10. Februar 2020

Erfurt: quousque tandem?

Unirdisch klingt Getöse von Berlin.

Und es regieren grausige Magien.

- Ernst Blass (1890-1939), "Regen" (1912)

Mit Voraussagen soll man vorsichtig sein, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen, lautet ein bekanntes Bonmot, das zumeist Mark Twain zugeschrieben wird. In diesem Belang sehe ich mich als angelegentlicher Kommentator der politischen Zeitläufe in einer Zwickmühle, denn ich pflege mich hinsichtlich des Ausgangs von Kabalen, Krisen und Entwicklungen nur dann "aus dem Fenster zu lehnen," wenn ich anhand gewisser Anzeichen, Symptome oder Tendenzen, und sei es nur aus einem vagen Bauchgefühl heraus, vermeine sagen zu können, "wohin die Reise geht". Das mag nun nicht zutreffen, aber ich für meinen Teil mag das Prophetengeschäft ungern in der Manier ahnungsfreier Kaffeesatzleserei zu betreiben. Un coup de dés jamais n'abolira le hasard, ein Würfelwurf schafft den Zufall nicht aus der Welt, befand Stephane Mallarmé vor gut 130 Jahren, aber ein leichtes "Fühlt-sich-SO-an" hat sich als hilfreich erwiesen, um die Faktoren zu wägen und zu gewichten, aus denen sich diese Erwartung zusammensetzt. Und für die eine des Entwicklungen, um die es in dieser kleinen Note gehen soll, zeigt sich meine Kristallkugel in absoluter Schwärze, vernebelt, opak. Die andere Entwicklung läßt sich hingegen eindeutig umreißen: Nicht in den Details ihres Weges, aber doch in ihrem Endresultat.


Beim ersten Fall geht es um die Folgen, die der Erfurter Skandal nach sich ziehen wird. Hier sind zwei Facetten wichtig: zum einen, "wie es weitergehen wird", wie der gordische Knoten in den nächsten Wochen und Monaten für die Thüringer Landesregierung zerschlagen werden wird; wer unter welchen Bedingungen zum neuen oder alten Ministerpräsidenten gekürt wird, ob Neuwahlen anberaumt werden (die Wahrscheinlichkeit dürfte sehr dagegen sprechen). Der andere Bereich sind die Folgen für das politische System der Berliner Republik, für das "System Merkel." Eins läßt sich sagen: was als "politisches Husarenstück" (so wurde es ja auch hier im Blog in der vorigen Woche zweimal explizit benannt), als gelungene Volte unter den Rahmenbedingungen der parlamentarischen Demokratie begann, hat sich wohl zu der möglicherweise tiefsten Krise ausgewachsen, die das seit Jahrzehnten erprobte System der nachkriegsdeutschen Demokratie je durchgemacht hat. Das gilt auch in Hinblick auf die vorhergehenden Krisen, die den Zeitgenossen als durchaus bedrohlich, die Substanz des demokratischen Staatswesens gefährdend erschienen: die Frage der "Nachrüstung" Anfang der 1980er Jahre, über die die Regierung Helmut Schmidts stürzte; der "deutsche Herbst" von 1977, der Streit um die "Notstandsgesetze" von 1966 (der zur Entstehung der APO, der Außerparlamentarischen Opposition und von "1968" ausschlaggebend war) und die "Spiegel-Affäre" von 1962. Bei allen diesen Krisen schienen nicht wenigen Zeitgenossen die Fundamente der Gewaltenteilung, der Einhegung der Checks and Balances, die das Durchgriffsrecht des Staates und seiner Organe gegen seine Bürger einschränken, akut gefährdet. Wie sehr diese Befürchtungen tatsächlich virulent waren oder wie sehr wie der Alarm auf den aufgeheizten Zeitgeist, den medial befeuerten, zurückging, ist in allen diesen Fragen nur von historischen Detailanalysen zu bestimmen. Wichtig erschienen aber zwei Punkte: in allen diesen Krisen gab es gegen die befürchteten Entwicklungen breiten Widerstand, sowohl auf Seiten der Bevölkerung, was sich in massenhaften Demonstrationen niederschlug (am markantesten die Drittelmillion, die im Frühjahr 1983 im Bonner Hofgarten gegen die "Nachrüstung" demonstrierte) UND auf Seiten der Medien.

