Freuds Methode des freien Assoziierens, die ich im ersten Teil beschrieben habe, ist nicht schwer anzuwenden. Sie können das gern einmal selbst versuchen, und Sie werden möglicherweise vom Ergebnis verblüfft sein.
Beginnen Sie mit einem frischen Traum, an den Sie sich lebhaft erinnern. Schreiben Sie ihn zunächst einmal auf, möglichst unmittelbar nach dem Aufwachen. Dann gehen Sie ihn durch, Element für Element.
Stellen Sie sich die einzelnen Elemente dieses Inhalts - Freud nennt ihn den "manifesten Trauminhalt" - möglichst lebhaft vor; also zum Beispiel: "Ich sitze am Schultisch in meinem alten Klassenzimmer, neben mir sitzt eine Mitschülerin. Vor uns liegt seltsamerweise ein Holzblock. Am Katheder steht der Lehrer. Sonst ist niemand im Zimmer". Assoziieren Sie jetzt zu diesen Elementen, und zwar lang und anhaltend. Das könnte zu diesem Traum ungefähr so gehen:
Sie können dann noch einen Schritt weitergehen, und mit Freud aus diesem Muster die "latenten Traumgedanken" destillieren. Also hier vielleicht: "Ich mache mir Sorgen um die Zukunft unseres Sohns und werfe meiner Frau vor, daß sie diese nicht ernst genug nimmt. Sie ist kalt gegenüber unserem Sohn, und sie ist auch kalt mir gegenüber im Bett".
Und Sie können dann Freud bei einem letzten Schritt folgen und das aufspüren, was nach seiner festen Überzeugung letztlich hinter jedem Traum steckt: Eine - hören und staunen Sie - Wunscherfüllung! Ja, auch ein solcher Traum voller Sorgen und Vorwürfe ist, dessen war sich Freud sicher, eine Wunscherfüllung.
Warum er das meinte, das kann man nicht in ein paar Worten erläutern; es hat im Kern etwas mit seinen Annahmen über das Funktionieren des Gehirns zu tun. Das darzulegen würde mich auch zu weit vom Thema wegführen. Wir sind ja bei den Fehlleistungen und Freuds Methode, ihnen mittels der Technik des freien Assoziierens auf die Spur zu kommen.
Fehler sind, so hatte ich es im ersten Teil beschrieben, nach Freud vollständig determiniert. Also kann man sie lückenlos aufklären; d.h. die Gedanken - bewußte, oft aber unbewußte - ermitteln, die hinter ihnen stecken. Das geschieht im Prinzip mit derselben Methode, die ich jetzt am Beispiel der Traumdeutung erläutert habe.
Hat man das erfolgreich absolviert, dann ist alles aufgeklärt. Lückenlose Aufklärung, das wollte Freud; bei den Neurosen, beim Traum, bei den Fehlhandlungen. Den Schleier nicht nur ein wenig zur Seite schieben, sondern ihn zerreißen. Alles sollte ans Licht kommen, nichts verborgen bleiben.
Die Methode des freien Assoziierens sollte den Blick hinter den Spiegel ermöglichen. Freud war ein großer Spurenleser. Das Kleinste - ein Versprecher, ein Verleser, ein Traumelement, ein Einfall - war für ihn eine Spur, die zu Bedeutendem führen würde; beim Neurotiker am Ende zur Aufklärung der Ursachen seines Leidens, und damit zu dessen Heilung oder doch Linderung.
Im Spurenlesen glich Freud anderen Großen seines Jahrhunderts, die freilich in der Belletristik beheimatet waren, nicht der Wissenschaft: Edgar Allan Poe, dessen C. Alphonse Dupin der erste Meisterdetektiv der Literaturgeschichte war; Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes auf Dupins Spuren wandeln ließ; und - auf seine Art auch ein Großer - Karl May.
