19. Mai 2011

Anmerkungen zur Sprache (11): "Obama" statt "Osama" - Freud'sche Fehlleistungen? Psychoanalytische Deutungskunst und Linguistik (Teil 3)

Im ersten und im zweiten Teil habe ich Freuds Theorie der Fehlleistungen und die Methode beschrieben, mit der er ihren Ursachen auf die Spur zu kommen versucht. Die Theorie lautet, daß Fehlleistungen einer unterdrückten (nicht immer, aber doch oft in das, wie Freud es nennt, "Unbewußte verdrängten") Intention - einem "Gegenwillen" - geschuldet sind. Die Methode besteht darin, diese verborgene Intention durch freies Assoziieren zutage zu fördern.

Das Problem, das ich im zweiten Teil herausgearbeitet habe, besteht darin, daß die Methode sich überhaupt nicht dazu eignet, die Theorie zu prüfen; sie also zu bestätigen oder gegebenenfalls zu widerlegen.

Zwar ergibt sich aus freien Assoziationen, die der psychoanalytischen Grundregel folgen (nichts verschweigen, das einem einfällt) in der Tat ein Muster mit mannigfachen Querbezügen. Dieselben Motive kehren an verschiedenen Stellen des Assoziationsprozesses wieder; es entsteht ein zusammenhängendes Geflecht. Man hat, wenn man die Methode anwendet, den nachgerade zwingenden Eindruck, bestimmten seelischen Inhalten (Gedanken, Motiven oder "Komplexen") auf die Spur zu kommen.

Das weist darauf hin, daß die Assoziationen nicht zufällig erfolgen, sondern daß sie Zusammenhänge widerspiegeln; Zusammenhänge, die Freud im "seelischen Apparat", vor allem in dessen unbewußtem Bereich lokalisierte und als deren Grundlage wir heute - keineswegs im Gegensatz zu Freuds naturwissenschaftlichen Überzeugungen - die Stärke von Verbindungen (connections) innerhalb von neuronalen Netzen im Gehirn ansehen.

Dies besagt aber nichts darüber, ob diese Verbindungen irgendeine Rolle gespielt hatten, als das entstand, was Freud aufklären möchte - ein Symptom, ein Traum oder, bei unserem jetzigen Thema, eine Fehlleistung; beispielsweise ein Versprecher oder eine Erinnerungsstörung. Das ist so wenig der Fall, wie die Deutungen, die einem Probanden im Rorschach-Test einfallen, einst eine Rolle beim Zustandekommen der Kleckse spielten, die Hermann Rorschach durch das Verspritzen von Tinte und das Zusammenfalten des Papiers erzeugte.

Sie können sich das leicht an dem Beispiel klarmachen, das ich am Anfang des zweiten Teils für eine Traumdeutung gegeben habe. Den "Traum", den ich dort verwendet habe, hatte ich aus typischen Traummotiven willkürlich konstruiert; bei der "Deutung" folgte ich psychoanalytischen Klischees. Ich hätte jeden konstruierten, jeden von einem anderen Menschen berichteten Traum derart "deuten" können. Sie hätten denselben Traum ganz anders "gedeutet"; und beide "Deutungen" wären plausibel und in sich stimmig gewesen. Aber natürlich hätten nicht beide Muster von Assoziationen zugleich denselben Traum erzeugen können.



So verführerisch die Freud'sche Deutungskunst ist - bei der Aufklärung, der Mechanismen, die es bewirken, daß jemand statt "Osama" beispielsweise "Obama" sagt, bringen sie uns keinen Schritt weiter. Sie tun das so wenig, wie die Deutungen von Probanden etwas über die physikalischen Prozesse besagen, die bei der Entstehung der Rorschach-Kleckse am Werk gewesen waren.

Bedeutet das, daß solche Fehlleistungen einfach "zufällig" und nicht wissenschaftlich aufklärbar sind? Nein, diese pessimistische Folgerung wäre falsch. Wir müssen nur die Mechanismen statt bei Intentionen, im Unbewußten usw. vielmehr dort suchen, wo das jeweilige Verhalten entsteht. Im Fall von Versprechern also bei den Mechanismen der Sprachproduktion.

