7. August 2006

Zettels Meckerecke

Angeführt

Der "Spiegel" dieser Woche hat auf Seite 131 eine Geschichte über den Reaktor-Störfall in Schweden. Die beiden Autoren sind Philip Bethge von der Wissenschaftsredaktion und Sebastian Knauer, ein altgedienter Reporter, der bekannt wurde, als er, damals beim "Stern", den toten Uwe Barschel aufgefunden und fotografiert hatte.

Ich will diesen Störfall und die Reaktion darauf hier nicht kommentieren; mein Kommentar dazu ist in Zettels kleinem Zimmer zu lesen. Hier möchte ich auf einen sprachlichen Aspekt der "Spiegel"-Story aufmerksam machen, nämlich die Art, wie Äußerungen zu diesem Vorfall angeführt werden.



In dem Artikel werden, fair genug, ebenso Äußerungen zitiert, die den Störfall als bedrohlich betrachten, wie auch andere, die ihn als nicht schwerwiegend einstufen. Hier ist eine vollständige Liste dieser wörtlichen Zitat in dem Artikel; erst diejenigen von Warnern, dann Stimmen, die den Vorfall für nicht schwerwiegend halten:
  • Von "Geisterbetrieb" sprach Greenpeace

  • Das Bundesumweltministerium stufte den Vorfall als "sicherheitstechnisch ernstes Ereignis" ein

  • Der schwedische Nuklearexperte ... drückte es drastischer aus: "Es war reiner Zufall, daß es zu keiner Kernschmelze kam"

  • "Wenn die anderen beiden Einheiten auch versagt hätten, wäre es zu einem totalen Stromausfall gekommen", heißt es in einem Bericht der schwedischen Nuklearbehörde

  • "Die Steuerung von Atomkraftwerken kann jederzeit ... zum Super-GAU führen" warnte Henrik Paulitz

  • "Die Schwachstelle von Kernkraftwerken ist ihre Komplexität", sagt Michael Sailer, Nuklear-Experte vom Öko-Insitut Darmstadt

  • "Wenn irgendwann wieder ein wirklich schwerer Unfall passiert, liegt es wahrscheinlich an Störungen wie diesen", sagte Sailer

  • Schon ein Bericht, den die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit 1992, kommt ... zu dem Fazit: "Eine Wiederholung des Vorkommnisses läßt sich nicht ausschließen".

  • Vattenfell-Sprecher Ivo Banek ... wiegelte ab: "Wir haben keinen Anlaß, an der Sicherheit unserer Anlagen zu zweifeln."

  • Das deutsche Atomforum, ein Lobbyverein der Atomwirtschaft, gab Entwarnung: "Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für eine Übertragbarkeit des Vorfalls"

  • "Die Gefahr eines Unfalls bestand zu keinem Zeitpunkt", beteuerte Anders Markgren von der Betreibergesellschaft



  • Acht wörtlichen Äußerungen von Warnern stehen drei gegenüber, die den Vorfall als nicht sicherheitsbedrohlich einstufen. Nun gut, es mag sein, daß die Warner sich in der Tat häufiger und eindringlicher geäußert haben, und daß die Spiegel-Story das widerspiegelt.

    Aber von einem "Widerspiegeln" kann eben keine Rede sein, was die, sagen wir, sprachliche Einkleidung der wörtlichen Zitate angeht.

    Die Art, wie die Äußerungen von Warnern und Kritikern angeführt werden, ist durchweg neutral oder zustimmend: "sprach", "stufte ein", "sagte", "heißt es", "kommt zu dem Fazit". Die Stellungnahmen von denjenigen, die den Vorfall als nicht bedrohlich einstufen, werden dagegen so angeführt: "wiegelte ab"; "Lobby-Verein (...) gab Entwarnung"; "beteuerte".



    So erzeugt man, indem man scheinbar berichtet, beim Leser Einstellungen und Meinungen oder verstärkt schon vorhandene. Man kann das in der deutschen Presse sehr oft finden; es ist keineswegs eine Besonderheit des "Spiegel".

    Ganz anders als, beispielsweise, in der seriösen US-Presse. Diese verwendet, wenn wörtlich zitiert wird, nachgerade monoton das "said" oder "wrote"; ähnlich wie die französische das "a déclaré".

    Hier findet man den aktuellen Bericht der "New York Times" über den Störfall. Auch da habe ich die Stellen herausgesucht, die wörtliche oder indirekte Zitate enthalten und dieses monotone "said" hervorgehoben:
    August 5, 2006
    Shutdown of 4 Reactors in Sweden Stirs Debate on Atomic Power
    By IVAR EKMAN, International Herald Tribune
  • "It's a bit like a lottery," said Lars-Olov Hoglund, an engineer who was involved with the construction of the Forsmark plant in the 1980's, and now works as a consultant in the nuclear industry.

  • Although two generators kicked in, he said, it could have been one, or zero.

  • Mr. Hoglund said he rated the episode as nearly as serious as the 1986 nuclear explosion and fire at the Chernobyl plant in Ukraine and the 1979 partial meltdown at the Three Mile Island plant in the United States.

  • Claes-Inge Andersson, head of communications at Forsmarks Kraftgrupp, which runs the plant, said the risk for a meltdown had been "nonexistent".

  • Still, both he and a spokesman at the Swedish Nuclear Power Inspectorate said they rated the event as "serious."

  • Also, mal wieder ein Anlaß für mein Ceterum Censeo: Amerika, du hast es besser!

    6. August 2006

    Rambo

    Gestern lief im TV wieder einmal "Rambo". Ein Film, der so viel - im Wortsinn - Furore gemacht hat wie kaum ein anderer. "In Rambo-Manier" ist eine deutsche Redensart geworden. Wer jemandem Grobheit, Brutalität und - ach ja, nicht zu vergessen - ein "macho-haftes" Verhalten vorwerfen möchte, der ist schnell mit "Rambo" zur Hand.

    Der Film nun allerdings heißt überhaupt nicht "Rambo", schon gar nicht "Rambo I". Sondern er heißt "First Blood", wurde später allerdings auch unter dem Titel: "Rambo - First Blood" vermarktet.

