Von Spengler habe ich
gelernt, dass große Geister – wenn ich mich erinnere, erwähnt der Autor des Untergangs des Abendlandes in diesem
Zusammenhang Dante und den von ihm verehrten Goethe – Ereignisse und Zustände
aus der Vogelperspektive betrachten, während der Normalsterbliche (und
insbesondere natürlich der Zeitgenosse einer erstarrten Zivilisation) die Warte
des Froschs zu verlassen nicht imstande ist. Bei aller Selbstüberschätzung
würde sogar der Urheber der vorliegenden Zeilen eingestehen, dass er, auch wenn
er sich noch so sehr streckte, den Schöpfer der Commedia und den Verfasser des Faust
bei weitem nicht erreichte. Doch die Idee, die Dinge unter möglichster
Ausschaltung der eigenen Alltagsbefangenheit zu befunden und zu begutachten, hat
auch für den intellektuellen Fußsoldaten Noricus ihren Reiz.
Spulen wir also das Band der Zeitläufte etwas zurück und halten wir bei einem Vorgang an, der Deutschland vor knapp zehn Jahren in Erregung versetzte und wie vielleicht kaum ein anderes Geschehnis die geistig-moralische Lage der Nation versinnbildlichte. Die Rede ist natürlich von Thilo Sarrazins Sachbuch-Bestseller Deutschland schafft sich ab beziehungsweise der Debatte oder eher: Nichtdebatte, die sich um das Opus des damaligen Bundesbankiers entspann.
Spulen wir also das Band der Zeitläufte etwas zurück und halten wir bei einem Vorgang an, der Deutschland vor knapp zehn Jahren in Erregung versetzte und wie vielleicht kaum ein anderes Geschehnis die geistig-moralische Lage der Nation versinnbildlichte. Die Rede ist natürlich von Thilo Sarrazins Sachbuch-Bestseller Deutschland schafft sich ab beziehungsweise der Debatte oder eher: Nichtdebatte, die sich um das Opus des damaligen Bundesbankiers entspann.
Das Bemerkenswerte an der
seinerzeitigen Aufregung war – getreu unserem Blick von oben (der hoffentlich
nicht von oben herab ist) –, dass Linke nunmehr eine Attitüde einnahmen, die über
die Jahrhunderte hinweg für eine der konservativsten Einrichtungen dieses
Kontinents wesenhaft war. Denn letztlich etablierten all diejenigen
Kommentatoren, die das Werk des früheren Berliner Finanzsenators verteufelten,
einen neuen index librorum prohibitorum.
Die inhaltliche Auseinandersetzung wurde mit dem Verweis auf die Häresie der
Argumentation abgelehnt. Der Ketzer wurde – was man als humanitären Fortschritt
würdigen muss – immerhin nicht verbrannt, sondern lediglich seiner öffentlichen
Funktion enthoben.
In ihrem an
DDR-Verhältnissen geschulten Neusprech verfügte die Bundeskanzlerin, dass
Sarrazins von ihr nicht gelesener Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung
„diffamierend“ und „nicht hilfreich“ sei. Zehn Jahre danach ist das verehrte
Publikum wohl so abgestumpft, dass es an diesem Umstand keinen Anstoß mehr
nimmt, aber seinerzeit dürfte der innocent
bystander doch noch gedacht haben, dass sich die Regierungschefin recht
eigentlich aus Feuilletondebatten herauszuhalten habe. (Vielleicht, das sei
hier exkursweise angemerkt, begann die Liebesgeschichte zwischen dem
Bobo-Milieu und Angela Merkel ja nicht erst mit der Atomvolte anno 2011,
sondern schon ein halbes Jahr früher. Dass die Alternativlose nicht von Anfang
an der Götze der progressiven Multiplikatoren-Elite war, belegt dieser imHerbst 2005 in der TAZ erschienene Artikel, der mit seinem grotesken Gemisch aus plumpen Stänkereien und
hellsichtigen Prognosen so sehr befremdet wie er belustigt.)
