6. Februar 2020

Thüringen: ein Husarenstück


(Titelillustration von Roger Letsch. Mit freundlicher Genehmigung des Erstellers von dieser Stelle zweitverwendet.)

Der geschätzte Netztagebuchmitautor Larian hat ja in seinem vorausgehenden Blogbeitrag die wichtigsten Aspekte des heutigen Geschehens im Thüringer Landtag prägnant umrissen - inklusive der Benennung als "Husarenstück" (was über die geläufige Metaphorik eines solchen parlamentarischen Kabinettstücks auch als ein Nicken über die Jahrhunderte zurück empfinden darf, da man bei "Thüringen" fast so stark wie beim benachbarten Brandenburg an Preußen, Fontane und nicht zuletzt den "alten Fritz" denken mag - eine solche Erweiterung des Assoziationsraums würde unserem öffentlichen medialen Diskurs - sit venia verbo - in seiner Engführung auf die "fatalen zwölf Jahre" durchaus guttun). Ich möchte mich deswegen hier zuvörderst auf eine kleine Blütenlese der Reaktionen der dort angesprochenen "üblichen Verdächtigen" beschränken, um den Ton dieser das gewohnte Maß sprengenden Schaumproduktion griffig vor Augen zu stellen - und zu dokumentieren, falls es einigen dieser Fingerfertigen in den Sinn kommen sollte, ihre Torheiten der Lethe anzuvertrauen, jenem Fluß der antiken Mythologie, der denen, die aus ihm tranken, alles Vorgefallene aus dem Gedächtnis löschte. (Fun fact: zu den Grenzflüssen des Hades zählten die "ollen Griechen" auch die Mnemosyne, die das Gegenteil bewirkte: alles Geschehene wieder ins Gedächtnis zu rufen und den daraus Trinkenden mit der Gabe der Allwissenheit auszustatten: ein Fluch jener besonderen mythologischen Spielart in der Manier des Sisyphus und Tantalus, wir wir seit Jorge Luis Borges' Funes el memorioso wissen.)  

Der Lautstärke der Empörung des "politmedialen Komplexes" in den Massenmedien und den individuell befeuerten sozialen Medien nach könnte man glauben, heute sei es zu einem politischen Erdbeben gekommen - England sei womöglich aus der EU ausgetreten oder Präsident Trump sei im Amt bestätigt worden. Das täuscht. Tatsächlich wiegt der Thüringer Vorgang ungleich schwerer. Zumindest im Politikverständnis unserer Medien und unserer politischen Verlautbarungsklientel. Die Hoffnung meines geschätztes Kollegen, der Sturm im Wasserglas könnte sich demnächst wieder beruhigen, kann ich leider nicht teilen. Die schäumende Empörung ist für diese Klientel das A und O, der ganz normale Geschäftsmodell, der Aggregatzustand, der ihnen die Aufmerksamkeit der Publikums sichert und der ihrem Treiben die Weihen moralischer Unfehlbarkeit verleiht - nicht erst seit der Wahl des Unaussprechlichen ins Weiße Haus oder der Unbotmäßigkeit des Perfiden Albion. Sie leben davon, und jeder Anlaß läßt die Flammen höher schlagen. Der Glutkern ihres Auftretens ist genau das Ressentiment, das sie dem (wirklichen wie vermeintlichen) "politischen Gegner", ach ws: Todfeind in einem fort unterstellen - sei es die AfD, seien es die Sachsen (und jetzt wohl die FDP) Herr Johnson, Herr Trump, Herr Salvini e tuti quanti. So sehr, daß als sichtbarstes Zeichen ihrer grenzenlosen Empörung jeglicher politischen Comment mit Füßen getreten wird. Der Gratulationsstrauß, den die Fraktionschefin der Linken im Thrüringer Landtag, Susanne Henning-Wellsow dem Gewählten mit Verachtung vor die Füße warf, entspricht exakt der Geste von Speaker Nancy Pelosi, die gestern nach der Ansprache des US-Präsidenten zum "State of the Union," zum Befinden und Zustand der amerikanischen Nation, das Manuskript seiner Rede mit wütender Verachtung vor den laufenden Kameras entzweiriß - bei beiden fehlte gleichsam nur noch, daß sie mit dem Fuß aufgestampft hätten und im Diskant How Dare You! gerufen hätten. (*) Beide Damen demonstrierten damit nicht nur einer öffentliche Verachtung der Person des politischen Gegenübers, sondern auch des Systems, seinen Regularien und Traditionen, denen sie als VertreterInnen einer parlamentarischen Demokratie zutiefst verpflichtet sein sollten. Daß man nach einer solchen Rede applaudiert, gilt nicht der Person, sondern dem Amt und den parlamentarischen Institutionen; daß einem neu ins Amt gewählten Ministerpräsidenten Blumen überreicht werden, ist symbolischer Ausdruck dafür, daß man bei aller Differenz und Ablehnungen der konkreten Person oder der Partei sich verpflichtet fühlt, diese Regularien zu achten und zu akzeptieren. Und es sei an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es nicht die AfD ist, die diese Usancen mit Füßen tritt, sie nach Belieben als lästig beiseiteschiebt.