    Warum "First Blood"? Weil Rambo an einer Stelle sagt, daß nicht er es gewesen sei, der als erster Blut vergossen habe. Wie überhaupt dieser Rambo (in diesem ersten Film; später war es anders) alles andere als "ein Rambo" ist.



    Der Rambo des Films ist ein armes Schwein. Ein Vietnam-Veteran, der - so schildert er es gegen Ende des Films in dem Monolog, in dem er dem Colonel Trautman sein Herz ausschüttet - nach seiner Heimkehr Anerkennung für seinen Dienst am Vaterland erhoffte und stattdessen von Kriegsgegnern verunglimpft wurde. Ein Mann, so sagt er, der im Krieg die Verantwortung für Menschen und für Gerät im Millionenwert hatte, und den man jetzt nicht einmal als Parkwächter einstellen will.

    Also zieht er umher. Am Anfang des Films auf der Suche nach einem Kameraden aus seiner Kompanie, der aber, wie er erfährt, inzwischen an Krebs gestorben ist. Er zieht also weiter, wird von einem Sheriff für einen Landstreicher gehalten, bekommt Ärger mit diesem bulligen Ordnungshüter, wird auf die Polizeiwache gebracht und dort schlecht, teilweise brutal behandelt - und erlebt in diesen Situationen der Demütigung Traumata wieder, die sadistische Gegner ihm in Vietnam angetan hatten. Er reagiert panisch, befreit sich und flieht.

    Und damit beginnt die eigentliche Handlung: Die Flucht des John Rambo, verfolgt von zunächst ein paar Polizisten, dann den Freizeitsoldaten der Nationalgarde, schließlich einer veritablen kleinen Armee. Er ist das gejagte Wild, entkommt aber immer wieder, dank seiner Ausbildung als Einzelkämpfer. Mehrfach macht er seinen Jägern ein Friedensangebot; sie gehen nicht darauf ein. Schließlich sprengt er mit Maschinengewehrbeschuß eine Tankstelle in die Luft, liefert sich mit dem Sheriff ein Showdown - und verwandelt sich.



    Ja, dieser wortkarge, fast stumme Mensch, der sich, gleich einem modernen Harpo Marx, lediglich im Umgang mit Dingen, mit Geräten ausdrücken hatte können, der wie ein Steinzeitjäger durch düstere Wälder und Schluchten gehetzt war - dieser Mann fängt an zu reden. Reflektierend, emotional. Gewissermaßen eine Talking Cure im Stakkato.

    Am Ende dieses Monologs klappt er zusammen; erschöpft, verzweifelt, hilflos - ein Geschlagener. Lethargisch läßt er sich festnehmen und abtransportieren.



    Man kann das, wie jeden guten Film, sehr unterschiedlich interpretieren:
  • Es ist die alte Geschichte vom Einzelgänger, vom Lonely Wolf, der von der Meute gejagt und am Ende zur Strecke gebracht wird. Wortkarg wie Ringo; der scheinbar Eiskalte, der in Wahrheit tiefe Verletzungen mit sich herumträgt.

  • Es ist die uralte Geschichte von der Gewalt, die aus erlittenem Unrecht entsteht. Rambo ist der moderne Michael Kohlhaas. Wie diesen treibt ihn dieses Unrecht in einen Krieg gegen die Gesellschaft; wie Kohlhaas verliert John Rambo jedes Maß, wird zu einem der "entsetzlichsten Menschen", wie Kleist das von Kohlhaas schreibt.

  • Es ist auch die sehr amerikanische Geschichte von den bigotten Rednecks, die den Andersartigen nicht ertragen. Rednecks wie aus "In the Heat of the Night", wie in "Easy Rider". (Es ist ja kein Zufall, daß die Figur den Latino-Namen Rambo trägt und von dem Italoamerikaner Stallone gespielt wird).


  • Und es ist, auf einer anderen Ebene, ein Zeitfilm; aus heutiger Sicht schon ein historischer Film. Gedreht in einem Land, das sich damals (1982) von den Verletzungen zu befreien versuchte, die der Vietnam-Krieg hinterlassen hatte.

    Verletzungen ja nicht nur bei denjenigen, die diesen Krieg nicht gewollt hatten und in ihm ein Unrecht sahen; sondern ebenso - oft viel tiefer - bei denen, die in ihm ihr Leben und ihre Gesundheit eingesetzt hatten und dafür den Undank einer Nation ernteten, die nur eines wollte - dieses Trauma eines schmutzigen Kriegs und einer demütigenden Niederlage vergessen, austilgen. Dem heimkehrenden Krieger wurde das verweigert, worauf er seit Jahrtausenden Anrecht hat: Wenn schon nicht Ruhm, dann doch wenigstens Dank des Vaterlands.


    Das also sind einige der Themen und Motive dieses Films. Keiner der ganz großen Filme, gewiß. Aber ein bemerkenswerter Film. Wie kommt es, daß er, daß die Figur des Rambo, so ein negatives Image bekommen hat? Einiges kann man vermuten.
  • Die achtziger Jahre waren eine politisch unruhige Zeit, in der der Antiamerikanismus, der heute in Deutschland so viel Terrain gewonnen hat, sich zu formieren begann; vor allem in der "Friedensbewegung". Vielleicht kam da die Figur des Rambo als Feindbild gerade recht. Der brutale Ami, der sich rücksichtslos durchsetzt. Noch heute wird ja in unzähligen Kommentaren und Karikaturen Präsident Bush von denjenigen mit Rambo in Verbindung gebracht, die seine Politik für aggressiv halten.

  • Ähnlich dürfte es in Bezug auf die "Frauenbewegung" gewesen sein, deren Feindbild des "Macho" sich in Rambo zu verkörpern schien. Das Wilde, das Tierhafte dieser Figur mag nachgerade als archetypisch männlich gesehen worden sein. Als Ausdruck derjeniger Virilität, die man bekämpfte und aus der Welt schaffen wollte.

