8. Mai 2011

Anmerkungen zur Sprache (11): "Obama" statt "Osama" - Freud'sche Fehlleistungen? Psychoanalytische Deutungskunst und Linguistik (Teil 1)

Auch mir ist es passiert: Kurzzeitig stand in einem Artikel über den Tod Osama Bin Ladens an einer Stelle "Obama" statt "Osama". Ich war damit freilich nicht allein gewesen; sondern vielmehr nur Teilhaber an einer sozusagen weltweiten Verschreiberei und Versprecherei. Denn nicht nur unseren Regierungssprecher Seibert und "Spiegel-Online" hatte es erwischt, sondern in den USA beispielsweise Fox News, wo es der Journalist Geraldo Rivera war, der Obama für tot erklärt hatte.

Einer kanadischen TV-Sprecherin gelang der Versprecher gleich dreimal in einer einzigen Sendung. Einmal sagte sie, sofort nach seinem Amtsantritt habe Obama die CIA angewiesen, der Jagd auf Obama höchste Priorität einzuräumen.

Die Sache hat sogar schon einen Namen; sie heißt der Obama/Osama slip; ein slip of the tongue ist ein Versprecher. Hier finden Sie rund ein Dutzend dokumentierter Fälle; Seibert ist in diesem Corpus noch nicht einmal mitgezählt.

Aha, Freud'sche Fehlleistung, werden Sie - wie viele andere - sagen. Da haben wir's! Der heimliche, der vielleicht verdrängte Wunsch, den Präsidenten Obama loszuwerden, bricht sich Bahn in dem Verschreiber oder Versprecher. Ganz so, wie es der Altmeister Freud dargelegt hat; nicht nur in der "Psychopathologie des Alltagslebens (1901), sondern sehr ausführlich auch in den "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse", die er 1916 und 1917 in Wien hielt und die er dann als Buch herausbrachte.

Die ersten vier jener Vorlesungen sind nur diesem Thema gewidmet: den "Fehlleistungen". Freud möchte seine Hörer und Leser an die Psychoanalyse heranführen, indem er sie in ihrem Alltagsleben "abholt", wie man heute gern sagt. Nicht jeder ist ein Neurotiker; aber Versprecher, gelegentliche Erinnerungsstörungen, Fehlhandlungen - das kennen wir alle. Das interessiert uns also.

Freud erklärt uns, warum uns solche Fehlleistungen passieren; und zwar verführerisch einleuchtend. Er war nicht nur ein Meister der Sprache, sondern auch einer, der mit der Macht seiner Sprache - dieser plastischen, bilderreichen, zugleich einfachen und klugen Sprache - seine Zuhörer, seine Leser für seine Sache einzunehmen, ja sie zu faszinieren verstand.

Wenn jemand - das berühmteste Beispiel - eine Sache für eine Schweinerei hält und dann von ihr sagt, daß sie "zum Vorschwein gekommen" sei - wer wollte daran zweifeln, daß ein unterdrückter Gedanke sich den Weg in die Sprachäußerung geplant hat? Oder wer will bestreiten, daß es seinen tieferen, vertrackten und versteckten Sinn hat, wenn jemand sein Glas erhebt und bittet, auf das Wohl des Chefs "aufzustoßen"? Er möchte höflich sein; aber was er in Wahrheit von dem Mann hält, das bricht sich in dem Versprecher Bahn.

Überzeugend, nicht wahr? Und doch sollten wir Freud nicht allzu bereitwillig folgen, wenn er uns von Beispiel zu Beispiel für Fehlleistungen unseres Alltagslebens führt; und dabei immer tiefer hinein in die Untiefen jener betörenden Theorie des Seelenlebens, die er sich ausgedacht hatte.

1917 stand sie sozusagen im Rohbau, diese Theorie. Aber er hat dann noch gut fünfzehn Jahre unermüdlich an ihr gewerkelt, hier eine Wand eingezogen oder eingerissen, dort etwas verputzt oder Verputz abgeklopft; bis wenige Jahre vor seinem Tod. Was da alles seit 1917 Neues entstanden war, hat er in der 1932 erschienenen "Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" dargelegt; diesmal nur noch fiktive Vorlesungen, denn lehren konnte er damals schon nicht mehr.

Manches hat er gegenüber 1917 revidiert; aber nicht seine Traumtheorie, nicht seine Lehre von den Fehlleistungen. Das waren für ihn Säulen der Psychoanalyse; und vor allem mit der Theorie der Fehlleistungen ist er in unser Alltagsverständnis eingedrungen (seine Traumtheorie hingegen ist so kompliziert, daß sie weithin unbekannt geblieben ist).



Freuds Theorie der Fehlleistungen basiert, wie überhaupt sein Lehrgebäude, auf drei Voraussetzungen: Einer wissenschaftstheoretischen, einer psychologischen und einer methodischen.

Wissenschaftstheoretisch war Freud ein überzeugter Determinist. Für ihn war alles in der Welt nicht nur vollständig kausal determiniert, sondern er sah es auch als in der Macht der Wissenschaft liegend an, jedes Ereignis, jedes Phänomen lückenlos hinsichtlich ihrer Ursachen und der obwaltenden Gesetze aufzuklären.

