6. März 2009

Warum versuchte Michael Gorbatschow die DDR nicht mit der Roten Armee zu retten? Über ein denkwürdiges Telefonat des SED-Vorsitzenden Gysi

Bevor Obama kam, war vermutlich kein ausländischer Staatsmann unserer Zeit bei den Deutschen so beliebt wie Michael Gorbatschow. Hatte er uns doch die Wiedervereinigung ermöglicht.

Ja, das hat er. Aber warum hat er dazu sein Plazet gegeben? Warum hat die UdSSR so wenig getan, um die DDR, ihren treuesten Vasallen und den vorgeschobenen Posten des Warschauer Pakts, vor dem Untergang zu retten? Und wie sah eigentlich die Spitze der SED damals die Lage, Ende 1989?



Unmittelbar nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der SED führte Gregor Gysi am 10. Dezember 1989 ein denkwürdiges Gespräch mit Raffael Fjodorow, dem stellvertretenden Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU.

Darin ging es um die Lage in der DDR und darum, was die SED in dieser für sie immer bedrohlicher werdenden Situation tun könne. Insbesondere ging es um die Möglichkeit einer Wiedervereinigung, von den Gesprächspartnern als "Revision der Grenze" bezeichnet. Dazu das Protokoll des Gesprächs:
Weiterhin äußerte Gregor Gysi seine Überzeugung, daß bei einer Revision der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten alle Grenzen in Europa ins Wackeln kommen können. Das sei eine große Gefahr für die Stabilität auf dem europäischen Kontinent. Man könne und müsse davon ausgehen, daß das deutsche Monopolkapital nicht an der Oder-Neiße-Grenze haltmachen werde.
Nachdem Gysi dergestalt gegen eine Wiedervereinigung Stellung genommen hatte, kam er auf den Knackpunkt zu sprechen:
Was die Verwirklichung des Prinzips der Nicht­ein­mi­schung von seiten der KPdSU anbetreffe, so habe das seine zwei Seiten, eine gute und eine weniger gute. Die KPdSU und die UdSSR haben seinerzeit die SED und die DDR in die Selbständigkeit entlassen, und das habe zur Krise geführt.
Es folgte eine Kritik Fjodorows an der Politik Honeckers, den Gysi seinerseits vehement verteidigte; dieser hätte sich "Achtung und Anerkennung mit seiner Haltung zur Fortsetzung des politischen Dialoges in Europa und der Welt erworben". Und dann stellte der Vorsitzende der SED Gysi eine "offene Frage":
Auf die offene Frage Gregor Gysis, wie weit die Bereitschaft der UdSSR gehe, der DDR in allen Notfällen zu helfen, bemerkte Raffael Fjodorow, daß er keine Vollmacht für eine offizielle Antwort darauf besitze. (...)

Der Afghanistan-Schock, die Lehren aus den Jahren 1956 und 1968 machten die Sache für die UdSSR sehr schwierig. In der gegenwärtigen Führung der KPdSU würde sich keiner finden, der ein militärisches Machtwort befürworten würde.

Gregor Gysi betonte hierzu, daß ein militärisches Machtwort die allerallerletzte Frage sei, sie aber auch dann nicht real in Betracht komme. Es sei aber angebracht, hier an die Bündnisverpflichtungen zu erinnern, daß bei einem Angriff der BRD die Sowjetunion Beistand leisten werde. Heute bestehe die Not­wen­dig­keit, die Bündnisfrage juristisch zu prüfen.



Die UdSSR hat der DDR bekanntlich keinen "Beistand geleistet", weder militärisch, noch sonstwie. Warum nicht?

Kürzlich hat das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr einen Sammelband "Der Warschauer Pakt" vorgelegt. Daraus geht hervor, daß seit 1987 in der Sowjetunion eine neue Militärdoktrin galt, die ein Eingreifen in der DDR nach dem Vorbild von Budapest und Prag nachgerade unmöglich gemacht hatte.

Noch 1981 war, so der amerikanische Historiker Mark Kramer in dem Band, die Sowjetunion nahezu bereit gewesen, dem "Flehen" des KP- Chef Jaruzelski zu folgen und in Warschau einzumarschieren.

Unter dem Druck einer "desaströsen Wirtschaftsentwicklung" mußte die UdSSR aber die Breschnew- Doktrin von der "begrenzten Souveränität" sozialistischer Bruderländer schrittweise opfern. Diese wurden nicht mehr als essentiell für die russische Militärpolitik erklärt:
Gorbatschows Stabschef Achromejew verlegte die Verteidigungslinie ganz im Sinne der Militärphilosophie seines Parteichefs von West- nach Ostmitteleuropa. (...)

Schon bevor die DDR im Zuge der Zwei- plus- Vier- Verhandlungen Gegenstand konkreter Planungen für eine West- Anbindung wurde, hatte sie bereits außerhalb des unmittelbaren Verteidigungsgebietes des Warschauer Pakts gelegen.
So endet die Meldung von ddp, aus der ich zitiert habe.

Gysi dürfte als Vorsitzender der SED über diese Lage der Dinge informiert gewesen sein. Auf militärischen Beistand der Russen konnte er nicht rechnen.

Irgendwann in diesen Tagen, vielleicht auch erst Anfang 1990, dürfte er sich ins Unvermeidliche gefügt und beschlossen haben, dann eben die SED, wenn schon ihre Herrschaft über die DDR nicht zu retten war, wenigstens über die Wiedervereinigung hinwegzuretten. Ihr Vermögen, ihre Organisation, ihre Ideologie.

Was ihm ja auch ausgezeichnet gelungen ist.



Titelvignette: Michael Gorbatschow 1987. Als Werk der US-Regierung gemeinfrei. Für Kommentare bitte hier klicken.