  • Und "Vietnamkrieg" - das war ja im Jahrzehnt zuvor ein zentrales politisches Thema gewesen. Viele Achtundsechziger sagen im Rückblick, daß sie damals "durch den Vietnamkrieg politisiert" worden seien. Daß "First Blood" alles andere als eine Verherrlichung des Vietnamkriegs ist, scheint kaum bemerkt worden zu sein. John Rambo hatte in dem Film als Elitesoldat gegen den Vietcong gekämpft - das genügte, um dieser Figur ihr Negativ-Image zu verpassen.



  • Sicher kein ganz großer Film, wie gesagt. Sehenswert aber nicht nur, weil er nachdenklich macht, was seine Rezeption angeht. Sondern vor allem deshalb, weil er, während man ihn sieht, gerade keine Zeit zum Nachdenken läßt.

    Es ist ein schneller Film, ein schnörkelloser Film. Ein Film auch mit viel Atmosphäre. Er spielt im amerikanischen Nordwesten, vermutlich in Oregon. Düstere Wälder, felsige Schluchten, die Stollen eines aufgelassenen Bergwerks sind meist die Kulisse, in der Rambo agiert wie ein Steinzeit-Mensch mit modernen Waffen. Als Kontrast dazu das grelle Licht einer nächtlichen Stadt, das Tohuwabohu eines Polizei-Aufmarschs.

    Vor allem aber ist er ein spannender Film, ein sehr gut gemachter Action-Thriller.

    Und Sylvester Stallone ist eine Wucht. Seit Buster Keaton hat niemand mit so wenig Mimik, mit so wenig sprachlichem Ausdruck die Zuschauer fasziniert. Und wie Keaton tut Stallone das durch eine Körpersprache, die manchmal an Ballett erinnert.



    © Zettel. Titelvignette: Sylvester Stallone. Vom Autor Towpilot unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 License freigegeben.

    5. August 2006

    Käse

    Jahrtausendelang basierte der Wohlstand von Städten, von Regionen, von Völkern darauf, daß sie etwas hatten, was die anderen nicht hatten, oder daß sie etwas konnten, was die anderen nicht oder nicht so gut konnten.

    Was sie hatten: Erze, Bernstein, Salz beispielsweise. Was sie konnten: Den Bernstein zu Schmuck verarbeiten, das Salz sieden, die Erze verhütten.

    Aber auch Schwerter schmieden in Damaskus, die Damaszener. Später Messer schmieden in Solingen, in Sheffield. Kuckucksuhren konstruieren und bauen im Schwarzwald, Gurken einlegen im Spreewald, Offiziersmesser herstellen in der Schweiz, Gruyère herstellen im Wallis, Gouda herstellen in Holland, Schafskäse herstellen im Aveyron, den Roquefort.

    Und Schafskäse herstellen in Griechenland, den Feta.



    Das alles herzustellen erfordert traditionellerweise große handwerkliche Sachkenntnis, ja Geheimwissen. Dieses wurde ängstlich gehütet; manchmal auch, wenn man Pech hatte, gestohlen. Auch vor Jahrtausenden, vor Jahrhunderten gab es schon eine Wissensgesellschaft; Wissen war immer eine entscheidende Produktivkraft.

    Das Wissen um Verfahren, um Rezepturen spielt auch heute noch eine Rolle - sei es in Form der schon fast rührend anmutenden Coca-Cola-Geheimrezeptur, sei es in Gestalt von Patenten, die zwar nicht mehr geheim sind, deren Verwertungsrechte aber ähnliche Vorteile bedeuten wie früher das von Generation zu Generation tradierte Wissen darüber, wie man Schafsmilch zum Roquefort reifen läßt, oder zum Feta.



    Zum Feta? Ja, und der ist das Thema dieses Beitrags, oder vielmehr der Salakis. Ich habe ihn vor Jahren in sozusagen zwiefacher Gestalt kennengelernt: Als ein sehr wohlschmeckender Schafskäse, und als Gegenstand einer Geschichte im "Nouvel Observateur".

    Der berichtete damals über die Schafzüchter im Aveyron, deren Existenz auf dem Roquefort basiert, der in den Kellern und Höhlen der gleichnamigen Stadt reift. (Ich bin einmal dort gewesen; man riecht den Roquefort buchstäblich Kilometer vor der Stadt.) Sie erzeugen aber seit einiger Zeit, dank verbesserter Methoden und größerer Herden, mehr Schafsmilch, als zu Roquefort verarbeitet werden kann. Da hatten sie eine Idee: Sie verarbeiteten die überschüssige Schafsmilch zu Feta, also zu einem in einer Salzlake liegenden, in Scheiben geschnittenen Schafs-Halbfrischkäse. Und vermarkteten ihn unter der Marke Salakis.

    So lernte ich ihn kennen und schätzen. Er ist milder als der bulgarische und korsische Schafskäse, hat aber trotzdem Geschmack und auch die richtige halbfeste Konsistenz. Schnittfest, nicht bröckelnd. Salakis auf frischem Brot, dazu ein paar Tropfen Olivenöl, Pfeffer, Oregano und in feine Scheibchen geschnittener Knoblauch - zusammen mit einem einfachen, kräftigen Wein (weiß oder rot, das ist egal) ist das eine Köstlichkeit, der ich nur wenige Genüsse an die Seite stellen kann.



    Nur, Feta ist das demnächst nicht mehr. Griechenland hat erfolgreich geklagt, und mit Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Oktober 2005, Az. C-465/02, ist es den Bauern des Aveyron, die den Salakis als Kooperative unter der Bezeichnung Feta verkauft hatten, untersagt, das ab 2007 noch zu tun. Der Salakis, den man im Augenblick zu kaufen bekommt, trägt bereits nicht mehr die Bezeichnung "Feta".



    Seinem Geschmack hat das, soweit ich erkennen kann, nicht geschadet. So wenig, wie der in Holland erzeugte Emmentaler dadurch schlechter schmeckt, daß er als "Maasdamer" vermarktet wird. So wenig, wie ein Messer aus Chemnitz schlechter ist als eines aus Solingen. So wenig, wie wir noch Salz kaufen, weil aus einer Lüneburger Salzsiederei kommt, oder Pastillen, weil sie in Ems gedreht wurden.

