4. Februar 2020

Kai aus der Kiste

Nicht "Kai." Tom. Tom Radtke. Aber es hätte auch Hans oder Franz oder in diesem Falle sogar "Achmed Schachbrett" sein können. Warum es völlig belanglos ist, dazu nach einem ausholenden Schlenker weiter unten.

Als Andy Warhol vor über einem halben Jahrhundert, im Jahr des grassierenden Irrsinns 1968, sein bekanntestes Bonmot prägte, daß "in Zukunft jeder für 15 Minuten Berühmtheit erlangen könnte" ("In the future, everybody will be world famous for 15 minutes"; der Satz fiel bei der Eröffnung einer Austellung von Photos von Warhol in Stockholm, als sich bei der Vernissage haufenweise Besucher um ihn scharten, um mit dem damaligen Superstar der Pop Art abgelichtet zu werden) könnte es durchaus der Fall gewesen sein, daß "Andy" an das Phänomen gedacht hat, daß wir - nicht erst seit den letzten 20 Jahren, aber im Zeitalter des ubiquitären Weltnetzes mehr und mehr sehen.

Erinnern Sie sich noch an "Piano Man"? An Nadja Drygalla? An die Professoren Chris Turney und Richard Parncutt? Sollten Ihnen diese Namen Hekuba sein, sind Sie in guter Gesellschaft: nach ihrer "Viertelstunde des Berüchtigseins" hat ihren Kurzzeit-Ruhm die "Furie des Verschwindens" (H. M. Enzensberger) ereilt wie der Snark in Lewis Carrolls berühmten Langgedicht. "Der Mann aus dem Meer" (nein: nicht Patrick Duffy - an dessen Rolle als Patrick Ewing sich auch nur noch ältere Semester erinnern dürften - in der kurzfristigen amerikanischen Fernsehserie The Man from Atlantis - und auch nicht Sun Koh, der "Erbe von Atlantis", der 1933 in der ersten Heftfolge von P. A. Müller in der einzigen Groschenheftreihe des Dritten Reiches, die sich dem Genre widmete, das man heute als "Science Fiction" bezeichnet, aus den Fluten den Atlantiks auftaucht wie eine Generation später Ursula Andress als allererstes Bond Girl in "Dr. No") - "der Pianist aus dem Meer" war ein rätselhafte Person, die im Frühjahr 2005 in der englischen Hafenstadt Sheerness auftauchte und dessen völlig ungeklärte Identität für eine kurze Frisson des Mysteriösen nicht nur in den englischen Medien sorgte, weil er sich weigerte, ein Wort zu sprechen und nur Melodien auf einem Klavier spielte (je nach Zeugenaussage leidlich oder rein repetitiv dieselbe Taste anschlagend). Nachdem er vier Monate später dann doch sein Schweigen gebrochen hatte und sich als ein entlaufender Bauernsohn aus dem Bayerischen mit suizidalen Neigungen entpuppte, schwand das Interesse an diesem möglichen Wiedergänger Kaspar Hausers aus dem frühen  19. oder der "Zarentochter Anastasia" aus dem frühen 20. Jahrhundert vollständig. Anders als bei Oscar Wilde sind "Sphinxe ohne Geheimnis" im wirklichen Leben keine Sphinxe. Frau Drygalla erlebte ihr Viertelstündchen des Ruhms anläßlich der Olympischen Sommerspiele 2012 in London, als ihr Verhältnis mit einem (ehemaligen!) NPD-Funktionär Anlaß war, die Steuerfrau des Ruder-Achters der Damen umstandslos nach Hause zu schicken (diese Verquickung des Privaten mit dem Sportlich-Repräsentativen war für den Begründer dieses Netztagebuchs, Zettel, damals Anlaß für drei Blogposts, in der er sie gegen die Vorverurteilung der Medien in Schutz nahm: DDR, schon nicht mehr light, Hexenjagd: Noch einmal der Fall Nadja Drygalla, und Marginalie: Nadja Drygalla wird Sportsoldatin). Chris Turney war über den Jahreswechsel der Leiter jener australischen Antarktis-Expedition, die die "Folgen des Klimawandels" auf den Spuren der Mawson-Expedition 100 Jahre zuvor dokumentieren wollte und anders als ihr Vorgänger auf Wochen in den meterdicken Folgen der Globalen Erwärmung festfror (was dem Protokollanten damals Anlaß für seinen ersten Beitrag in diesem Netztagebuch war: Das Narrenschiff). Professor Parncutt schließlich war (und ist noch stets) Dozent für Musik