9. Februar 2020

Der Fall Kemmerich(s) oder: Von der grenzenlosen Torheit des politisch-medialen Mainstreams

Wenn Wahlen etwas veränderten, dann wären sie längst abgeschafft, lautet ein Bonmot, das dereinst eher in linken Kreisen die Runde machte. Wenn Wahlen etwas verändern, dann werden sie abgeschafft, könnte man die Posse nach der Kür des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten in Anlehnung an diesen Sponti-Spruch trefflich kommentieren.

Zur Causa Kemmerich wurde vielleicht schon von jedem alles gesagt. Auch in diesem Blog war der Vorgang bereits Gegenstand mehrerer Beiträge. Ich möchte hier nicht die Argumente wiederholen, weshalb die von der Bundeskanzlerin geforderte und vom Gros des politisch-medialen Mainstreams herbeigetwitterte Rückgängigmachung der in Rede stehenden Wahl eine Todsünde wider elementare demokratische Prinzipien darstellt, von denen man dachte, dass sie zumindest bei der Union, der FDP, der SPD und den Realo-Grünen außer Streit stehen. Nein, ich möchte im Folgenden näher darlegen, weshalb sich die letztendlich auf kurze Sicht erfolgreichen Hysterie-Ausbrüche des Meinungshegemons mittel- bis langfristig (aus der Perspektive der entsprechenden Akteure) als kontraproduktiv erweisen werden.
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Ein Aspekt der thüringischen Landesvater-Elektion, dem in der Debatte viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist der Umstand, dass diese Wahl geheim war. Die im Sozialkundeunterricht und in Einführungsvorlesungen in das Verfassungsrecht gelehrte Binsenweisheit besagt, dass es Sinn des Wahlgeheimnisses ist, die Freiheit der Wahl abzusichern. Niemand soll aus Angst vor staatlichen (in Diktaturen, die ja zumeist auch Urnengänge inszenieren, um sich einen demokratischen Anstrich zu geben) oder wirtschaftlich-sozialen Konsequenzen (die auch in Rechtsstaaten drohen) davon abgehalten werden, sein Kreuz dorthin zu setzen, wo seine wahre politische Präferenz liegt.

(Exkurs: Letzteres ist mutatis mutandis übrigens ein starkes Argument gegen die auch von vermeintlichen Liberalen befürwortete Klarnamenpflicht im Internet, die man freilich schon mit der füglichen Erwägung ablehnen kann, dass es in Deutschland weiterer Gängelungen des Bürgers ohnehin nicht bedarf.)

Der Fall Kemmerich(s) hat einen weiteren Schutzzweck des Wahlgeheimnisses aufgezeigt: Der siegreiche Kandidat soll sich nicht dafür rechtfertigen müssen, von wem er aller Wahrscheinlichkeit nach (auch) gewählt wurde beziehungsweise: Er soll die Wahl auch dann annehmen dürfen, wenn (auch) die Falschen für ihn gestimmt haben. Diese relativ simple Einsicht hätte sich der politisch-mediale Mainstream zu Eigen machen sollen, denn gerade in den östlichen Bundesländern könnte eine Ministerpräsidentenkür künftig durchaus auch vom Votum der AfD abhängen, wenn im Übrigen entlang der überkommenen Linien (bürgerlich: CDU und, wo sie im Parlament vertreten ist, FDP; links: SED und, wo sie im Landtag vertreten sind, Grüne und SPD – man entschuldige diese Sottise, die ich mir nicht zu verkneifen vermochte) angekreuzt wird.

Freilich: Wenn Bodo Ramelow, der von den Leitmedien zum lupenreinen Demokraten und über die ideologischen Gräben hinweg beliebten Regierungschef stilisiert wurde, gemäß Alexander Gaulands Anregung mit AfD-Beitrag zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt würde, so fände man von der WELT bis zur TAZ sicher zahlreiche Gründe, weshalb dasselbe nicht das Gleiche ist. Aber beim einen oder anderen Wähler würde sich vielleicht doch die Überzeugung Bahn brechen, dass die Diskursgouvernanten damit einmal wieder die üblichen Doppelstandards wegzudiskutieren versuchen.

Doch nicht nur, weil man sich selbst blockiert, wenn man jegliche Unterstützung durch die bösen Buben (und Mädchen) dem Anathema anheimstellt, oder aber weil man unglaubwürdig auftritt, wenn man die Hand je danach umdreht, ob ein Nichtlinker oder ein Linker mit AfD-Stimmen gewählt wird; auch aus einem anderen Grund hat sich der politisch-mediale Mainstream in der Causa Kemmerich maximal töricht verhalten.

Das linke Lager hätte dem Ministerpräsidenten Kemmerich, dessen Wahl man in dem hier zu entfaltenden Alternativszenario akzeptiert hätte, im Sinne einer Fundamentalopposition jegliche Zusammenarbeit verweigern können. Ein solches Vorgehen ist in einer Konkurrenzdemokratie, wie sie in Deutschland herrscht, nicht zu beanstanden. Kemmerich wäre dann, wenn er eigene Projekte hätte durchsetzen wollen, auf den Zuspruch der AfD angewiesen gewesen. Eine Koalition mit der Höcke-Truppe (und der CDU) wäre freilich nicht in Frage gekommen, weil dies angesichts der erwartbaren Reaktionen einen politischen Suizid Kemmerichs bedeutet hätte. Einer Tolerierung im Sinne eines Blankoschecks für eine CDU-FDP-Koalition hätte die AfD zweifellos nicht zugestimmt. Dies hätte letztlich eine Schachmatt-Situation für Kemmerich mit sich gebracht, weil diesem die Zustimmung der AfD zu seinen Vorhaben als Ausweis inakzeptabel rechter Politik angekreidet worden wäre und er linkere Inhalte nicht hätte verwirklichen können, weil dies am Widerstand der Volksfront und der Rechtspopulisten gescheitert wäre. Eine in dieser Weise handlungsunfähige Regierung Kemmerich wäre wohl bald Geschichte gewesen und dies wäre – ich wiederhole mich – durch in demokratisch-rechtsstaatlicher Hinsicht hoffähige Mittel erreicht worden.

Stattdessen hat der politisch-mediale Mainstream in einer Weise reagiert, welche ganz und gar nicht dazu angetan war, die in AfD-affinen Kreisen frequente Klage über eine DDR 2.0 Lügen zu strafen. Was bei besonnener Reaktion des Diskursherrschers (lediglich) ein gelungener Coup Höckes (und vielleicht auch des AfD-Bundesvorstandes?) gewesen wäre, ist durch die Entgleisungen, die sich die Mehrheit der Journalisten und der tonangebenden Politiker von der CSU bis zur SED geleistet haben, zu einem veritablen Volltriumph der AfD geworden. Selten hat das – ich formuliere dies jetzt einfach mal so – Establishment dieses Landes seine hässliche Fratze so ungeschminkt gezeigt wie in der Causa Kemmerich.

Noricus

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