Noch ein paar niedergedrückte Grashalme erzählten Winnetou und Old Shatterhand, diesen Meistern des Spurenlesens, eine ganze Geschichte; so wie Dupin und Holmes ihre Fälle aufklärten, indem sie scheinbar Nebensächliches nicht als zufällig ansahen, sondern ihm ihren ganzen Ernst, ihre volle Aufmerksamkeit widmeten.
Zu den Kunststücken von Sherlock Holmes gehörte es, einem fremden Besucher allerlei auf den Kopf zuzusagen, das dieser ihm noch gar nicht mitgeteilt hatte. Er beachtete eben das Kleinste und zog seine Schlüsse. In "A case of identity" beispielsweise fragte er die gerade eben eingetretene, ihm bis dahin unbekannte Mary Sutherland, ob sie es mit ihrer Kurzsichtigkeit nicht anstrengend finde, so viel Schreibmaschine zu schreiben. Er hatte eine Abschabung an ihrem Ärmel bemerkt, dort, wo die Arme beim Tippen aufliegen; sowie den Abdruck eines Kneifers an ihrer Nase.
Das ist auch Freuds Prinzip: Nichts ist so klein, nichts so nebensächlich, daß es nicht wert wäre, bemerkt und interpretiert zu werden. Beispielsweise bei den Fehlleistungen; bei den Versprechern.
Wenn Sie Freud nicht gelesen haben, dann machen Sie sich möglicherweise keine Vorstellung davon, wie weit er das treibt. Hier ist ein Beispiel aus der "Psychopathologie des Alltagslebens"; kein Versprecher in diesem Fall, sondern ein vergessenes Wort:
Freud schildert eine Unterhaltung mit einem Reisegenossen - ich nenne ihn im Folgenden X -, der Vergil zitieren möchte; nämlich dessen Vers exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor (Möge dereinst aus unseren Gebeinen jemand als Rächer hervorgehen). Dem Betreffenden fällt aber das Zitat nicht vollständig ein; es fehlt das Wort aliquis (jemand). Freud veranstaltet nun mit seinem Reisegenossen eine Konversation gemäß der psychoanalytischen Grundregel. Er läßt ihn assoziieren und immer weiter assoziieren, ohne etwas zu verschweigen.
Dem Reisegenossen fällt es ein, aliquis in a liquis zu zerlegen. Zu liquis fällt ihm Reliquien - Liquidation - Flüssigkeit - Fluid ein. Zu Reliquien wiederum fällt im Simon von Trient ein, dessen Reliquien er zwei Jahre zuvor gesehen hatte; von dort wandern die Assoziationen zu Blutschuld; zur Blutschuld zumal am Tod des Heilands, die den Juden zugeschrieben wird (X ist Jude).
Von den Reliquien des Heiligen Simon geht es weiter zum Heiligen Augustinus und was dieser Negatives über Frauen geschrieben hat; dann zum Heiligen Januarius (San Gennaro) mit seinem Blutwunder in Neapel. X erinnert sich an eine Meldung, der zufolge einmal dieses Blutwunder ausgeblieben war; und kein anderer als ein republikanischer General - ein Franzose oder vielleicht auch Garibaldi, vermutet X - habe bei der Geistlichkeit angemahnt, das Wunder doch bitte geschehen zu lassen, weil es sonst zur Aufruhr kommen könne.
Vergessen Sie nicht, lieber Leser: Wir sind immer noch bei dem schlichten Sachverhalt, daß X beim Zitieren Vergils nicht auf das Wort "aliquis" gekommen war.
Beim Blutwunder angekommen, stockt X. Widerstand also. Freud drängt, und X rückt mit seinem Einfall heraus, den er erst nicht hatte preisgeben wollen: "Also ich habe plötzlich an eine Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte, die uns beiden recht unangenehm wäre".
