, Sassoons und Kadoories. Den Schicksalen der letzten beiden Familien widmet sich Jonathan Kaufmans "The Last Kings of Shanghai" (Viking, 2020). Die Geschichte der Handelshauses Swire hat Robert Bickers in den Fokus von "China Bound: John Swire & Sons and Its World, 1816-1980" (Bloomsbury, 2020) gerückt.
Reuben David Sassoon (1835-1905), der zweite Stammhalter der Familie in Ostasien, legte 1855 den Happy Valley Jewish Cemetery im gehobenen Wohnviertel Happy Valley an, auf einem Grundstück, das sein Vater David Sassoon (1792-1864) erstanden hatte. Bei dem Gottesacker in Maughams Erzählung handelt es sich um den ältesten für Westler 1845 angelegten, den Hong Kong Colonial Cemetery (heute Hong Kong Cemetery), in der Nähe der Pferderennbahn, dem Happy Valley Racecourse, ebenfalls in Happy Valley an der Wong Nai Chung Road (chin. 黃泥涌道)) gelegen.
Bei den Pferden, die der Taipan erstanden hat, handelt es sich im Original um "Griffins," wörtlich zwar "Greifen," in diesem Fall aber abgeleitet vom Hippogryphen, dem geflügelten Pferd der griechischen Mythen; damit wurden in Hongkong Rennpferde bezeichnet, die nicht aus den lokalen Gestüten stammten.
"Die Bambusratsche des Nachtwächters": Nachtwächter (更夫, Geng fu), führten in China eine Ratsche oder Rassel aus Bambus oder wahlweise eine kleine Glocke bei sich, mit der sie ihr Kommen anzeigten, wenn sie ab acht Uhr abends bis zum Tagesanbruch alle zwei Stunden ihre Runde (更) drehten. Die Zahl der Rasselklänge oder Gongschläge zeigte an, die wievielte Wachrunde es war; die Wächter selbst maßen die Zeit für den nächsten Gang mit Hilfe von Räucherstäbchen, die sie abbrannten. In den meisten chinesischen Städten, die nicht zu den für den Westen geöffneten "Treaty Ports" gehörten, herrschte von der ersten bis zur fünften Nachtwache Ausgangssperre. Für die chinesischen Viertel und die New Territories Hongkongs (die Bereiche der Kronkolonie, die auf dem Festland lagen) gab es zwischen sechs Uhr abends bis 8 oder 9 Uhr morgens fünf Patrouillen.
Der traditionelle Ruf des Nachtwächters, unserem "Hört' ihr Leute, und laßt euch sagen ..." entsprechend, lautete 古代半夜在街上喊, 天干物燥,小心火烛”的更夫,算公 ("Tiāngān wù zào, xiǎoxīn huǒzhú de gēng fū, suàn gōng" - der Himmel ist trocken, gebt acht auf das Licht, hier kommt die Wache).
(Hong Kong Colonial Cemetery, 1890)
U.E.
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