    Kurz, die Zeiten, in denen es irgendeine Rolle spielte, wo ein Produkt hergestellt wurde, sind vorbei. Die vermutlich einzige dauerhafte Ausnahme sind Agrarprodukte, deren Qualität vom Boden und vom Klima abhängt; Wein vor allem. Ansonsten kann heutzutage alles nahezu überall hergestellt werden.

    Es ist deshalb eigentlich nicht mehr zu rechtfertigen, daß man - gar durch europäisch-höchstrichterlichen Beschluß - den Feta der Griechen schützt, oder gegebenenfalls den Emmentaler der Emmentaler.



    Warum tut man es trotzdem? Warum tut es ausgerechnet die doch so auf Liberalisierung der Märkte bedachte EU? Vermutlich deshalb, weil noch niemand es gewagt, geschweige denn fertiggebracht hätte, den Agrarmarkt zu liberalisieren. Das ist ja im Grunde kein Markt, sondern ein gigantisches protektionistisches Subventionssystem.

    In dessen Logik es dann eben auch liegt, eine Produktbezeichnung nicht davon abhängig zu machen, welche Merkmale dieses Produkt hat, sondern in welcher Gegend der EU ihm diese Merkmale verliehen wurden. Man könnte noch einen Schritt weiter - oder vielmehr zurück - gehen und, sagen wir, das feierliche und ewige Privileg verleihen, in einer bestimmten Gegend eine bestimmte Wurst herzustellen oder Sauerkraut zu vergären.



    Würde es auch anders gehen, vernünftiger? Ich weiß es nicht. Die Bedürfnisse der Menschen lassen sich, was Industrieprodukte und Dienstleistungen angeht, immer weiter entwickeln, immer mehr steigern, immer subtiler gestalten. Aber beim Essen geht das halt nicht.

    Wir haben heute ungleich mehr Unterhaltungselektronik in unseren Wohnungen stehen als noch vor einem halben Jahrhundert. Wir machen weitere und teurere Reisen. Aber essen tun wir immer noch dreimal am Tag. Besser, das ist wahr. Aber nur in Grenzen. Und mehr nach Möglichkeit nicht.

    Also fehlt dem Agrarmarkt das, was jeder Markt braucht: Die Möglichkeit unbegrenzter Expansion.

    Er ist, paradoxerweise, ein funktioniernder Markt nur zu Zeiten der Unterversorgung. Hat die Produktion erst einmal die Nachfrage eingeholt, dann läßt sich jene nur noch sehr begrenzt weiter steigern. Überproduktion ist die Folge, und diese verlangt Reglementierung, wenn die Landwirtschaft nicht zugrundegehen soll.

    3. August 2006

    Umfragen und Perspektiven

    In der vergangenen Woche befaßte sich der "Spiegel" in seiner Titelgeschichte mit dem Nahostkrieg. Wie es inzwischen üblich ist, gehörten zum Titel-Paket auch Umfragedaten, die in einem Kasten mitgeteilt wurden; auf Seite 86 des Hefts 30/2006.

    Zwei Fragen und die Antworten darauf zeigt dieser Kasten. Fragen, beantwortet von 1000 Menschen in Deutschland zwischen dem 18. und 20. Juli. Hier sind sie:
  • "Israel versucht die Angriffe der radikalislamischen Hisbollah auszuschalten. Halten Sie die israelischen Angriffe auf den Libanon durch das Recht auf Selbstverteidigung für gerechtfertigt, oder hat Israel kein Recht dazu?"
  • "Sollte Israel auf den Angriff von Großstädten verzichten, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, selbst wenn die Hisbollah ebenfalls große Städte in Israel mit Raketen angreift?"
  • Auf die erste Frage antworteten 22 Prozent mit "gerechtfertigt" und 63 Prozent mit "nicht gerechtfertigt". Auf die zweite Frage antworteten 72 Prozent mit "ja" und 18 Prozent mit "nein".



    Es geht mir bei den jetzigen Überlegungen nicht um diese Verteilungen der Antworten und auch nicht darum, ob die Fragen fair oder vielleicht etwas suggestiv formuliert waren. Was mich interessiert ist vielmehr, wonach gefragt wurde. Genauer, zum Verhalten welcher Seite in diesem Konflikt die Befragten eine Meinung äußern sollten.

    An dem Konflikt sind zwei Seiten - Israel und die Organisation "Hisbollah" - als Hauptakteure beteiligt, dazu ein Staat (der Libanon) als derjenige, auf dessen Terrain sich der Kampf überwiegend abspielt, und zahlreiche Staaten (vor allem die USA, der Iran, Syrien) als im Hintergrund Beteiligte.

    Sie alle handeln. Man könnte nach einer Bewertung des Handelns jedes dieser Beteiligten fragen. Warum wurde gerade nach dem Verhalten Israels gefragt (oder wurden jedenfalls nur Antworten auf Fragen dazu vom Spiegel publiziert)?



    Man könnte argumentieren, daß der Libanon ja weniger handelt als leidet und daß die Staaten im Hintergrund nicht im gleichen Maß Handelnde sind wie die unmittelbar Beteiligten. Das leuchtet ein. Aber warum wurde nicht gefragt, wie sich beide Kriegsparteien verhalten sollten und wie ihr Verhalten zu bewerten ist?

    Hätten nicht zu den beiden in Bezug auf Israel gestellten Fragen auch zwei Fragen gehört, die parallel das Verhalten der Hisbollah betreffen? Also etwa:
  • "Die Hisbollah greift israelische Städte mit Raketen an. Halten Sie diese Angriffe auf Israel durch das Selbstbestimmungsrecht der Araber für gerechtfertigt, oder hat die Hisbollah kein Recht dazu?"
  • "Sollte die Hisbollah auf den Angriff von Großstädten verzichten, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, selbst wenn Israel im Libanon Militäraktionen unternimmt, bei denen auch Zivilisten getötet werden?"