Es mag leicht frivol sein, der Erfurter Lokalangelegenheit einen solchen Rang beizulegen. Dennoch. Was seit dem vorigen Mittwoch passiert ist, hat das Zeug, das politische System der Bundesrepublik tief und nachhaltig zu beschädigen - und zwar in mehrfacher Hinsicht. Hier wird das Prinzip des Föderalismus kurzerhand ausgehebelt: Ein Wahl, ein parlamentarischer Vorgang, den man als Trickserei empfinden mag, der aber nach alen Regeln und Gesetzen zulässig ist, wird kurzerhand auf die Weisung der Regierungschefin rückgängig gemacht, die sich, entgegen allen demokratischen Usancen, vom Ausland aus coram publico Befehlsgewalt anmaßt, wo ihr  - nach dem Prinzip der Föderalismus - keinerlei Weisungsbefugnis zukommt. Der gewählte Ministerpräsident wird zum Rücktritt genötigt, seiner Familie wird mit Gewalt gedroht, seine Partei, die freien Demokraten, sehen sich Knall auf Fall an die Seite der vermeintlich vogelfreien "Rechten" gerückt, ihre Parteibüros werden angegriffen, sie werden von der Gewalt auf der Straße den "Nazis" zugeordnet; der Ostbeauftragte der Regierung, der so unvorsichtig war, dem Gewinner zu seinem Wahlsieg zu gratulieren, verliert - aus keinem anderen Grund - seinen Posten. Die umbenannte SED, heute als "Die Linke" firmierend, diktiert der CDU als Regierungspartei die Bedingungen, unter denen deren Abgeordnete für die Wiederwahl ihres vom Wählerwillen in die Minorität zurückgestuften Mannes. Die Frontfrau jener Kommunisten, Sahra Wagenknecht, lobt in der Agora dieses Staates, bei Anne Will, ausdrücklich "den unglaublichen Druck der Straße," der sich hier manifestiert. Alexander Wendt, auf dessen Äußerungen zur Causa hier ausdrücklich hingewiesen sei, hat heute in einem Beitrag für Tichys Einblick dargelegt, warum nach seiner Kenntnis der Gesetzeslage hier ein mehrfacher, schwerer Verfassungsbruch von Seiten der Regierung und insbesondere der Kanzlerin vorliegt. ("Merkels Iden des Februar")

Der gleich doppelte Verfassungsbruch liegt auf der Hand: erstens gegen Artikel 45 der Thüringischen Landesverfassung, der Staatsfundamentalnorm des Landes:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Es verwirklicht seinen Willen durch Wahlen, Volksbegehren und Volksentscheid. Es handelt mittelbar durch die verfassungsgemäß bestellten Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung.“
Und zweitens gegen den sehr ähnlich gefassten Artikel 20 (3) des Grundgesetzes:
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“


Ein nicht verfassungsmäßig bestelltes Gremium hebt also erstens das freie Mandat von Abgeordneten weitgehend auf – nicht nur in Thüringen. Und ein Gremium auf Bundesebene unter Einschluss der Kanzlerin greift tief in die Belange eines Bundeslandes ein, es schiebt also die föderale Ordnung in einem wichtigen Punkt – Herbeiführung von Neuwahlen – kurzerhand beiseite.
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Ihr kollusive Zusammenwirken mit Gewalttätern entkernt das Recht von Abgeordneten, hebt die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative auf und begründet die Merkel-Doktrin von der eingeschränkten Souveränität der Bundesländer in politischen Kernfragen. Nach ihrer Definition und angesichts der realen Gewaltkulisse sind in Deutschland auf absehbare Zeit nur noch entweder ganz linke oder halblinke Regierungen möglich. Schon die FDP gilt in diesem Klima als Partei, die sich erst noch antifaschistisch bewähren muss, um in den Kreis der legitimen Mitspieler wieder aufgenommen zu werden.
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Die Partei- und Fraktionsvorsitzende der Linkspartei Susanne Henning-Wellsow nahm schon feinfühlig die Witterung einer neuen politischen Ordnung auf. In einem Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland forderte sie, die CDU-Abgeordneten im Erfurter Landtag müssten jetzt den Linkspartei-Kandidaten Bodo Ramelow im ersten Wahlgang zum Ministerpräsidenten wählen:
„Die Zeit für Spielereien ist vorbei. Bodo Ramelow noch einmal in einen dritten Wahlgang zu schicken, kommt für uns nicht infrage. Das muss im ersten Wahlgang sitzen. Wir werden also auch mit Teilen der CDU und einzelnen Abgeordneten der FDP reden.“ Hennig-Wellsow fügte hinzu, „die demokratische Mehrheit zumindest von Teilen der Abgeordneten von CDU und FDP“ müsse „im Vorfeld dokumentiert sein“.
Die Politikerin fordert also ganz offen die Abschaffung der freien und geheimen Wahl des Ministerpräsidenten.

