10. Mai 2007

Randbemerkung: Estland und der russische Kolonialismus

Die FAZ hat heute einen ausgezeichneten Artikel von Siegfried Thielbeer, der aus Tallinn über die aktuellen Vorgänge in Estland und ihren historischen Hintergrund berichtet. Das veranlaßt mich zu dieser Randbemerkung.

In den Jahren nach 1989 ging nicht nur die Herrschaft des Kommunismus in Osteuropa zu Ende, sondern es zerbrach auch das letzte der großen Kolonialreiche.

Rußland war eine Kolonialmacht gewesen wie Frankreich, wie England, wie die Türkei und wie - verspätet und in vergleichsweise bescheidenem Umfang - Deutschland. Die Besonderheit des türkischen und eben auch des russischen Kolonialreichs war nur, daß die Kolonien nicht in Übersee lagen, sondern sich um das Mutterland herum gruppierten.

Dadurch war weniger offensichtlich, daß es sich um Kolonialreiche handelte; aber das war ja nur eine geographische Besonderheit. Das türkische Kolonialreich wurde folglich nach der Niederlage von 1918 ebenso zerschlagen wie das deutsche; wie die deutschen Kolonien gerieten die türkischen teilweise unter Mandatsverwaltung.



Anders als die Türkei gehörte Rußland - in gewisser Weise - zu den Siegern des Ersten Weltkriegs. Trotz des Friedens von Brest-Litowsk: Das Sowjetreich setzte auch in dieser Hinsicht die Tradition des Zarenreichs nahtlos fort. Die Kommunisten dachten nicht daran, das zaristische Kolonialreich freiwillig aufzugeben. Die Kolonien wurden nur (so, wie auch die des Osmanischen Reichs "Provinzen" gewesen waren) in Sowjetrepubliken, Territorien usw. umbenannt .

Es sei denn, sie erkämpften ihre Freiheit gegen die Rote Armee, wie Estland. Estland war Teil des zaristischen Kolonialreichs gewesen und wie andere Kolonien Gegenstand heftiger Russifizierungsversuche. 1918 erklärte es sich für selbständig, mußte seine Freiheit aber gegen die Rote Armee in einem nationalen Befreiungskrieg erkämpfen.

Freilich dauerte die Freiheit nicht lange: Als Hitler und Stalin sich 1939 verständigt hatten, gemeinsam in Polen und im Baltikum einzufallen und den Raub zu teilen, wurden die baltischen Staaten wieder russische Kolonien.



Die Russen hausten in diesen wiedergewonnenen Kolonien wie die schlimmsten Kolonialherren des 19. Jahrhunderts.

Große Teile der Intelligenz des Landes wurden ermordet, rund 100 000 Esten zwangsweise für die Rote Armee rekrutiert - rund zehn Prozent der gesamten Bevölkerung.

Fast das gesamte estnische Offizierscorps wurde von den Bolschewiken ermordet, Zehntausende zu Zwangsarbeit verurteilt.

Die Zahl der Opfer der Sowjet-Okkupation allein zwischen 1940 und 1945 wird auf 75 000 geschätzt.

Russen - vor allem aus der Ukraine - wurden nach Estland deportiert und dort zwangsangesiedelt.

Wie schon die Zaren suchten die Sowjets die estnische Sprache und Kultur zu vernichten.



Wenn ich Ähnliches darüber schriebe, wie die Franzosen in Algerien, wie die Briten in Südafrika, wie die Deutschen in Namibia mit der einheimischen Bevölkerung verfahren sind, dann würde der Leser zu Recht sagen: Aber das ist doch allgemein bekannt.

Die russische, von den Zaren ebenso wie von den Sowjets betriebene brutale Kolonialpolitik ist dagegen wenig bekannt; da sind vielleicht einige Informationen nicht überflüssig.

Und nun hatten also die Kolonisatoren ein Siegesdenkmal in der Hauptstadt ihrer vorerst verlorenen Kolonie hinterlassen. Diese verhielt sich so großzügig wie kaum eine befreite Kolonie - das Denkmal blieb zuerst stehen und ist jetzt dorthin versetzt worden, wo es hingehört, wenn man es als Gefallenen- und nicht als Siegesdenkmal versteht: Auf einen Soldatenfriedhof.

Und das veranlaßt den Kreml, Zeter und Mordio zu rufen, veranlaßt Putin gar, sich bei der EU-Präsidentschaft zu beschweren.

Und die von ihm kontrollierte Duma läßt er fordern, die diplomatischen Beziehungen zu Estland abzubrechen und einen Handelsboykott zu prüfen. Die vom Kreml gesteuerte Jugendorganisation droht gar, die lettische Botschaft in die Luft zu sprengen.

Weil ein Denkmal für Gefallene auf einen Gefallenenfriedhof gebracht wurde.

Grotesk, nicht wahr? Grotesk allerdings auch, daß die neokolonialistischen Töne aus Moskau im linken Spektrum unserer Politiker durchaus auf Verständnis stoßen.

Die ja sonst eher gegen den Neokolonialismus eingestellt sind.



Weitere Informationen zur Geschichte und Gegenwart Estlands findet man u.a. in dem eingangs verlinkten aktuellen Artikel in der FAZ, hier und hier.