  • Solche Fragen habe ich in demoskopischen Erhebungen noch nie gelesen. Sie klingen irgendwie auch seltsam, nicht wahr?

    Warum? Mir scheint, das ist eine Frage der Perspektive. Und es ist eine eigenartige, interessante, Perspektive, die sich hier zeigt.



    Ob das, was Israel tut, richtig ist, und was es tun oder nicht tun sollte - das beschäftigt uns. Ob die USA das Richtige tun, oder ob das, was sie tun, zu verurteilen ist - das ist ein Dauerthema der politischen Diskussion in Deutschland, in Europa, in den USA selbst.

    Aber ob das, was die Fatah, die Hamas, die Hisbollah tun, gerechtfertigt ist, das wird kaum erörtert. Genauer gesagt: Es wird in unserem öffentlichen Diskurs in der Regel nicht auf seine Rechtfertigung hin erörtert, sondern lediglich auf seine Ursachen hin.

    Wir analysieren, warum sich Moslems radikalisieren (Weil sie vom Westen ökonomisch ausgebeutet werden? Weil sie mit der Verwestlichung nicht zurechtkommen? Weil sie von Haßpredigern aufgehetzt werden? Weil sie sich gegen die Vorherrschaft des westlichen Imperialismus empören? usw.)

    Aber wir erörtern selten, ob das, was diese radikalen Moslems tun, denn moralisch richtig ist, ob es gut oder böse ist. Wir fragen selten, was die Palästenenser denn tun sollten, was die Hisbollah denn tun sollte; so, wie wir fragen, wie sich denn Israel oder die USA verhalten sollten.

    Wir stellen in Bezug auf sie nicht die Fragen, die wir in Bezug auf die USA, in Bezug auf Israel ganz selbstverständlich stellen.



    Woher diese unterschiedlichen Perspektiven?

    Vordergründig könnte sie für ein besonderes Maß an Selbstbezogenheit und Selbstkritik, an Selbstzweifeln des Westens sprechen. Was wir, was die zu unserem Kulturkreis gehörenden Nationen USA und Israel tun, das prüfen wir, das sehen wir kritisch. Was die anderen tun, das zu be- und verurteilen maßen wir uns nicht an.

    Diese Antwort ist nicht falsch, aber meines Erachtens eben nur in einer vordergründigen Weise gültig. Denn nach moralischen Kriterien beurteilen wir das, was wir ernstnehmen. Daraufhin, ob es gut oder böse ist, beurteilen wir das Verhalten von Menschen, zu denen wir eine personale Beziehung haben.

    Das Handeln des nicht Zurechnungsfähigen verurteilt man nicht, sondern man erklärt es nur. Ihm gegenüber wechseln wir aus der personalen Perspektive in die neutrale, sachbezogene Perspektive, wie wir sie auch Dingen und Vorgängen in der Natur gegenüber einnehmen.

    In der Gesellschaft ist das der Blick des Soziologen und des Psychologen. Anderen Nationen, Völkern, Kulturen gegenüber ist es der Blick des Kulturanthropologen. Des Kulturanthropologen, der es interessant findet, wenn es in einem Volk im Dschungel von Neuguinea üblich ist, Angehörige eines anderen Volks zu töten und zu verspeisen - der das aber niemals unter eine moralische Kategorie wie "böse" oder "verwerflich" subsumieren würde.




    Wenn wir an Israel hohe moralische Standards anlegen, das Verhalten der Hisbollah (oder der Hamas, oder der El Kaida, oder der irakischen Terroristen) aber aus den Umständen heraus erklären, dann ist das, so scheint mir, der Unterschied zwischen der personalen Perspektive und dieser sachlichen Perspektive des Anthropologen.

    Nein, es ist nicht so, daß wir damit die Untaten, die Mordanschläge, die Barbarei der Hisbollah rechtfertigen würden. Es ist viel schlimmer:
    Wir betrachten sie aus einer Perspektive, die die Frage nach der Rechtfertigung überhaupt nicht mehr zu stellen erlaubt.

    Das ist ungefähr die größte Mißachtung, die man jemandem zuteil werden lassen kann.

    1. August 2006

    Randbemerkung: Ein kleines Quiz

    Beim Stöbern im Internet bin ich gestern auf zwei Meldungen gestoßen, die mich zu einem kleinen Quiz veranlassen.

    Eine Meldung stammt von der rechtsextremen Site Altermedia. Die andere stammt aus dem linken Informationsdienst Indymedia. Welche ist welche?

    Damit es wirklich ein Quiz ist, habe ich die Parteinamen und sonstige Textpassagen, die auf die Autorenschaft hindeuten, entfernt.



    Meldung A:
    Gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Israels gegen Libanon protestierten gestern (...). Dabei entrollte man ein Transparent mit der Aufschrift: "Gegen Israels Staatsterror". (...)

    Im Text der verteilten Flugblätter hieß es wie folgt:

    "Israel begeht Staatsterrorismus"

    (...) Tagtäglich werden Menschen, die einfach nur in Freiheit und Selbstbestimmung leben wollen, von israelischen Besatzungssoldaten terrorisiert und getötet. Kaum ein Tag vergeht, an dem man nicht von blutigen Ereignissen in der Zeitung liest.

    Das alles kann nur passieren, weil sich niemand traut, Israel öffentlich zu kritisieren und es für seine Verbrechen von niemandem zur Rechenschaft gezogen wird. Damit muss Schluss sein!

    Keine Solidarität mit der brutalen Kriegspolitik Israels! Keine weiteren Waffenlieferungen von Deutschland an Israel! Schluss mit der falschen Freundlichkeit gegenüber dem Hauptaggressor im Nahen Osten!



    Meldung B:
    Heute fand (...) eine spontane Mahnwache aus Anlaß des blutigen Qana-Massakers statt.