an der Karl-Franzens-Universität in Graz, der 2012 Wellen schlug, in dem er in einem Netzbeitrag (den er auf der Webseite seiner Alma Mater postete) die Todestrafe für "Leugner des menschengemachten Klimawandels" forderte. Nicht um die Disparatheit dieser Fälle geht es mir; vielmehr darum, daß dieses jeweilige Blasenschlagen im Weltnetz nichts weiter war als eben dies: folgenloses, spurenloses Blasenwerfen, dem sofort das völlige Vergessen folgte. Dessen "Engramm" sich höchstens auf ein vages "ja, da war doch mal was...?" beschränkt - als hätten die MiB das Gros der Mediennutzer "mit der Kaffeemühle gebapt." (Laut der erfolgreichsten Flunkerei eines Science-Fiction-Autors, nämlich der Heilslehre der Scientology von L. Ron Hubbard, ist das nämlich der Grund, warum wir, in x-ter Reinkarnation, unsere Erinnerungen als "Bürger interstellarer Reiche" vor Jahrmilliarden eingebüßt haben: wörtlich "we were zapped with a coffeegrinder". Natürlich keine "wirkliche" Kaffeemühle, sondern eine futuristische Klapparatur, deren Aussehen Westler der 1950er Jahre entfernt daran gemahnen würde.* Das Versprechen, diese verschütteten Erinnerungen als "Thetanen" wachzurufen, gehört - oder gehörte in der Anfangsphase - zu den Offerten der Scientology, neben der Erweckung von Superkräften. Was passiert, wenn sich diese Erinnerungen ungesteuert und bruchstückhaft zurückmelden, kann man am Schicksal des Räubers Hotzenplotz sehen.) 
Wer also ist Tom Radtke? Der Kandidat dieses Wochenendes für eine solche irrlichternde mediale Meteorspur. Hätte man die Frage nach dieser Person vor dem 27. Januar, dem Gedenktag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren stellen wolle - man hätte sie nicht einmal stellen können. Niemandem war der Name bekannt, die Person ein absoluter Nobody - wie es sich für 99,99999999% aller 18-Jährigen gehört; ab der nächsten Woche - oder sagen wir: zwei Wochen - wird es ebenso wieder ins Nichts versunken sein, wie er aus diesem Nirwana aufgetaucht ist. Mit einem einzigen Tweet hat er immerhin das Künststück fertiggebracht, sich ein Momentchen der Empörung zu sichern, und zwar durch alle weltanschaulichen Lager hindurch - indem er das Gedenken an das Menschheitsverbrechen des Holocausts mit der bislang völlig hypothetischen und folgenlosen "Klimakatastrophe" gleichschloß. 


Das war selbst seiner Partei, der Linken, für die er er (zumindest nach eigener Aussage!) auf Platz 20 der Liste zur diesjährigen Hamburger Bürgerschaftswahl kandidierte, entschieden zuviel. (Die Abbildung ist ein Screenshot. Radtke hat den Tweet recht schnell wieder gelöscht.) Das eigentlich Pikante an dieser Jugendtorheit - die freilich ein bezeichnendes Licht darauf wirft, wie es in den Köpfen zahlreicher "Aktivisten" im vergleichbaren Alter aussehen dürfte, die ihr Lebtag lang nur zwei Lieus de mémoire, also gedächtnis- und identitätsstiftenden Themenkomplexen ausgesetzt worden sind, die ihr Herkommen und ihren Platz in der Geschichte definieren, jener Geschichte, die über das persönliche Erleben hinausweist: nämlich den rituellen geronnenen Gedenken an die Verbrechen des Dritten Reiches, in dessen Kielsog seit mindestens 30 Jahren die gesamte übrige deutsche Geschichte entweder zur Vorbereitung oder zur unterbliebenen "Bewältigung" geronnen ist. Und das "Narrativ" der drohenden Klimakatastrophe, die die Existenz der Menschheit überhaupt in Frage stellt - ein Narrativ, das im Zug der "Fridays for Future" (als einer deren Hauptorganisatoren Radtke sich zu verstehen scheint) vollends hysterisch-infantile Züge angenommen hat. Bei näherer Überlegung sollte es also nicht überraschen, daß dieser Kurzschluß zwischen den beiden Obsessionen stattgefunden hat: wenn es nicht Tom gewesen wäre, dann demnächst Franz oder übermorgen Hans.