Freud, ganz Alphonse Dupin oder Sherlock Holmes, sagt X auf den Kopf zu, um welche Nachricht es gehe: Daß ihre Periode ausgeblieben sei. Denn:
Das im Zitat ausgelassene Wort aliquis war der Startpunkt für diese Kette von Assoziationen gewesen. Freud folgert, daß dieses Geflecht von Assoziationen - dort allerdings im Unbewußten - auch die Ursache für die Störung des Gedächtnisses gewesen war.
Das ist sein methodisches Axiom, und dieses muß man verstanden haben, um Freuds Methode zu beurteilen. Er nimmt an, daß das, was der Patient, der Träumer, in diesem Fall der Reisegenosse X nachträglich an Assoziationen produziert, auf das verweist, was vor dem Zustandekommen des Symptoms, des Traums, hier der Erinnerungslücke, an Gedanken unbewußt vorhanden gewesen war. Was vorhanden gewesen war und was dazu geführt hatte, daß gerade dieses Symptom entstand, daß gerade dieser Traum geträumt wurde, daß just diese Gedächtnislücke sich auftat.
Ohne diese Grundannahme ist Freuds Verfahren nichts wert. Es ist jedenfalls nichts wert, was die Aufklärung von Ursachen angeht. Für die Therapie mag es unabhängig davon hilfreich sein, wenn ein Patient sich seinen Assoziationen hingibt und dabei vielleicht etwas über sein Seelenleben erfährt und dem Therapeuten enthüllt. Ob damit das Zustandekommen eines Traum erklärt, ob die Verursachung eines Versprechers oder einer Gedächtnisstörung aufgeklärt ist - das ist aber eine ganz andere Frage.
Die Psychoanalyse mag therapeutisch erfolgreich sein; ob sie es ist, das ist umstritten. Aber der Therapieerfolg sagt nichts darüber aus, ob Freuds Grundannahme stimmt, daß freies Assoziieren zu den Ursachen der Symptome führt. Ebenso sagt der Umstand, daß der Reisegenosse X zu seiner Gedächtnislücke ein ganzes Geflecht miteinander verknüpfter Assoziationen produzieren konnte, absolut nichts darüber aus, ob diese Inhalte und ihre Verknüpfungen beim Zustandekommen der kleinen Erinnerungsstörung irgendeine Rolle gespielt hatten.
Es ist somit offen, ob derartige Fehlleistungen überhaupt irgendeinen "Sinn" haben. Das gilt für die Gedächtnislücke von X ebenso wie für "Obama" statt "Osama". Es handelt sich hier um Fehler beim Sprechen oder Schreiben. Man hat falsch artikuliert, hat falsch getippt. Es gab eine kleine Störung bei der Sprachproduktion. Daß mehr gestört war als Mechanismen der Sprachproduktion, wird durch Analysen wie diejenige, die Freud mit seinem Reisegenossen vorgenommen hat, nicht bewiesen; es wird noch nicht einmal wahrscheinlich gemacht.
Wenn man das verstanden hat, dann stellen sich zwei Fragen.
Zum einen: Wie konnte Freud, der doch nicht nur ein eminent intelligenter Mann war, sondern auch in seiner voranalytischen Zeit ein glänzender Naturwissenschaftler gewesen war, seine Theorie auf eine derart fragwürdige methodische Basis stellen?
Und auf einer ganz anderen Ebene: Wenn Versprecher oder Verschreiber wie "Obama" statt "Osama" keinen geheimen "Sinn" haben - sind sie dann also rein zufällig? Oder kann, wenn sie denn auf der Ebene der Sprachproduktion angesiedelt sind, die Linguistik etwas zu ihrem Verständnis beitragen?
Mit der ersten dieser beiden Fragen werde ich mich in einer anderen Serie befassen. Ich hatte sie vor Jahren begonnen; sie war damals aber nicht über die erste Folge hinausgelangt: Anmerkungen zu Sigmund Freud (1): Freud, Marx, Einstein; ZR vom 11. 6. 2008. Das wird demnächst fortgesetzt werden.