Staunenswert bleibt die Uferlosigkeit der sich nachgerade in lustvolle Hysterie hineinsteigernden Invektiven allemal. Das wirft kein gutes Licht auf den Zustand unseres politischen Gemeinwesens. Man kann es nicht genug betonen: man muß die AfD nicht mögen, man kann diese Partei und ihre Zielsetzungen ablehnen und sogar für potenziell gefährlich halten - gerade auch Herrn Höcke und den "Flügel". Aber hier liegt die Betonung auf "potenziell". Aber das gilt im Rahmen der politischen, parlamentarischen Auseinandersetzung. Ich persönlich etwa halte die Zielsetzungen der Linken (die ja tatsächlich den mörderischsten Totalitarismus der Weltgeschichte beerben) und die ökologisch verbrämten Allherrschaftsansprüche der Grünen für eine konkrete Gefahr für unsere Zukunft, für unseren Wohlstand. Aber weder Herr Kretschmann noch Herr Ramelow sind in irgendeiner Weise mit den tatsächlichen oder zu befürchtenden Verbrechen ihrer Ideologien gleichzusetzen. Die Achtung vor dem parlamentarischen Prozedere, die tatsächliche Aufstellung in der politisch gelebten Wirklichkeit verbietet dies, und zwar kategorisch. Die umstandlose Ineinsetzung der AfD und ihrer Politiker mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, nicht nicht erst aus den obigen Äußerungen spricht, sondern sich seit Gründung dieser Partei durch nachgerade sämtliche Äußerungen der Medien und der Politik zieht, ist infam und geschichtsblind. Nichts in ihrer Programmatik - die jedermann im Parteiprogramm nachlesen kann, nichts in ihrem Handeln im Bundestag und den Landtagen legt dies in irgendeiner Weise nahe. Diese Partei steht auf dem Boden des Grundgesetzes, sie achtet den Rechtsstaat. Sie ist nicht einmal, wie es in solchen Einlassungen wie oben gezeigt behauptet wird "vom Verfassungsschutz beobachtet". Herr Haldenwangs öffentliche Verkündigung, gegen alle bisherigen Gepflogenheiten, die Partei sei "Prüffall", zeigt genau dies: es wird, anhand von vorliegenden Äußerungen einzelner Mitglieder, abgeprüft, OB Gründe für eine Einstufung als zu überwachende Organisation vorliegen könnten. (Daß es sich um ein durchsichtiges, politisch motiviertes Publikmachen handelte, um der Partei einen Imageschaden zuzufügen, dürfte nach jetzt fast sieben Jahren des unablässigen Kesseltreibens recht eindeutig sein. Ganz nebenbei bemerkt: Bei Frau Henning-Wellsow handelt des sich um eine Erstunterzeichnerin der Antikapitalistischen Linken, die tatsächlich praktisch-faktisch von Verfassungsschutz beobachtet wird.)

(Netzkommentar zum obigen Bild: "Blaue Socken zu braunen Schuhen? Die Frau hat wirklich null Stil.")