Der Abgang der bisher als "Merkels Erbin" gehandelten glücklosen Parteivorsitzenden AKK, die heutige Forderung der nordrhein-westfälischen SPD, bei der Verabschiedung von Gesetzen hinfort (und wahrscheinlich auch rückwirkend) sicherzugehen, daß Stimmen der AfD keinen Einfluß darauf haben, der Befehl, die Wahlen auszugehen haben: das sind Vorgänge, die bei jedem, dem eine demokratische Rechtsordnung am Herzen liegt, Alarm auslösen sollten. Nur, um auf die Zukunft zurückzukommen: es läßt sich in keiner Weise voraussagen, welchen Verlauf diese Krise nehmen wird und wie sehr das Parteiengefüge - personell wie institutionell - davon noch angefressen wird. Es könnte sein, daß die Aufregung kurzfristig ist und das "politische Berlin" wieder zum Status Quo der letzten Jahre zurückfindet (was keine Beruhigung darstellt, da Merkels autokratisches Wirken diesem Land schon unabsehbaren Schaden zugefügt hat und dessen Folgen dieses Land auf Jahrzehnte schwer belasten wird, falls Wahnsinnstaten - anders kann man es nicht bezeichnen - wie Energiewende und Grenzöffnung uns mit jede Zukunft kosten). Es kann sein, daß in der grenzenlosen (no pun intended) Hysterie und Kopflosigkeit, die sich aktuell zeigt, die ersten wirklichen Risse im "System Merkel" zeigen, der Anfang vom Ende die Einleitung der finalen Phase dieser zombiehaften Politik-Simulation, die pragmatisches Handeln, Augenmaß und Verantwortung durch Hypermoral und die damit einhergehende Verteufelung des politischen Gegners ersetzt hat. Daß Merkel und ihre Paladine - die ja keines der zahllosen von ihnen angerichteten Problemfelder je "gelöst" haben - auch hier scheitern werden. Daß es womöglich sogar möglich sein wird, den politischen Kurs umzukehren und sich daran zu machen, die Versäumnisse und Fehler des letzten Jahrzehnts wettzumachen. Wahrscheinlich ist es nicht; ich selber würde dafür keinen Pfennig verwetten.


Der Dammbruch, der sich im Bereich der "politischen Sitten" in den letzten Tagen vor unseren Augen vollzogen hat, läßt nicht Gutes erwarten. Nach der AfD und der FDP steht jetzt die Werte-Union am Pranger, die Ausfälligkeiten, die sich etwa der jahrzehntelange EU-Abgeordnete Elmar Brok im Interview mit der WELT ihr gegenüber herausgenommen hat, wären in ihrer lupenreiner Verwendung eines totalitären Sprachduktus bis vor kurzem absolut undenkbar geworden. Ich mußte es mitstenographieren, um glauben zu können, was ich da heute zu hören bekam:

"...daß wir klare Kante gegen solche Abweichler machen müssen..." [1:25 bis 2:13]: "Ich habe heute das Interview des Vertreters der Werte-Union gesehen. So etwas darf man gar nicht zulassen. Wenn man solchen Leuten den Finger gibt, nehmen sie die ganze Hand. Das ist wie ein Krebsgeschwür. So etwas muß man von vornherein mit aller Rücksichtslosigkeit bekämpfen, damit ein solches Krebsgeschwür nicht in die Partei hineinkriechen kann."
Interviewer: "Ein Krebsgeschwür muß man rausschneiden oder wegstrahlen. Heißt das also: die Wert-Union, die sollte man aus der Partei rauswerfen, sozusagen?"
Brok: "Ja, ob man das mit den individuellen Leuten machen kann, ist nach dem Parteiengesetz sehr schwierig. Aber die Werte-Union kann nicht als Werteunion der CDU auftreten. [...] Dabei haben sie in der Partei Null Einfluß, und ich glaube, daß man so etwas abschneiden muß."