Die Sarrazin-Kontroverse
markierte auch den Beginn des Talkshow-Prinzips, die Mehrheit der geladenen
Gäste mit dem Moderator als Sekundanten dem einen Abweichler
gegenüberzustellen. Begonnen hat damit Reinhold Beckmann. Vulgarisiert wurde
die Methode ab dem Herbst 2015, als Anne Wills Redaktion die Rolle des
Bösewichts in sehr stereotyper Weise mit einem osteuropäischen Politiker oder
Diplomaten besetzte und aufrechte Deutsche – vielleicht der Diversity wegen –
von dem unvermeidlichen Jean Asselborn Schützenhilfe erhielten. Wer wollte,
konnte in dieser Alle-gegen-einen-Konstellation die Wiedergeburt der
griechischen Tragödie aus dem Geiste des Gegensatzes zwischen dem Kollektiv und
dem Individuum erkennen, wobei ja auch tatsächlich die Rolle des Protagonisten
ursprünglich in einem Aufbegehren gegen die vom Chor verkündete und verkörperte
soziale Ordnung bestand.
Kehren wir in die
Gegenwart zurück: Merkel ist in den verflossenen zehn Jahren zur Lichtgestalt
der progressiven Schichten geworden. Ob ein Klaus Bittermann heute noch im
vormals Kreuzberger, nun berlinmittigen Boulevardblättchen seine
Unbotmäßigkeiten gegen die Kanzlerin veröffentlichen dürfte, erscheint
fraglich. Die zunehmende Annäherung an die Multiplikatoren-Elite und die
sukzessive Erwiderung dieser freundlichen Mimik stellen vielleicht den roten
Faden dar, der sich durch die Herrschaft der Uckermärkerin zieht. Wobei diese
es jedoch schaffte, ihren Linksschwenk nicht wie eine plumpe Anbiederung
aussehen zu lassen. Vielmehr verkaufte die Langzeitregentin ihren Kurswechsel –
was im Lande Luthers zumindest anfangs gut ankam – als alternativlos, so als
habe ihr die Vernunft geboten, gegen ihre angeblich konservativen Überzeugungen
aufzubegehren. Die praeceptores Germaniae
lieben solcherlei preußisch-protestantische Pflichtethik, wenngleich diese bei
Merkel – wie ich einfach mal zu behaupten wage – jedenfalls das berühmte Stück
weit nur geschauspielert war und ist.
SPD-Kanzler wurden in der
bundesrepublikanischen Geschichte auf den Schild gehoben, wenn dem Volk der
Sinn nach disruptiven Veränderungen stand. Bei Brandt und Schröder war dies
evident. Dass diese beiden Regierungschefs im Ergebnis mit eher liberalen als
sozialistischen Reformen aufwarteten, mag man als Ausdruck des eigenartigen
Humors der Historie betrachten. Beide genannten Genossen hatten beziehungsweise
haben in ihrem Auftreten etwas Burschikoses, das bisweilen ans leicht Unseriöse
grenzt(e) – so wie man es von Salonrevolutionären erwarten kann. Helmut
Schmidt war in dieser Hinsicht zweifellos anders: Doch verlieh ihm seine hanseatisch-großbürgerliche
Aura ebenfalls einen – wenn auch nobler daherkommenden – Hauch von Nonchalance.
CDU-Politiker hatten im game of thrones dagegen eine Chance,
wenn dem Bürger nach Konsolidierung zumute war. Was nicht bedeutet, dass die
Konservativen nicht auch mit Traditionen brachen. Im Gegenteil: Mit der
Westbindung (also Pro-Amerikanismus) und der – wenn auch sozialen –
Marktwirtschaft wurden unter Konrad Adenauer (auch ideologisch wirksame)
Weichenstellungen getroffen, die in der deutschen Geisteswelt zuvor (und auch heute noch) kaum
Zuspruch erhalten hatten. Der Alte aus Rhöndorf nahm für sich freilich in
Anspruch, „keine Experimente“ zu wagen. Dabei probierte er etwas Unerhörtes
aus, als er ein Volk, dessen Intelligenzija stets mit dem Okzident fremdelte
und kommunistisch-etatistischen Utopien aufgeschlossen gegenüberstand, dorthin
resozialisierte, wo es hingehört.