Wir haben es also mit der Wahl eines FDP-Kandidaten zu tun, der mit den Stimmen einer Partei gewählt wurde, die demokratisch verfaßt ist, die ihre Präsenz im Parlament dem Urvorgang der Demokratie - dem Wählerwillen, ausgedrückt in freien, geheimen Wahlen - verdankt, die sich immer wieder eindeutig zu diesen Werten bekannt hat. Nichts verpflichtet Herrn Kemmerich dazu, etwa AfD-Mitglieder in sein Kabinett zu berufen oder in ihrem Sinn zu entscheiden. Seine Minderheitenregierung kann auch, wie in Fällen der Minorität üblich, um die Stimmen der ehemaligen SED buhlen. Daß jetzt von der Spitze der CDU gefordert wird (auch Herr Söder und Herr Lindner haben sich in diesem Sinn geäußert), durch Neuwahlen ein unliebsames Wahlergebnis mal eben zu annullieren, läßt tiefer blicken, als es den Betreffenden lieb sein kann. Das nette Detail, daß die Erfurter CDU auf Geheiß der Berliner Parteizentrale keinen eigenen Kandidaten ins Rennen schickte, verleiht diesem Wunsch eine besondere Würze. (Nicht zuletzt mag man im heutigen Coup eine gelungene Replik auf die jahrelange kategorische Verweigerung des Besetzung einer Stelle des Bundestagsvizepräsidenten sehen, die der AfD wie allen anderen im Parlament vertretenen Parteiungen gemäß Satzung zusteht: Bätschi!)


In der Schweiz ist das heutige Geschehen in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung (böse Zungen sagen: "dem neuen Westfernsehen") in pragmatisch-nüchterner Weise eingeschätzt worden, in frappantem Kontrast zum hiesigen Toben:

"Allen, die sich jetzt um die Demokratie sorgen, möchte man sagen: Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein liberaler und bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen. Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen. Im Gegenteil, es ist geradezu irritierend, wenn man sieht, wie sich bürgerliche Politiker von der Union und der FDP genieren und sich öffentlich von ihren Thüringer Kollegen distanzieren." ("Ist die Wahl von Thüringen ein Tabubruch, gar ein Skandal? Nein - das ist Demokratie")

 Auf eine nette Volte bei diesem Geschehen hat heute Klaus Kelle hingewiesen:

Was in den Kommentaren wenig erwähnt wird ist, dass die rot-rot-grüne Vorgängerregierung bei der Landtagswahl vergangenes Jahr die Mehrheit verloren hatte. Und worüber auch nicht gesprochen wird ist, dass die rot-rot-grüne Ramelow-Regierung nur durch den vorherigen Übertritt eines AfD-Abgeordneten zur SPD damals weiterregieren konnte. Über Proteste gegen DIESE Zusammenarbeit mit einem AfDler ist in Erfurt nichts bekannt."
Im Diskussionsforum zu diesem Netztagebuch, dem "Kleinen Zimmer," hat der geschätzte Forumist Emulgator heute abend auf eine nicht ganz unwahrscheinlich Variante hingewiesen, "wie es weitergehen kann" und warum möglicherweise die jetzt lautstark geforderten Neuwahlen fortfallen.

