Ein Beiseit vorweg: Die Dezimale zeigt an, daß es sich wie im Fall von Software-Releases nicht um eine neue Vollversion, sondern um eine Nachmeldung zu dem vor einer Woche behandelten Versagen unserer Politik in Afghanistan handelt. Trotzdem macht die Treffsicherheit, mit der die sonst zu nichts mehr fähigen Politiker des Westens immer wieder aufs Neue sind, hierfür sinnträchtige Auftritte vor der Weltöffentlichkeit zu inszenieren.
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Es ist mißlich, wenn die eigene, aus Gründen bruchstückhafte Erinnerung nicht genügend Anhaltspunkte liefert, um eine Frage zu klären, und die üblichen Wasserstellen im Weltnetz hier keine weiterführende Handreichung bieten. So kann ich denn nicht genau sagen, welcher sowjetische Propagandafilm mir im Lauf der letzten Woche einige Male ins Gedächtnis gekommen ist. Genauer gesagt: eine bestimmte Szene aus diesem Streifen. (Vielleicht ist ja der eine oder andere Leser in der Lage, meinen lückenhaften Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen.) Aber ich habe den betreffenden Film vor fest 30 Jahren gesehen, in einer spätnächtlichen Ausstrahlung des ZDF, in unsynchronisierter Fassung mit Untertiteln. Da war, bevor ich mich ein wenig mit der russischen Sprache befaßt habe; mit einmal die kyrillischen Buchstaben konnte ich zu jener Zeit lesen. Bei diesem Film handelte es sich um eine Ausgrabung in den damals, zum Höhepunkt von Glasnost‘ weitgehend zugänglichen russischen Archiven. Nach Aussage des Ansagers (ja, so etwas gab es damals im Fernsehen noch!) war der als Monumentalstreifen angelegte Film kurze Zeit nach seiner Kinopremiere der Zensur zum Opfer gefallen und seither in Vergessenheit geraten. (Dieses Schicksal traf solche Großproduktionen nicht selten: auch der letzte Science-Fiction-Film der Stalinzeit, „Die Kosmische Reise“, Космический рейс, 1936 durch das größte Filmstudio der UdSSR, Mosfilm, unter der Regie von Wassili Schuralow gedreht, der letzte Stummfilm der russischen Filmgeschichte und mehr als deutlich von Fritz Langs „Frau im Mond,“ sagen wir, „inspiriert,“ traf dieses Schicksal zwei Wochen nach seiner Moskauer Kinopremiere, einschließlich des Vergessenwerdens.)
WARUM der Bannstrahl der Zensur den späteren Film traf, ist leicht verständlich. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, des „Großen Vaterländischen Kriegs“ entstanden, also Ende 1945 oder 1946 produziert, wird dort in kurzen exemplarischen Szenen die Geschichte des Kriegs umrissen – aber anders als in den „offiziellen“ Produktionen ist der Film über weite Strecken als leichte Unterhaltung, ja als Musical gestaltet: zu Beginn sieht man eine Brigade Kolchosbauern singend bei der Ernte; als am Ende die T-34-Panzer vor dem Berliner Reichstagsgebäude ausrollen, springt ein Rotarmist heraus und beginnt zur Ziehharmonikabegleitung Kasatschok zu tanzen … Der Kontrast zum schweren, bleiern lähmenden Pathos von Filmen wie Освобождённая земля / Die befreite Erde (Regie: Alexander Medwedkin, 1946) oder Великий перелом / Der Wendepunkt (Regie: Fridrich Ermler, 1945) könnte größer nicht sein. Und dieser Machart verdankt sich auch die oben erwähnte Szene: Im Frühjahr 1939 begehrt dort der Moskauer Botschafter in Paris Audienz vom französischen Premierminister Edouard Daladier, um ihn zu warnen: er solle dem Abkommen von München nicht vertrauen; Hitlers Diktatur plane einen Krieg und einen Angriff nicht nur auf Russland, sondern auch auf Westeuropa und wolle Frankreich besetzen; die einzige Lösung sei, sich zusammenzuschließen und darauf vorbereitet zu sein (der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939 war also, wie man sieht, aus der offiziellen Geschichtsversion getilgt).
Daladier ist in dieser Szene als groteske Karikatur gezeichnet: im Morgenmantel, ein Glas Cognac in der Hand, offensichtlich schwer betrunken, während hinter ihm in seinem Büro eine lärmende Party über die Bühne geht, dargestellt von einem kleinwüchsigen, grell geschminkten Knallchargenspieler, der sichtlich mit Hinblick darauf ausgesucht wurde, daß seine Physiognomie jenem Zerrbild entsprach, mit dem die Nazi-Karikaturisten (und später auch die Zeichner der sowjetischen Propaganda) etwa die Juden entstellten. Die Blindheit, die Ahnungslosigkeit der wirklichen Lage, die „französische Überheblichkeit,“ die hier die Folie abgeben, sind bis zum Anschlag überdreht. Nur: von solchen Propaganda-Machwerken erwartet man es nicht anders. Nicht erwartet wird hingegen, daß reale Politiker im realen Leben sich aufführen, als würden sie wetteifern, wer einem solchen Zerrbild möglichst nahe kommt.