Das eigentlich Decouvrierende an dieser letztlich trivialen Causa  waren aber Kais, nein, Toms Reaktion auf den "Unrat-Sturm", der ihm auf seine Entgleisung entgegenschlug: die Ankündigung, jetzt zum Whistleblower im Bereich der Klimakids zu werden, "to spill the dirt" nicht nur über "die deutsche Greta", Luisa Neubauer, sondern auch über einen "Hamburger Abgeordneten" (hinter dem unschwer die Person des nun wahrhaft nicht Sympathien erweckenden Johannes Kahrs auszumachen war: SHZ: Linke-Politiker Radtke: Pädophilie-Vorwürfe gegen SPD-Bundestagsabgeordneten). Und dann am Donnerstag, nach großer Ankündigung, WAS folgen zu lassen?

Nichts.

Absolut nichts.

Statt dessen hat sich diese unsägliche Figur gestern folgendermaßen auf Twitter präsentiert:


"General Radtke". "Kandidat auf Platz 2 für den Generalstab des Heeres." Sapienti sat. Nun könnte man einwenden: solche Figuren wüßten es nicht besser, zumal auch bei vielen anderen "Aktivisten", auch bei solchen mit mehr Jahren auf dem Buckel, Gemüter auszumachen sind, deren Unwissenheit, Blindheit, distanzlose Egozentrik und schlichte Einfältigkeit kritischen Zeitgenossen die Sprache verschlagen. Naivlinge, für die der brachiale und absolut witzfreie "Humor" eines Jan Böhmermann Maßstab für Witz und Ironie geworden ist; bei denen das Pöbeln und das Großtun die Stelle von Esprit und Schlagfertigkeit getreten sind. Die "Generation Y", die "Millenials", die Kohorte der nach der Jahrtausendwende Geborenen weckt, jedenfalls nach ihrer überwiegenden Präsenz in den "klassischen" wie den "sozialen" Medien, stellenweise durchaus den Eindruck, wir könnten es hier tatsächlich mit einer Mehrheit von ahnungslosen Narren, mit der Empfindlichkeit von Mimosen (was die eigene Befindlichkeit anbetrifft) oder wahlweise eines Betonpfostens (was ihre Umwelt, ihre Mitmenschen, soweit sie nicht für das Klima hüpfen) oder die Wirklichkeit überhaupt, angeht. (Dieser Einruck ist sicherlich täuschen: es dürfte eher so sein, daß Jünglinge aller 63 imaginären Geschlechter mit diesen kognitiven und emotionalen Defiziten durch die Mechanismen der Medien, sozial wie "klassisch", eklatant überrepräsentiert daherkommen.)