    ... das neueste blutige israelische Bombenmassaker mit über 60 Todesopfern, darunter wieder viele Kinder, erschüttert die ganze Welt
    ... bis auf die Rice/Olmert-Mörderallianz
    ... die mörderische Terror-Allianz USA-Israel = USrael hat wieder seine scheußliche Mord-Fratze gezeigt
    ... die EU heuchelt Erschütterung



    Welcher Text berichtet über eine Aktion der NPD, welcher von einer linken Aktion? Auflösung in Zettels kleinem Zimmer

    28. Juli 2006

    Schein und Sein

    Wenn man sagt, daß etwas "erscheint", dann ist das doppeldeutig.

    Auf der Bühne erscheint der Schauspieler. Dann ist er da. Er erscheint, das heißt: Er zeigt sich, er tritt auf. Man wird seiner "gewahr". Er ist es also wahrlich vorhanden.

    Das Denkmal "erscheint" in diesem Sinn im Augenblick seiner Enthüllung. Man sieht dann, was drunter ist, unter der Hülle.

    Diese, die Hülle, kann aber auch Schein verbergen. Es gibt Zaubertricks, bei denen ein Tuch über, sagen wir, einem Würfel liegt. Es ist aber gar kein Würfel unter dem Tuch, sondern es wird mittels eingezogener kleiner Stangen nur so geformt, wie wenn darunter ein Würfel ist. Der Würfel scheint da zu sein, ist es aber gar nicht.

    Es kann also zum Einen etwas "erscheinen", das heißt sich so zeigen, wie es ist. Es kann aber auch "nur so erscheinen" und ist in Wirklichkeit ganz anders. Erscheinen und Schein, darin steckt eine fast ontologische Doppeldeutigkeit.



    Im Nahohst-Krieg hat sich am vergangenen Dienstag ein Vorfall zugetragen, der zu einer Reaktion von Kofi Annan führte. Es gab darüber in den deutschen Medien eine ziemlich einhellige Berichterstattung, für die die Meldung im Hamburger Abendblatt repräsentativ ist:
    Bei einem israelischen Angriff im Südlibanon sind vier unbewaffnete Uno-Soldaten getötet worden. (...) Uno-Generalsekretär Kofi Annan protestierte scharf gegen die Bombardierung des Beobachterpostens. Er warf Israel einen "vorsätzlichen Angriff" vor.
    So ist es zum Beispiel auch in Spiegel-Online zu lesen, das titelt: "Getötete UNO-Beobachter - Annan wirft Israel vorsätzliche Attacke vor". Ähnlich berichteten die TV-Nachrichten.



    Was hatte Annan gesagt? In der Berichterstattung der Washington Post:
    In a statement, U.N. Secretary General Kofi Annan said he was "shocked and deeply distressed by the apparently deliberate targeting" of the "clearly marked U.N. post at Khiyam."
    "Apparently" sagte er. Das wurde in der deutschen Berichterstattung ganz überwiegend entweder unterschlagen oder mit "offenbar" oder "offensichtlich" übersetzt.

    So heißt es in dem verlinkten Spiegel-Online Beitrag im Text: "Uno-Generalsekretär Kofi Annan erklärte, er sei geschockt und zutiefst beunruhigt von dem 'offenbar vorsätzlichen' Angriff der israelischen Streitkräfte auf den Uno-Posten im Südlibanon." Die "Welt" übersetzte das "apparently" mit "offensichtlich". Nur wenige Medien wichen von dieser Übersetzung ab, wie zum Beispiel die "Süddeutsche Zeitung", in der Annans Formulierung mit "'anscheinend vorsätzliche(r)' Angriff" übersetzt wurde.




    Was nun heißt "apparently"?

    "To appear" heißt "erscheinen". Es kommt aus dem Altfranzösischen aparoir, dieses wiederum vom Lateinischen apparere, hervorgegangen durch Assimilation aus ad-parere. Parere, das heißt ebenfalls "erscheinen"; das ad- ist ein die Bedeutung unterstreichender Zusatz, der aber kaum etwas an ihr ändert. Folglich:
    apparently
    adv 1: from appearances alone; "irrigation often produces bumper crops from apparently desert land"; "the child is seemingly healthy but the doctor is concerned"; "had been ostensibly frank as to his purpose while really concealing it"-Thomas Hardy; "on the face of it the problem seems minor" [syn: seemingly, ostensibly, on the face of it]
    2: unmistakably (`plain' is often used informally for `plainly'); "the answer is obviously wrong"; "she was in bed and evidently in great pain"; "he was manifestly too important to leave off the guest list"; "it is all patently nonsense"; "she has apparently been living here for some time"; "I thought he owned the property, but apparently not"; "You are plainly wrong"; "he is plain stubborn" [syn: obviously, evidently, manifestly, patently, plainly, plain]
    Quelle: WordNet ® 2.0, © 2003 Princeton University; hier zitiert.


    Da haben wir's: Mit "apparently" kann man etwas aussagen und nachgerade das Gegenteil. Wenn Annan von "apparently deliberate" sprach, dann kann er gemeint haben: Ganz offensichtlich absichtlich. Oder auch: Dem Anschein nach absichtlich.



    Mit der rühmenswerten Ausnahme der "Süddeutschen Zeitung" und einiger weniger anderer Medien scheint diese Doppeldeutigkeit kaum einem Redakteur aufgegangen zu sein. Man wählte - ob nun aus Unkenntnis des Englischen oder aus einer Voreingenommenheit gegenüber Israel heraus - fast durchgängig diejenige Lesart, die Annan als Ankläger gegenüber Israel erscheinen ließ.

    Dabei hätte man es mindestens seit Mittwoch besser wissen können.

    Die Aussage, mit deren Exegese wir uns jetzt beschäftigen, machte Annan in Rom, am Vorabend der Konferenz, die sich dort traf, um die Situation im Nahen Osten zu beraten. Nach dem Ende dieser Konferenz gab es am Mittwoch eine Pressekonferenz, die CNN übertrug.

    Annan wurde auf seine Äußerung angesprochen, und der ihn fragende Reporter implizierte in seiner Frage dasselbe, was in den deutschen Berichten behauptet worden war: Daß Annan Israel einen absichtlichen Angriff auf den UNO-Posten vorgeworfen habe.