Der zweiten Frage - wenn hinter Fehlleistungen kein "Sinn" steckt, wie kommen sie dann zustande und was sagt dazu die Linguistik? - gehe ich im dritten Teil nach.
Beginnen Sie mit einem frischen Traum, an den Sie sich lebhaft erinnern. Schreiben Sie ihn zunächst einmal auf, möglichst unmittelbar nach dem Aufwachen. Dann gehen Sie ihn durch, Element für Element.
Stellen Sie sich die einzelnen Elemente dieses Inhalts - Freud nennt ihn den "manifesten Trauminhalt" - möglichst lebhaft vor; also zum Beispiel: "Ich sitze am Schultisch in meinem alten Klassenzimmer, neben mir sitzt eine Mitschülerin. Vor uns liegt seltsamerweise ein Holzblock. Am Katheder steht der Lehrer. Sonst ist niemand im Zimmer". Assoziieren Sie jetzt zu diesen Elementen, und zwar lang und anhaltend. Das könnte zu diesem Traum ungefähr so gehen:
"Klassenzimmer" - gestern habe ich im TV einen Film gesehen, der in einer Schule spielte. Sie erinnerte mich an meine alte Schule. Ich habe an diese keine guten Erinnerungen. In den Traum war ich allein mit dem Lehrer und der Mitschülerin im Klassenzimmer. Dazu fällt mir ein, daß ich mich in der Klasse immer allein gefühlt habe. Der Lehrer war ein richtiger Pauker. Zu "Pauke" fällt mir ein, daß ich gestern meiner Frau bei einem kleinen Ehestreit sagte: "Hau doch nicht gleich so auf die Pauke". Es ging dabei um Schulschwierigkeiten unseres Sohnes. Ich mache mir Sorgen um seine Zukunft, aber sie blockt das ab.Und so fort. Wenn Sie das für jedes Element des Traums ausführlich und beharrlich gemacht haben, dann werden Sie schließlich nicht einfach eine Folge von Assoziationen vor sich haben, sondern ein Muster; so etwas wie einen schön gewirkten Gobelin. Bestimmte Themen - hier zum Beispiel Schule, Erotik, Eheprobleme, Zukunftsangst - kommen immer wieder vor. Zwischen den Traumelementen entfaltet sich ein Geflecht von Bezügen.
In die Mitschülerin in dem Traum war ich damals verknallt. Sie hat meine Avancen nicht abgeblockt, sondern sie im Gegenteil ermuntert. Zu "Blocken" fällt mir ein, daß wir einen gemeinsamen Papierblock hatten, auf den mal der eine, mal der andere etwas Anzügliches schrieb, und das schoben wir dann heimlich auf unserem gemeinsamem Tisch hin und her. Daher wahrscheinlich der Holzblock. Zu "Tisch" fällt mir "Trennung von Tisch und Bett" ein; und das "hin und her" weckt sexuelle Assoziationen.
Sie können dann noch einen Schritt weitergehen, und mit Freud aus diesem Muster die "latenten Traumgedanken" destillieren. Also hier vielleicht: "Ich mache mir Sorgen um die Zukunft unseres Sohns und werfe meiner Frau vor, daß sie diese nicht ernst genug nimmt. Sie ist kalt gegenüber unserem Sohn, und sie ist auch kalt mir gegenüber im Bett".
Und Sie können dann Freud bei einem letzten Schritt folgen und das aufspüren, was nach seiner festen Überzeugung letztlich hinter jedem Traum steckt: Eine - hören und staunen Sie - Wunscherfüllung! Ja, auch ein solcher Traum voller Sorgen und Vorwürfe ist, dessen war sich Freud sicher, eine Wunscherfüllung.
Warum er das meinte, das kann man nicht in ein paar Worten erläutern; es hat im Kern etwas mit seinen Annahmen über das Funktionieren des Gehirns zu tun. Das darzulegen würde mich auch zu weit vom Thema wegführen. Wir sind ja bei den Fehlleistungen und Freuds Methode, ihnen mittels der Technik des freien Assoziierens auf die Spur zu kommen.