Damit, wie das Sprechen funktioniert, befassen sich Neurologen und Psychologen seit rund 150 Jahren. Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte der französische Mediziner Paul Broca das nach ihm benannte "Sprachzentrum" zwischen dem Stirnhirn und dem Schläfenlappen. Die Forschung, die damit begann, ist noch im vollen Gang; das Sprechen ist eine der komplexesten Leistungen des menschlichen Gehirns, und entsprechend zahlreich und komplex sind die Mechanismen, die an dieser Leistung beteiligt sind.

Zu den führenden heutigen Forschern auf diesem Gebiet gehört der Niederländer Willem J. M. Levelt, der am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik forscht; mit Sitz im holländischen Nijmegen. Wenn Sie sich über den Stand der Forschung zur Sprachproduktion informieren wollen, dann finden Sie hier (auf Englisch) eine allgemeinverständliche Zusammenfassung von Levelt, auf die ich mich im Folgenden im wesentlichen stütze.

Auch wenn die Modelle im einzelnen differieren, sind die meisten Forscher sich doch darin einig, daß die Sprachproduktion ein Prozeß ist, an dem viele, relativ selbständig arbeitende Module auf unterschiedlichen Ebenen zusammenarbeiten:

Es beginnt (beim freien Sprechen) auf der konzeptuellen Ebene; dort wird der Gedanke formuliert, der ausgesprochen werden soll. Auf einer weiteren Ebene werden die Wörter selegiert, die semantisch (in ihrer Bedeutung) und syntaktisch (in ihrer grammatikalischen Form) geeignet sind, den Gedanken wiederzugeben. Sind die Wörter festgelegt, müssen ihre phonologischen Eigenschaften abgerufen werden, also, umgangssprachlich gesagt, ihr Klang. Diese phonologische Wortform wird in Silben aufgeteilt, und für jede Silbe werden schließlich die Artikulationsbewegungen festgelegt, die zu ihrem Aussprechen erforderlich sind.

Im einzelnen ist das viel komplizierter, als es dieses einfache Schema erkennen läßt. Es können ja nicht einfach Wörter aneinandergereiht werden, sondern sie müssen in eine Sprachmelodie (Prosodie) eingebettet sein. Der beschriebene Prozeß umfaßt zeitliche Überlappungen, d.h. es wird schon das Wort N+1, N+2 usw. vorbereitet, während noch das Wort N artikuliert wird; ebenso überlappen die Artikulationsbewegungen für die einzelnen Laute sich zeitlich (Koartikulation).

Des weiteren gibt es Belege dafür, daß die Prozesse auf den einzelnen Ebenen nicht in einer starren Hierachie von oben nach unten ablaufen, sondern zeitlich parallel und in Wechselwirkungen miteinander. Welche außerordentliche Leistung das Gehirn dabei erbringt, erhellt daraus, daß eine richtige Artikulation eine Genauigkeit in der Größenordnung von wenigen Hundertstel Sekunden verlangt; eine zeitliche Veränderung um vielleicht 20 oder 30 Millisekunden reicht aus, um z.B. aus dem stimmlosen /t/ das stimmhafte /d/ zu machen.

Wie gelingt es dem Gehirn, diese außerordentliche Leistung zu erbringen, zu der allein der Mensch fähig ist? Im einzelnen wird an der Erforschung der Mechanismen, wie gesagt, noch gearbeitet; aber die allgemeinen Funktionsprinzipien scheinen heutzutage verstanden zu sein: Aktivierung breitet sich in den einzelnen Netzwerken dieses komplexen Systems aus. Dabei werden zunächst zahlreiche Einheiten aktiviert, die einander teils bahnen, teils hemmen, bis schließlich eine einzige Einheit aus dieser Verbindung von Kooperation und Wettstreit als der Sieger hervorgeht.

Wenn Sie einen gedanklichen Inhalt ausdrücken wollen - etwa eine schnelle Fortbewegung eines Menschen -, dann werden zunächst mehrere, einander bedeutungsähnliche Wörter in Ihrem Gehirn aktiviert - sagen wir "laufen", "rennen", "eilen". Eine dieser Alternativen setzt sich gegenüber den anderen durch. Ähnlich ist es auf den anderen Ebenen. Sie können zum Beispiel oft denselben Inhalt in der grammatischen Aktiv- oder Passivform ausdrücken; Sie können schnell oder langsam sprechen, ein Wort betonen, eine Dialektfärbung zulassen oder sie unterdrücken und so fort. Aber es kann zu einer Zeit nur eine dieser Varianten realisiert werden.