Kohl mit seinem Pfälzer
Akzent, seiner dem damals schon aufkeimenden urbanen Körperfetischismus
diametral entgegengesetzten Silhouette und seinen deftigen kulinarischen
Vorlieben (Saumagen) personifizierte den Antagonismus Provinz contra
großstädtische Schickeria, die sich auch dementsprechend über ihn lustig
machte. Auch wenn die geistig-moralische Wende mehr Slogan als Programm war,
trauten die Deutschen dem Oggersheimer eher zu, das Erbe der sozial-liberalen
Reformen verträglich zu verwalten, als deren Urhebern, die im Verdacht standen,
über das bereits erreichte und gebilligte Ziel hinausschießen zu wollen.
Merkel hat ihre Karriere mit
einem durchaus unionskompatiblen Gestus begonnen und dadurch die Feindschaft
der Bessermeinenden auf sich gezogen. Im Laufe ihrer Kanzlerschaft hat sie sich
jedoch umorientiert und dabei das Grundversprechen Adenauers und Kohls aufgekündigt
– was nach Ansicht des Verfassers ihre verheerendste Handlung war. Denn die CDU
(und freilich auch die CSU, bei welcher der Fall aber noch etwas anders liegt)
war in der alten Bundesrepublik so erfolgreich, weil sie deren Geist in
perfekter Art und Weise widerspiegelte: Sie war keine nationalistische Partei
und konnte deshalb mit wilhelminischer Großmannssucht nichts anfangen; sie war
eine christliche oder, griffiger formuliert, ihrem Wesen nach katholische
Partei und war dadurch gegen braune Tendenzen gefeit; sie war eine in einem
ganz speziellen Sinn auch liberale Partei und dadurch Gegenspieler des
sozialistischen Menschenparks. Um es provokanter auszudrücken: Die CDU war im
letzten Jahrtausend ein solcher Segen für Deutschland, weil sie so undeutsch
war. Noch einmal anders gewendet: Das eminente Verdienst der alten CDU war es,
eine völlig unbelastete und – darf ich das so schreiben? – nicht toxische
Variante des Konservatismus zu erfinden.
Dieses ehrwürdige
Selbstverständnis auf dem Altar ihrer Machtgeilheit geopfert zu haben – das ist
Merkels wirklich relevanter Makel. Die gebürtige Hamburgerin war eine Zeit lang
vielleicht deshalb so erfolgreich, weil sie einerseits die alte CDU – Menschen,
die in den Alpen Urlaub machen, Konfektionshosenanzüge tragen und gern Kuchen
backen – repräsentierte und zugleich andererseits auf das Bobo-Milieu mit ihrer
(vermeintlich aus Pragmatismus erfolgenden) reihenweisen Übernahme linker
Positionen einen unwiderstehlichen Appeal ausübte.
Die Abkehr vom gerade
beschriebenen Markenkern der CDU ist, um die Großmeisterin des Machiavellismus
zu zitieren, ein unverzeihlicher Vorgang, der rückgängig gemacht werden muss;
außerdem ein Kultur-, Tabu- und Dammbruch. Deutschland ist heute wieder –
Merkel sei Undank – ein besserwisserischer und belehrender Staat, in dem
sozialistische Rezepte mit ihren potenzierten Zuckerkügelchen ihre fröhlichen
Urständ feiern.
Doch ist es nicht
angebracht, alle Hoffnung fahren zu lassen. Denn seit der Kölner
Silvesternacht, so scheint es jedenfalls aus der Vogelperspektive, kann sich
das System Merkel nur noch über Pyrrhussiege freuen, sonst würde es nicht so
hysterisch auf jede wirkliche oder vermeintliche Beeinträchtigung seiner
Vormachtstellung reagieren. Wobei Hysterie vielleicht der Essig ist, der momentan
jeden Trunk aus dem Becher der diskursiven Auseinandersetzung vergällt. Es gibt
nur noch Hell oder Dunkel, Schwarz oder Weiß, Himmel oder Hölle, Ja oder Nein.
Wer zwischen den weltanschaulichen Lagern steht, zieht besser den Kopf ein.
Haben wir wirklich Grau und Vielleicht verlernt? Es wäre schade darum.
Noricus
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