Fehler sind, so hatte ich es im ersten Teil beschrieben, nach Freud vollständig determiniert. Also kann man sie lückenlos aufklären; d.h. die Gedanken - bewußte, oft aber unbewußte - ermitteln, die hinter ihnen stecken. Das geschieht im Prinzip mit derselben Methode, die ich jetzt am Beispiel der Traumdeutung erläutert habe.
Hat man das erfolgreich absolviert, dann ist alles aufgeklärt. Lückenlose Aufklärung, das wollte Freud; bei den Neurosen, beim Traum, bei den Fehlhandlungen. Den Schleier nicht nur ein wenig zur Seite schieben, sondern ihn zerreißen. Alles sollte ans Licht kommen, nichts verborgen bleiben.
Die Methode des freien Assoziierens sollte den Blick hinter den Spiegel ermöglichen. Freud war ein großer Spurenleser. Das Kleinste - ein Versprecher, ein Verleser, ein Traumelement, ein Einfall - war für ihn eine Spur, die zu Bedeutendem führen würde; beim Neurotiker am Ende zur Aufklärung der Ursachen seines Leidens, und damit zu dessen Heilung oder doch Linderung.
Im Spurenlesen glich Freud anderen Großen seines Jahrhunderts, die freilich in der Belletristik beheimatet waren, nicht der Wissenschaft: Edgar Allan Poe, dessen C. Alphonse Dupin der erste Meisterdetektiv der Literaturgeschichte war; Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes auf Dupins Spuren wandeln ließ; und - auf seine Art auch ein Großer - Karl May.
Noch ein paar niedergedrückte Grashalme erzählten Winnetou und Old Shatterhand, diesen Meistern des Spurenlesens, eine ganze Geschichte; so wie Dupin und Holmes ihre Fälle aufklärten, indem sie scheinbar Nebensächliches nicht als zufällig ansahen, sondern ihm ihren ganzen Ernst, ihre volle Aufmerksamkeit widmeten.
Zu den Kunststücken von Sherlock Holmes gehörte es, einem fremden Besucher allerlei auf den Kopf zuzusagen, das dieser ihm noch gar nicht mitgeteilt hatte. Er beachtete eben das Kleinste und zog seine Schlüsse. In "A case of identity" beispielsweise fragte er die gerade eben eingetretene, ihm bis dahin unbekannte Mary Sutherland, ob sie es mit ihrer Kurzsichtigkeit nicht anstrengend finde, so viel Schreibmaschine zu schreiben. Er hatte eine Abschabung an ihrem Ärmel bemerkt, dort, wo die Arme beim Tippen aufliegen; sowie den Abdruck eines Kneifers an ihrer Nase.
Das ist auch Freuds Prinzip: Nichts ist so klein, nichts so nebensächlich, daß es nicht wert wäre, bemerkt und interpretiert zu werden. Beispielsweise bei den Fehlleistungen; bei den Versprechern.
Wenn Sie Freud nicht gelesen haben, dann machen Sie sich möglicherweise keine Vorstellung davon, wie weit er das treibt. Hier ist ein Beispiel aus der "Psychopathologie des Alltagslebens"; kein Versprecher in diesem Fall, sondern ein vergessenes Wort:
Freud schildert eine Unterhaltung mit einem Reisegenossen - ich nenne ihn im Folgenden X -, der Vergil zitieren möchte; nämlich dessen Vers exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor (Möge dereinst aus unseren Gebeinen jemand als Rächer hervorgehen). Dem Betreffenden fällt aber das Zitat nicht vollständig ein; es fehlt das Wort aliquis (jemand). Freud veranstaltet nun mit seinem Reisegenossen eine Konversation gemäß der psychoanalytischen Grundregel. Er läßt ihn assoziieren und immer weiter assoziieren, ohne etwas zu verschweigen.