Auf allen diesen Ebenen passiert im Kern dasselbe: Es wird zunächst gewissermaßen unscharf und großräumig aktiviert und dann durch Bahnung und Hemmung eine Auswahl getroffen, bis eine einzige Einheit - ein Wort, eine Silbe, ein Laut auf der jeweiligen Ebene - sich durchgesetzt hat. Man kann sich das so vorstellen wie eine Schulklasse, in der auf eine Frage des Lehrers hin viele Schüler aufzeigen; der eine oder andere vielleicht mit dem Finger schnalzt oder laut ruft, und der Lehrer denjenigen aufruft, der sich am überzeugendsten gemeldet hat.



Wir können nun zum Entstehen von Sprechfehlern zurückkehren. Sie entsprechen dem Fall in unserem Beispiel, daß der Lehrer eigentlich die Schülerin Marie Mustermann aufrufen will, der Schüler Rudi Rauball aber dazwischenplärrt. Oder vielleicht rufen zwei Schüler durcheinander, so daß man ein Mischmasch aus dem vernimmt, was jeder loswerden möchte. Oder vielleicht sagt die Lehrerin, es solle erst Rudi Rauball und dann Marie Mustermann reden, aber Marie drängt sich vor. Es redet der Falsche, oder es reden zwei in einer falschen Reihenfolge.

Etwas Analoges kann beim Sprechen auf allen Ebenen passieren. Man vertut sich beispielsweise auf der semantischen Ebene, also bei der Wortbedeutung. Bei der neurologischen Störung, die nach dem erwähnten Paul Broca benannt ist - der Broca'schen Aphasie - ist das häufig. Man möchte etwa "Obst" sagen, sagt aber "Gemüse". Auch bei Gesunden kommt das vor - man verspricht sich und sagt beispielsweise "SPD" statt "FDP". Oder eben "Obama" statt "Osama".

Bei den geschilderten Prozessen der Sprachproduktion wurden gemäß dem erläuterten Modell zunächst beide Namen aktiviert; so wie in der Schulklasse mehrere Schüler aufzeigen. Und so, wie dort sich mitunter ein gar nicht aufgerufener Schüler gegen den Aufgerufenen durchsetzt, kommt es vor, daß das Wort "Obama" sich gegen "Osama" durchsetzt.

Warum passiert das gerade so, in diesem Beispielfall? Zum einen sind diese beiden Wörter in ihrer Bedeutung einander ähnlich. Beides sind Eigennamen; beide Namen bezeichnen eine Gestalt der gegenwärtigen geopolitischen Auseinandersetzung. Darüber hinaus hat man beide oft im selben Kontext gehört oder gelesen; es gab also, wie man das in der klassischen Assoziationspsychologie nannte, eine "raum-zeitliche Koinzidenz". In der Analogie der Schulklasse: Marie Mustermann und Rudi Rauball sitzen nah beieinander. Der Lehrer zeigt auf den einen, um ihn aufzurufen; aber der andere tut so, als sei er gemeint.

"Obama" setzt sich dabei deshalb gegen "Osama" durch und nicht umgekehrt, weil dies derjenige Name ist, den man häufiger gehört und gelesen hat und der deswegen im Wortspeicher ("internen Lexikon") stärker voraktiviert ist. Rudi Rauball setzt sich gegen Marie Mustermann durch, weil er lauter krakeelen kann.

Wer "Osama" sagen wollte, der hätte aber wahrscheinlich nicht versehentlich "Borussia Dortmund" gesagt; selbst wenn er ein Fan dieses Vereins ist und das betreffende Wort in seinem inneren Lexikon ständig stark aktiviert ist. Denn es fehlt die Bedeutungsähnlichkeit, und es fehlt noch etwas anderes: die Klangähnlichkeit und die Ähnlichkeit im Schriftbild. Dies sind weitere Faktoren, die es begünstigen, daß man "Obama" statt "Osama" sagt.