...wie es weitergehen kann: Die Regierung Kemmerich setzt das um, was die (wechselnde) Parlamentsmehrheiten beschließen. Daß er nicht glaubt, bei den gegebenen Verhältnissen FDP-Politik machen zu können, hat er ja schon eingeräumt.
Neuwahlen ermöglicht die Verfassung des Freistaats Thüringen,
1. wenn 2/3 der Abgeordneten für Neuwahlen stimmen und
2. wenn die Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten scheitert.
Ersteres kann rechnerisch nur Zustandekommen, wenn alle außer einer Partei für die Auflösung stimmen. Es dürfte einfacher sein, eine einfache Mehrheit für eine Regierung zu finden als eine 2/3-Mehrheit für Neuwahlen. Außer eine Partei von RRG kooperiert in der Frage mit der AfD.
Letzteres liegt im Belieben Kemmerichs. Wenn er die Vertrauensfrage nicht stellen will, passiert das nicht. Das ist etwas anders als im GG und anderen Landesverfassungen. Edit: Das Mißtrauen kann nur ausgesprochen werden, wenn ein neuer Ministerpräsident gewählt wird (was in den gegenwärtigen Verhältnissen, also wenn die Linke und AfD sich nicht zusammentun wollen...), Mißtrauen ohne neuem Ministerpräsidenten läßt den alten im Amt, Art. 73. Insofern ist die kühne Kandidatur Kemmerichs womöglich sogar die einzige Chance, aus dem "hung parliament" herauszukommen, wenn man es denn so störend findet. Ich persönlich finde es nicht störend.
Ich hingegen vermute, daß der Druck auf Herrn Kemmerich, der geschlossen durch sämtliche Medien erzeugt werden wird und durch sämtliche Parteiführungen (mit Ausnahme natürlich jener Schwefligen), ein derartiges Maß annehmen wird, daß jegliche praktische politische Führung dadurch verunmöglicht wird. Gerade auch aus der FDP-Spitze dürfte es hier dazu kommen. Sollten die Liberalen standhaft bleiben und sich hinter den zweiten Ministerpräsidenten stellen, den die Partei je in diesem Amt sah, würde wohl die gesamte FDP per Guilt per Association als deckungsgleich mit der AfD erklärt werden; erwartbar ist auch, daß eine Kabinettsmitarbeit seitens der CDU kategorisch verweigert wird - solange, bis der Druck groß genug geworden ist, daß ein Rücktritt der einzige praktikable Weg scheint, um eine drohende kategorische Blockade über die nächsten Jahre abzuwenden. Wenn sich die FDP auf dieses Spiel einläßt, dürfte es ihren parlamentarischen Untergang beisegeln; auch die CDU dürfte ein Schauspiel unter dem Motto: "wir lassen so lange wählen, bis uns das Ergebnis genehm ist," jegliche Sympathie zumindest der Thüringer Wählerschaft kosten. Die Unwägbarkeit ist, daß niemand sagen kann, ob die Parteizentralen im Raumschiff Berlin solcher pragmatischen Kalkulation überhaupt noch zugänglich sind - oder ob die ideologische Verbohrtheit und der nachgerade manische Haß auf die Blaue Partei alles überdeckt. In diesem Fall würde sich Thüringen in ein paar Monaten als nächste, höhere Stufe im Niedergang dieses Staatswesens einreihen, der dieses Land seit Jahren fest im Griff hält.

Wir werden sehen.

*     *     *

(*) P.S. Anders als vor jetzt gut dreieinhalb Jahren, als an dieser Stelle, wieder alle Erwartungen der Experten und Buchmacher, im September 2016, der Wahlsieg Trumps als ein fait accompli verkündet wurde, handelt es sich diesmal bei der Prognose seiner Wiederwahl nicht um einen "Minority Report". Zwei Dinge haben in den letzten zwei Tagen, neben der absoluten Inferiorität der Kandidaten der Democrats und der wirtschaftlich einmaligen Erfolgsbilanz Trumps, das in Erz gegossen: das technologische Komplett-Versagen bei der Ermittlung der Ergebnisse der allerersten Vorwahlen im Bundesstaat Iowa (eine Partei, die seit drei Jahren um diesen wichtigen Termin weiß und keine Firma beauftragen kann, eine App zu programmieren, die diese Wählerstimmen korrekt übermitteln und auswerten kann, dürfte beim Wähler als eher nicht befähigt erscheinen, die führende Industrienation der Welt erfolgreich zu lenken). Und die zufällig nach der Wahl gefallene Äußerung des allerorten als Spitzenkandidaten gepushten Joe Biden "I think I'm going to survive Iowa..." - die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, die unweigerlich an die eines Blinden gemahnte, am Arm gelenkt durch eine junge Frau. Es mag schlicht ungerecht sein, aber solche verunglückten Auftritte prägen sich den Wählern ein, in der Wortwahl, im Gestus. So wie die Trotzanfälle der beiden Damen, von denen eingangs die Rede war.





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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.