Einsteins Bemerkung, daß Gott nicht würfelt, könnte auch von Freud stammen. Zufall ließen beide nicht gelten; beide dachten nicht in Wahrscheinlichkeiten. Wenn jemandem ein Versprecher - gerade dieser Versprecher - unterläuft, dann hat dieser Fehler aus Freuds Sicht also eine Ursache oder - wenn "überdeterminiert" - ein ganzes Bündel von Ursachen; und diese sind aufklärbar.

Seine psychologischen Grundüberzeugungen hat Freud in der Zeit des Ersten Weltkriegs in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt, deren wichtigster, "Das Unbewußte", 1915 erschien. Darin schlägt er vor, "seelische Vorgänge nach ihren dynamischen, ökonomischen und topischen Bedingungen zu beschreiben" - also als ein Gegeneinander von Kräften; sodann als das Schicksal von "Erregungsgrößen"; sowie drittens als lokalisiert an einem Ort im "seelischen Apparat" wie zum Beispiel dem Unbewußten (später dem "Es") oder dem Vorbewußten.

In unserem jetzigen Kontext ist der dynamische Aspekt wichtig: Versprecher sind nach Freud das Ergebnis eines dynamischen Geschehens. Der Intention, etwas zu sagen, wirkt ein "Gegenwille" entgegen, der etwas Anderes zum Inhalt hat. Er muß nicht unbedingt unbewußt sein, ist es aber oft. Jedenfalls ist er die Ursache dafür, daß wir nicht unserer bewußten Intention folgen; daß wir etwas sagen, was wir nicht sagen wollten.

Der Fehler ist determiniert; und zwar determiniert durch diese Tendenz, der wir als Sprecher nicht folgen wollen, die sich aber doch nicht völlig bändigen läßt. Determiniert ist er sei es durch einen bewußten, aber unterdrückten Gegenwillen, der uns einen Streich spielt; sei es durch unbewußte Inhalte, die sich nicht beherrschen lassen, eben weil wir uns ihrer nicht bewußt sind.

Wie nun kommt die Wissenschaft ihnen auf die Spur, diesen unbewußten Inhalten? Wie kann man das herausfinden, das doch unbewußt ist? Mit derjenigen Methode, die Freud als sein Schlüsselverfahren ansah: dem freien Assoziieren. Es diente ihm zur Deutung von Träumen, zur Aufklärung neurotischer Symptome, zum Wiedererinnern an die Kindheit; und mit seiner Hilfe spürte er auch den Ursachen für Versprecher und andere Fehlhandlungen nach.



Das freie Assoziieren hat Freud beileibe nicht erfunden. Er steht damit vielmehr in der langen Tradition der Assoziationspsychologie, die bis zu Aristoteles zurückreicht, die ihre Blüte im britischen Empirismus hatte (bei Hobbes und vor allem bei Locke und Hume) und in der immer wieder untersucht wurde, nach welchen Gesetzen unsere Einfälle aufeinander folgen; wie sie einander assoziativ hervorbringen, vor allem dann, wenn wir unsere Gedanken frei schweifen lassen.

Ähnlichkeit der Bedeutung spielt dabei eine Rolle, aber beispielsweise auch die raum-zeitliche Nähe, in der wir zwei Erfahrungen begegnet sind. Dergleichen verknüpft seelische Inhalte miteinander; und je enger sie verknüpft sind, umso eher ruft die eine Vorstellung die andere assoziativ hervor.

Freuds Idee, sein methodisches Grundpostulat war es nun, daß solch ein freies Assoziieren ins Unbewußte hineinführen würde; wenn auch auf oft verschlungen Wegen. In der psychonalytischen Therapie geht es zentral darum, daß Analytiker und Patient diese Wege konsequent gemeinsam gehen; so umständlich, so schwierig es auch manchmal sein mag.

Deshalb die "psychoanalytische Grundregel", die eiserne Vereinbarung, die der Analytiker am Beginn der Behandlung verlangt: Der Patient muß unbedingt "alles sagen, was ihm in den Sinn kommt, auch wenn er es für unrichtig, für nicht dazu gehörig, für unsinnig hält, vor allem auch dann, wenn es ihm unangenehm ist".

Man beginnt mit einer Vorstellung - einem Stück Trauminhalt, einem Versprecher, einer Erinnerungshemmung beispielsweise - und arbeitet sich von dort aus, Schritt für Schritt von Assoziation zu Assoziation gelangend, immer mehr ins Unbewußte hinein; genauer: Man befördert etwas von dessen Inhalten ins Bewußtsein. Oft ist dabei, meint Freud, ein "Widerstand" zu überwinden. Das ist die Stunde des Analytikers, der mit sanftem Druck darauf drängt, im Assoziieren nicht nachzulassen, nichts zu verbergen, die Grundregel zu befolgen. Bis alles aufgeklärt ist.

Bis also in der Analyse eines Patienten die Herkunft der Symptome aufgeklärt ist; aber auch: Bis wir verstanden haben, wie es zu einer Fehlhandlung, wie es zu einem Versprecher oder einem Verschreiber gekommen ist.

Aber bringt uns die psychoanalytische Methode wirklich einem Verständnis näher, oder ist das alles nur Humbug? Damit befasse ich mich im zweiten Teil.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Mit Dank an energist.