Auf allen Ebenen der Sprachproduktion kann sich etwas Falsches durchsetzen, sofern es dem Beabsichtigten ähnlich ist; und es tut das umso eher, je stärker es selbst durch vorausgehende Benutzung bereits voraktiviert ist. Man kann ein falsches, aber bedeutungsähnliches Wort wählen; der Fehler kann aufgrund von Klangähnlichkeit passieren. Trifft beides zusammen, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers. Versprecher sind insofern in der Tat "überdeterminiert", wie Freud es nannte (siehe den ersten Teil): Sie sind in der Regel mehreren Ursachen geschuldet, die gleichsinnig wirken.



Diese Ursachen sind nicht nur bei dem Wort selbst lokalisiert, das dem Fehler zum Opfer fällt. Von erheblichem Einfluß ist das, was zuvor gesagt wurde und auch das, was erst noch gesagt werden soll. Das zuvor Gesagte ist gewissermaßen noch nicht völlig verklungen; die ihm zugeordnete Aktivierung im Gehirn wirkt noch nach. Das, was erst noch gesagt werden soll, ist bereits in Vorbereitung und damit auch schon aktiviert (siehe oben: N+1 wird schon voraktiviert, während N noch gesprochen wird usw.). Das eine kann in Form eines Nachklangs (Perseveration) nachwirken, das andere vorweggenommen werden und dadurch einen Fehler verursachen (Antizipation).

Ein Beispiel für eine Perseveration ist ein Versprecher, den Freud erwähnt und auf eine unterdrückte Intention zurückführt, der aber hier seine einfache Erklärung findet. Ich habe ihn im ersten Teil genannt: "auf das Wohl des Chefs aufstoßen".

Für Antizipationen finden sich in Freuds "Psychopathologie des Alltagslebens" ebenfalls Beispiele (die Freud übrigens einer zeitgenössischen linguistischen Sammlung entnommen hat, dem Corpus von Mayer und Mehringer); beispielsweise möchte jemand aufsagen "Mir war auf der Brust so schwer", beginnt aber "Mir war auf der "Schwest ...".

Eine Antizipation nun liegt wohl auch bei "Obama" statt "Osama" vor. Der Sprecher wollte "Osama bin Laden" sagen; und als Antizipation geriet das b in das erste Wort, so daß Obama entstand.

Solche Antizipationen sind sehr häufig und haben oft den Charakter einer Vertauschung. Aus "Taschenmesser" wird dann beispielsweise "Tassenmescher", und - auch dieses Beispiel kann man Freuds Werk entnehmen - aus "Eiweißscheibchen" "Eischeißweibchen". Solche Vertauschungen werden als Spoonerisms bezeichnet, genannt nach einem Theologieprofessor aus dem 19. Jahrhundert, der für diese Art von Versprechern besonders anfällig war.



Warum begnügte sich Sigmund Freud sich nicht damit, Versprecher auf solche in der Sprachproduktion liegende Ursachen zurückzuführen?

Zum einen waren ihm die skizzierten Mechanismen der Sprachproduktion noch nicht bekannt, die sie aus heutiger Sicht befriedigend erklären.

Zum anderen waren Versprecher und überhaupt Fehlleistungen für Freud nur einer der vielen Bereiche, auf die er seine Theorie der Art und Weise anwenden wollte, wie der "Psychische Apparat" funktioniert. Die Idee, daß sich unbewußte Inhalte und Motive auf unser Verhalten auswirken, ohne daß wir das wollen, ja ohne daß wir es oft überhaupt merken, hatte er ja nicht anläßlich der Fehlleistungen ersonnen. Sie war aus seinem Bemühen heraus entstanden, neurotische Symptome zu erklären, hatte sich dann nach seiner Auffassung bei der Traumdeutung bewährt und war durch diese bestätigt worden.

Da lag es für Freud nahe, nun auch Fehlleistungen ins Visier zu nehmen. Für ihn war das eine Nebenarbeit, wie auch seine Untersuchung zu den psychischen Mechanismen des Witzes ("Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten"). Aber wie es nicht selten geschieht: Nicht für das, was er selbst für wichtig hielt, wird jemand berühmt und dem breiten Publikum geläufig, sondern für derart Nebensächliches. Der Fürst Pückler für das Eis, das er schätzte; Freud für seine Theorie der Fehlleistungen; so sehr sie auch durch die heutige Forschung überholt ist.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Abbildung: Vom Urheber in die Public Domain gestellt. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Mit Dank an energist.