Dem Reisegenossen fällt es ein, aliquis in a liquis zu zerlegen. Zu liquis fällt ihm Reliquien - Liquidation - Flüssigkeit - Fluid ein. Zu Reliquien wiederum fällt im Simon von Trient ein, dessen Reliquien er zwei Jahre zuvor gesehen hatte; von dort wandern die Assoziationen zu Blutschuld; zur Blutschuld zumal am Tod des Heilands, die den Juden zugeschrieben wird (X ist Jude).
Von den Reliquien des Heiligen Simon geht es weiter zum Heiligen Augustinus und was dieser Negatives über Frauen geschrieben hat; dann zum Heiligen Januarius (San Gennaro) mit seinem Blutwunder in Neapel. X erinnert sich an eine Meldung, der zufolge einmal dieses Blutwunder ausgeblieben war; und kein anderer als ein republikanischer General - ein Franzose oder vielleicht auch Garibaldi, vermutet X - habe bei der Geistlichkeit angemahnt, das Wunder doch bitte geschehen zu lassen, weil es sonst zur Aufruhr kommen könne.
Vergessen Sie nicht, lieber Leser: Wir sind immer noch bei dem schlichten Sachverhalt, daß X beim Zitieren Vergils nicht auf das Wort "aliquis" gekommen war.
Beim Blutwunder angekommen, stockt X. Widerstand also. Freud drängt, und X rückt mit seinem Einfall heraus, den er erst nicht hatte preisgeben wollen: "Also ich habe plötzlich an eine Dame gedacht, von der ich leicht eine Nachricht bekommen könnte, die uns beiden recht unangenehm wäre".
Freud, ganz Alphonse Dupin oder Sherlock Holmes, sagt X auf den Kopf zu, um welche Nachricht es gehe: Daß ihre Periode ausgeblieben sei. Denn:
Denken Sie an die Kalenderheiligen, an das Flüssigwerden des Blutes zu einem bestimmten Tage, den Aufruhr, wenn das Ereignis nicht eintritt, die deutliche Drohung, dass das Wunder vor sich gehen muss, sonst .. Sie haben ja das Wunder des heiligen Januarius zu einer prächtigen Anspielung auf die Periode der Frau verarbeitet.Keine Frage. Denn was X auf Freuds Anregung hin gemacht hat, ist ja nichts anderes, als seinen Einfällen zu folgen. Daß diese miteinander assoziativ verknüpft sind; auf vielfältige Weise miteinander verbunden, mag gut der Fall sein. Aber was hat das damit zu tun, daß X sich nicht an das Wort "aliquis" erinnern konnte?
"Ohne dass ich es gewusst hätte. Und Sie meinen wirklich, wegen dieser ängstlichen Erwartung hätte ich das Wörtchen »aliquis« nicht reproduzieren können?"
Das scheint mir unzweifelhaft. Erinnern Sie sich doch an Ihre Zerlegung in a–liquis und an die Assoziationen: Reliquien, Liquidation, Flüssigkeit. Soll ich noch den als Kind hingeopferten heiligen Simon, auf den Sie von den Reliquien her kamen, in den Zusammenhang einflechten?
"Tun Sie das lieber nicht. Ich hoffe, Sie nehmen diese Gedanken, wenn ich sie wirklich gehabt habe, nicht für Ernst. Ich will Ihnen dafür gestehen, dass die Dame eine Italienerin ist, in deren Gesellschaft ich auch Neapel besucht habe. Kann das aber nicht alles Zufall sein?"
Ich muss es Ihrer eigenen Beurteilung überlassen, ob Sie sich alle diese Zusammenhänge durch die Annahme eines Zufalls aufklären können. Ich sage Ihnen aber, jeder ähnliche Fall, den Sie analysieren wollen, wird Sie auf ebenso merkwürdige "Zufälle" führen.
Das im Zitat ausgelassene Wort aliquis war der Startpunkt für diese Kette von Assoziationen gewesen. Freud folgert, daß dieses Geflecht von Assoziationen - dort allerdings im Unbewußten - auch die Ursache für die Störung des Gedächtnisses gewesen war.