Teile der eigenen Partei als "Krebsgeschwür" zu bezeichnen, daß man "abschneiden" und "rücksichtslos bekämpfen" muß: das ist eine Sprache, die auch diesem Kontinent seit den Parteisäuberungen der Kommunisten in der Endphase des Stalinismus nicht mehr gehört worden ist.


Patrick Bahners - immerhin Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - unterstellte heute Christian Lindner "Staatfeindlichkeit." Ich möchte zu seinen Gunsten annehmen, daß ihm aufgrund völliger historischer Unkenntnis die Herkunft dieses Begriffs nicht bekannt ist, der im "besten Deutschland aller Zeiten," das hier allzuvielen Leuten als utopisches Vorbild vorzuschweben scheint, in seiner definitorischen Unbestimmtheit Gegner des DDR-Totalitarismus willkürlich auf Jahre und Jahrzehnte ihrer Freiheit und ihrer Rechte zu berauben, weil jegliches Verhalten unter dem Paragraph 106 des Strafgesetzbuches der DDR, "Staatsfeindliche Hetze" fallen konnte. 

*     *    *

Was hingegen mit Sicherheit vorausgesagt werden kann - hier komme ich zur zweiten Facette - ist das Schicksal der FDP: Schlicht gesagt: mit Erfurt ist sie Geschichte. Das hat nichts mit ihrer momentanen Stigmatisierung als "Wegbereiter des 'Bösen'" zu tun - obwohl ihr dies, da das aufgeheizte Gewaltklima der Linken, der Antifa - und den ihren Resonanzraum bietenden Medien - immer nur "mehr davon", aber niemals "Entwarnung" bedeutet. Die AfD wird, solange sie besteht, die schreienden Chöre "Nazis raus!" nicht loswerden; den freien Demokraten dürften in unserem blind gewordenen Aktionsklima dasselbe bevorstehen. Nein: als politische Kraft, als Partei, die die Fünf-Prozent-Hürden bei anstehenden Wahlen überschreiten wird, gehört sie (aller Voraussicht nach) der Vergangenheit an. Hier greifen andere, aber ebenso elementare Gesetzmäßigkeiten - nicht die der Paragraphen, sondern der sozialen und zwischenmenschlichen Dynamiken, das "soziale Kapital." Eine Partei, die einen Kandidaten ins Rennen schickt, damit er nicht gewählt wird, erfüllt nicht die Mindestbedingung, um bei Wählern zu reüssieren, selbst bei den gutwilligsten und überzeugtesten nicht. Sie ist im falschen Geschäft. Ein Kandidat, der damit rechnen muß, im Fall der Annahme einer Wahl ohne jede Rückendeckung dazustehen, wenn es dem politischen Gegner nicht gefällt und umstandslos geopfert zu werden, mag eine traurige Gestalt sein. Ein Mitspieler im gnadenlosen politischen Spiel ist er nicht. Einer Partei, die von jemandem geführt wird, der solche Dolchstöße durchführt, anstatt sich schützend hinter den Angegriffenen zu stellen, wird kein Vertrauen haben, und zurecht keines verdienen; nicht beim Wähler und nicht in der eigenen Partei. Es läßt sich kein Weg ausmachen, wie diese Partei diesen Offenbarungseid ungeschehen machen könnte - zumal sie in programmatischer Hinsicht schon seit Jahren kein Angebot mehr machen kann, daß von Wählern, die auf Veränderung hoffen, ernst genommen werden könnte. Dazu hätte sie ihre parlamentarische Aus-Zeit zwischen 2013 und 2017 nutzen müssen, um fundamental gegen die verheerenden Weichenstellungen der GroKo-Pareien zu opponieren. Es hätte sie der Chance beraubt, jemals bei ihnen als Juniorpartner am Tisch sitzen zu können (keine Jamaika-Verhandlungen 2017!), aber es wäre der einzige Weg gewesen, ihre nach ihrem Erdrutscherfolg von 2009 schwer lädierte Glaubwürdigkeit zu bewahren. Volksparteien - zu denen die FDP, als "klein-aber-fein" über ihre jahrzehntelange Regierungsbeteiligung in der Bonner Republik zu zählen ist - sterben langsam. Bisher sind die Freidemokraten verschont geblieben. Tempi passati.




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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.