    Darauf reagierte Annan scharf und forderte den Journalisten auf, genauer zu zitieren. So habe ich es bei CNN gehört; allerdings habe ich ein Wortprotokoll dieser Pressekonferenz bisher nicht gefunden.

    Die "Jerusalem Post" faßt aber die Bemerkung Annans richtig zusammen:
    Annan issued a statement Tuesday night expressing "shock and deep distress" over what he called the "apparently deliberate targeting" of the UN observer post.
    He seemed to soften the sharp language at a press conference after the Rome conference Wednesday, stressing that in his original statement he said the attack was "apparently deliberate."
    "The statement said 'apparently deliberate targeting,'" Annan said, stressing that the word "apparent is important in this."


    Daraus geht hervor, daß Annan das "apparently" nicht im Sinn von "offensichtlich", sondern im Sinn von "anscheinend" verstanden wissen wollte.

    Aber in der deutschen Presse habe ich über diese Richtigstellung kaum etwas gefunden. So wenig, wie über die Stellungnahme des kanadischen Ministerpräsidenten Harper (bekanntlich war ein Kanadier unter den Opfern des Angriffs gewesen):
    Harper indicated he did not agree with UN Secretary General Kofi Annan's characterization of the Israeli hit as "deliberate targeting" of UN personnel. "I certainly doubt that to be the case, given that the government of Israel has been co-operating with us in our evacuation efforts, in our attempts to move Canadian citizens out of Lebanon, and also trying to keep our own troops that are on the ground involved in that evacuation out of harms way. So, I seriously doubt that," he said.


    Eine wichtige Meldung, sollte man meinen, eine Meldung vom Typus "Man Bites Dog". Ich habe eben noch einmal in Paperball nachgesehen, welche deutsche Medien sie gebracht haben. Genau zwei: die "Rheinpfalz" und "Köln.de".

    Zwei Provinzmedien. Aber immerhin.

    27. Juli 2006

    Der Letzte







    Der Máximo Líder, inzwischen meist Comandante in Jefe, vergangene Nacht im Cubanischen Fernsehen "Cubavision".



    Solche Reden werden mehrfach pro Woche ausgestrahlt. Sie dauern jeweils mehrere Stunden.

    Die thematische Konstante ist die Lobpreisung des cubanischen Sozialismus und die Verdammung des Kapitalismus. Ansonsten erzählt Castro anscheinend das, was er gerade gelesen oder gehört hat oder was ihm sonst so durch den Kopf geht. Stundenlang. Ohne roten Faden, assoziativ aneinandergereiht.

    Manchmal stellt er Fragen an seine Zuhörer wie das Kasperle. Die antworten dann im Chor, und Castro wackelt mit dem Kopf und nickt.



    Nein, zum Lachen ist er nicht, einer der schlimmsten noch lebenden Diktatoren, der Letzte der kommunistischen Revolutionäre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Er gehörte für das, was er seinem Volk angetan hat, vor Gericht gestellt wie Saddam Hussein.

    Aber es scheint ihm zu gehen wie Mao: Noch gilt er Vielen als großer Staatsmann. Was er angerichtet hat, wird erst allgemein zur Kenntnis genommen werden, wenn er tot und/oder wenn seine Diktatur zusammengebrochen ist.

    26. Juli 2006

    Die Deutschen und das Atom (4): Tschernobyl und die Folgen

    Wie im dritten Teil beschrieben, hatte sich im Lauf der siebziger Jahre eine politisch sehr aktive "Anti-AKW-Bewegung" gebildet, die über die extreme Linke hinaus in die SPD, die Gewerkschaften und auch in das hineinwirkte, was ich das romantische Bürgertum genannt habe. Aber sie war eben doch auf diese Teile der Gesellschaft beschränkt, blieb also eine Minderheit. Die Leute, die vor Brokdorf randalierten und mit "Krallen" (einer Art Enterhaken) die Absperrungen zu überwinden versuchten, die Anti-AKW-Demonstranten im Bonner Hofgarten 1979, die zottelhaarigen Alternativen, die vor Gorleben ihre "Republik Freies Wendland" proklamierten - das waren keine Repräsentanten der Mehrheit der Deutschen, und es sah bis Mitte der achtziger Jahre nicht so aus, als könnten sie das jemals werden.

    Das änderte sich schlagartig, innerhalb weniger Tage, als der atomare Unfall in Tschernobyl passierte. Ein Unfall, der sehr bald als "GAU" bezeichnet wurde, obwohl er genau das nicht war - der "größte anzunehmende Unfall", nämlich eine Kernschmelze, die zum Durchschmelzen des Reaktors führt. Das Wort "Gau" drang aber fast sofort in die Umgangssprache ein; bald sprach man vom "Gau" eines katastrophal geschlagenen Fußballvereins oder vom "Gau" einer Partei, die eine schlimme Wahlniederlage erlitt.



    Ich kann mich noch gut an diese Tage erinnern, ähnlich wie an den Tag von Kennedys Ermordung, der Mondlandung, des Mauerfalls. Es gab zunächst Berichte aus skandinavischen Ländern von einem Anstieg der Radioaktivität, deren Quelle anfangs unklar blieb. Im Lauf dieses Tages - des 27. April 1986 - und der folgenden Tage wurden die Berichte immer bedenklicher. Die sowjetischen Behördern mauerten zunächst, bis schließlich die Wahrheit herauskam, daß es in einem sowjetischen AKW einen schweren Unfall gegeben hatte.

    In den Tagen danach wurden immer neue Meßwerte mitgeteilt. Man begann sich ein Bild davon zu machen, wie sich eine "Wolke der Radioaktivität" aus dem Osten näherte und allmählich über Deutschland hinwegzog.

    Das Szenario hatte alle Merkmale eines Katastrophenfilms. Die deutschen Behörden beschwichtigten zunächst - auch das kannte man aus diesen Filmen - und schwenkten dann (anders als zB in Frankreich, wo weiter abgewiegelt wurde) auf ein geradezu groteskes Überreagieren um.