Das ist sein methodisches Axiom, und dieses muß man verstanden haben, um Freuds Methode zu beurteilen. Er nimmt an, daß das, was der Patient, der Träumer, in diesem Fall der Reisegenosse X nachträglich an Assoziationen produziert, auf das verweist, was vor dem Zustandekommen des Symptoms, des Traums, hier der Erinnerungslücke, an Gedanken unbewußt vorhanden gewesen war. Was vorhanden gewesen war und was dazu geführt hatte, daß gerade dieses Symptom entstand, daß gerade dieser Traum geträumt wurde, daß just diese Gedächtnislücke sich auftat.
Ohne diese Grundannahme ist Freuds Verfahren nichts wert. Es ist jedenfalls nichts wert, was die Aufklärung von Ursachen angeht. Für die Therapie mag es unabhängig davon hilfreich sein, wenn ein Patient sich seinen Assoziationen hingibt und dabei vielleicht etwas über sein Seelenleben erfährt und dem Therapeuten enthüllt. Ob damit das Zustandekommen eines Traum erklärt, ob die Verursachung eines Versprechers oder einer Gedächtnisstörung aufgeklärt ist - das ist aber eine ganz andere Frage.
Die Psychoanalyse mag therapeutisch erfolgreich sein; ob sie es ist, das ist umstritten. Aber der Therapieerfolg sagt nichts darüber aus, ob Freuds Grundannahme stimmt, daß freies Assoziieren zu den Ursachen der Symptome führt. Ebenso sagt der Umstand, daß der Reisegenosse X zu seiner Gedächtnislücke ein ganzes Geflecht miteinander verknüpfter Assoziationen produzieren konnte, absolut nichts darüber aus, ob diese Inhalte und ihre Verknüpfungen beim Zustandekommen der kleinen Erinnerungsstörung irgendeine Rolle gespielt hatten.
Es ist somit offen, ob derartige Fehlleistungen überhaupt irgendeinen "Sinn" haben. Das gilt für die Gedächtnislücke von X ebenso wie für "Obama" statt "Osama". Es handelt sich hier um Fehler beim Sprechen oder Schreiben. Man hat falsch artikuliert, hat falsch getippt. Es gab eine kleine Störung bei der Sprachproduktion. Daß mehr gestört war als Mechanismen der Sprachproduktion, wird durch Analysen wie diejenige, die Freud mit seinem Reisegenossen vorgenommen hat, nicht bewiesen; es wird noch nicht einmal wahrscheinlich gemacht.
Wenn man das verstanden hat, dann stellen sich zwei Fragen.
Zum einen: Wie konnte Freud, der doch nicht nur ein eminent intelligenter Mann war, sondern auch in seiner voranalytischen Zeit ein glänzender Naturwissenschaftler gewesen war, seine Theorie auf eine derart fragwürdige methodische Basis stellen?
Und auf einer ganz anderen Ebene: Wenn Versprecher oder Verschreiber wie "Obama" statt "Osama" keinen geheimen "Sinn" haben - sind sie dann also rein zufällig? Oder kann, wenn sie denn auf der Ebene der Sprachproduktion angesiedelt sind, die Linguistik etwas zu ihrem Verständnis beitragen?
Mit der ersten dieser beiden Fragen werde ich mich in einer anderen Serie befassen. Ich hatte sie vor Jahren begonnen; sie war damals aber nicht über die erste Folge hinausgelangt: Anmerkungen zu Sigmund Freud (1): Freud, Marx, Einstein; ZR vom 11. 6. 2008. Das wird demnächst fortgesetzt werden.
Der zweiten Frage - wenn hinter Fehlleistungen kein "Sinn" steckt, wie kommen sie dann zustande und was sagt dazu die Linguistik? - gehe ich im dritten Teil nach.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Mit Dank an energist.