Und - das soll durchaus eingeräumt werden - die Aussicht auf die Enthüllungen von moralischen Abgründen, auf fragwürdige Seilschaften, auf kriminelle Manipulationen im Konnex mit den "Klimahüpfkids", mit der aufgebauschten Medienhysterie um eine behinderte Teenagerin, die erkennbar nur die Gallionsfigur von handfesten Geschäftsinteressen darstellt (getreu nach Carl Schmitts Erkenntnis: "Wer 'Menschheit' sagt, will betrügen"), die ihr ihre schlichten Sprüche auf Twitter und Facebook und in ihre Redemanuskripte schreiben, auf die Seilschaften, die bewirken, daß solche Veranstaltungen, nach fast vier Jahrzehnten offizieller Klimakatastrophenbeschwörungen auf allen Kanälen, angefangen mit dem Waldsterben, nachgerade jungfräulich die Pole Position der Medienaufmerksamkeit für sich verbuchen verbuchen kann - als hätten uns in diesem Belang die Men in Black mit der Kaffeemühle gebapt - und nun müßte eine bezopfte Göre uns das kleine Klimaeinmaleins beibringen... diese Aussicht darf schon ein gewisse Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nehmen - jenseits der normalen Begehrlichkeit, "schmutzige Geschichten über die Großen und Mächtigen" serviert zu bekommen. Das Letzere ist vielleicht nicht nobel und edel - aber es ist unverbrüchlicher Teil der Conditio Humana. Schon die griechischen Götter waren entworfen, diesen ewigen Bedürfnis gerecht zu werden, und nur Progressisten und Utopisten können davon träumen, daß die nächste Generation eine von "neuen Menschen" sein wird, denen ihre Erziehung dieses älteste aller Laster ausgetrieben haben wird.

Nur: wer dergleichen vollmundig ankündigt, und jegliche Lieferung schuldig bleibt (außer Gerede, die 3-F-Bewegung "sei mittlerweile von den Grünen gekapert" worden - für diese Mutmaßung, lieber Achmed Schachbrett, braucht es dein Geraune nicht), der ist unten durch. Er hat nichts anzubieten. Er ist ein Bluffer, Blender, ein substanzloser Schwätzer. Und diese Einsicht hat nun so gar nichts mit "rechts" oder "links" zu tun, nichts mit dem Dräuen - oder den Nicht-Dräuen - der Katastrophe, welcher Art auch immer. Es ist schlichte menschliche Natur - so elementar, daß sie vor über zweieinhalb Jahrtausenden in Worte gefaßt wurde: in der Fabel des altgriechischen Dichters Äsop über den Hirtenjungen, der sich einen Spaß daraus machte, nach Mutwillen sein ganzes Dorf zusammenzutrommeln zu können, indem er "Achtung Wolf!" rief. In den meisten Fassungen der Fabel 45 wird am Ende, als tatsächlich die Wölfe vorbeischauen und niemand mehr auf sein Geschrei reagiert, nicht nur seine Herde, sondern auch der Hirte gefressen. Das, lieber Hans, wird dir wohl erspart bleiben. Du hast dir nur gerade elegant für den Rest deines Lebens jegliche Chance auf eine Kandidatur, auf Irgendwas-mit-Politik, auf eine erfüllende Lebensstellung zerschossen, die über das Bestücken von Supermarktregalen hinausgeht - es sei dir verraten, daß auch Personaler Suchmaschinen bedienen können: dein erstes Posting könnte man als jugendliche Narretei verzeihen, aber deine Trotzreaktion ist ein klassisches Eigentor. Und das mit drei Tweets. Das ist immerhin auch eine Art Leistung. Chapeau.

Und natürlich könntest du noch bei den Medien, besonders den öffentlich-rechtlichen, unterkommen. Der Name Böhmermann fiel oben ja schon. Für Leute wie dich gibt es dort jede Menge Bedarf. Solange es sie, diese Medien, noch gibt.


PS. Auf die Ankündigung der Partei Die Linke, man werde gegen Radtke Sanktionsmöglichkeiten bis hin zum PAV (Parteiausschlußverfahren) in Erwägung ziehen, reagierte das Fähnlein Fieselschweif der lokalen Jugendorganisation dieser fidelen Bande folgendermaßen:


Nicht ohne einen Tag später entschuldigend zu verkünden, ihr Netzkonto sei schon "seit Monaten" gehackt worden und sie nicht mehr Herr im eigenen Haus. Welche der beiden Möglichkeiten -bodenlose Infamie oder bodenlose Inkompetenz - ein bezeichenderes Licht auf diesen Verein wirft, mag jeder für sich entscheiden.










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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.