    So wurden Kinderspielplätze geschlossen. Landwirte wurden aufgefordert, Feldfrüchte unterzupflügen. Es wurde empfohlen, den Umstieg von der Winterfütterung mit Heu auf die Sommerfütterung zu verschieben. Die Milchproduzenten trennten die Molke von der Milch ab, weil sie als besonders strahlenbelastet galt. Diese Molke, die weniger strahlte als mancher Dünger, wurde verwahrt wie etwas Hochgiftiges. (Noch zehn Jahre nach Tschernobyl wurde sie in Bayern gelagert.) "Verstrahle Molke" wurde zum Sinnbild für die unsichtbaren Gefahren, die diese radioaktive Wolke über uns gebracht hatte.

    Es gab zahllose Auftritte von ExpertInnen, die Empfehlungen gaben, was man essen durfte und was nicht. Es gab Eltern, die ihre Kinder tagelang nicht auf die Straße ließen. Als besonders gefährlich galt es, die Kinder auf Rasen spielen zu lassen, weil sich dort die Radioaktivität besonders gut niederschlagen konnte. In den Zeitungen erschienen täglich Meldungen über die aktuell gemessene Radioaktivität in den einzelnen Regionen, bei den einzelnen Produkten. "Becquerel" wurde zu einem Maß, das bald jedem so geläufig war wie Meter und Kilogramm.



    Kurz, es war das Hereinbrechen eines Unsichtbaren Feindes. Kein GAU, aber ein Trauma. Und danach waren die Deutschen - ihre Mehrheit - wie verwandelt, was die Haltung zur friedlichen Nutzung der Nuklearenergie anging.

    Die Warner, die AKW-Gegner hatten Recht gehabt, so dachten viele. Was die Haltung einer radikalen Minderheit gewesen war, wurde mehrheitsfähig.

    Die Partei der Grünen, die 1983 ganz knapp die Fünfprozenthürde übersprungen hatte, erreichte bei den Bundestagswahlen 1987 mehr als acht Prozent. Wichtiger noch: In der SPD, die zuvor hinsichtlich der Kernenergie gespalten gewesen war, in der die Befürworter aber immer die Mehrheit gehabt hatten, erreichten die Kernkraftgegner nun sehr schnell eine große Mehrheit. Schon im August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag den "Ausstieg aus der Kernenergie", der dann 1989 in das Berliner Programm aufgenommen wurde.

    Es war konsequent, daß die SPD und die Grünen, als sie 1998 die Regierung übernahmen, das umsetzten, was sie zuvor beschlossen und ihren Wählern angekündigt hatten: Den schrittweisen "Ausstieg aus der Atomenergie".



    Es war, wie diese Folge von Beiträgen zeigen sollte, ein deutscher Sonderweg. Geprägt durch Besonderheiten der deutschen Geschichte, der deutschen Geographie.

    Ein Weg, der drei spezifisch deutsche Ursachen gehabt hatte: Zuerst die in Deutschland ungewöhnlich starke Bewegung "Kampf dem Atomtod", eine Reaktionen auf die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Atombombenabwürfe in Japan. Sodann die Entwicklung, die in Deutschland die weltweite Jugendrevolte Ende der sechziger Jahre genommen hatte, hinein in eine "Anti-AKW-Bewegung" als einem Instrument der Linksextremen, Anhänger zu mobilisieren und ihre Propaganda in die gesamte Linke hineinzutragen. Und schließlich die geographische Lage Deutschlands, aufgrund deren die Folgen des Atomunfalls von Tschernobyl besonders ernst genommen wurden.

    Zusammen führte das dazu, daß die Frage der Nuklearenergie in Deutschland nicht unter dem Gesichtspunkt der technischen und ökonomischen Zweckmäßigkeit diskutiert wurde und wird, sondern als weltanschauliche, als moralische, ja als nachgerade religiöse Frage.

    Insofern war dieses Thema repräsentativ für die Ideologisierung und Moralisierung der Politik, die Deutschland von den siebziger bis zu den neunziger Jahren geprägt hat und die in der rotgrünen Periode zwischen 1998 und 2005 kulminierte.

    Jetzt verschwindet allmählich der Mehltau, der sich in dieser Zeit auf unser Land gelegt hatte. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das Thema Nuklearenergie auch in Deutschland, sogar in Deutschland, wieder vernünftig diskutiert werden kann.




    Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker
  • 25. Juli 2006

    Ohne Anrede

    Ungefähr 1960 bin ich beim Trampen nach Paris von einem amerikanischen Offizier mitgenommen worden, der auf dem Weg nach Fontainebleau war, damals noch das Nato-Hauptquartier in der Nähe von Paris. Er war zuvor in Vietnam als Ausbilder tätig gewesen und war - schon damals, noch vor Beginn des eigentlichen "Vietnam-Kriegs" - skeptisch hinsichtlich der militärischen Erfolgsaussichten gegen die Kommunisten.

    Ich fand sehr interessant, was er über die Soldaten der Regierung von Saigon erzählte, die er hatte ausbilden sollen ("They don't drink milk!" war eine seiner vernichtendsten Kennzeichnungen). Vor allem aber habe ich in Erinnerung, wie er bejahte und verneinte. Wenn er mir zustimmte, dann sagte er "Yes, Sir!", und wenn er widersprach, dann sagte er "No, Sir!".

    Ich fühlte mich dadurch irgendwie anerkannt, ja geradezu geehrt, mit meinen noch nicht zwanzig Jahren. Und es machte mich zum ersten Mal auf einen seltsamen Mangel der deutschen Umgangssprache aufmerksam: Wir können nicht anreden.



    Im Französischen redet man Fremde mit Monsieur, Madame, Mademoiselle an. Und das tut man bei allen Gelegenheiten. Wenn ich in Frankreich eine Bäckerei betrete, dann grüße ich die Verkäuferin mit "Bonjour, Madame" und nicht einfach mit "Bonjour". Wenn ich einen Polizisten anspreche, um ihn etwas zu fragen, dann sage ich: "Pardon, Monsieur". Einfach nur Bonjour, Au revoir, Oui und Non zu sagen, ist unhöflich. Damit gibt man sich als entweder ungebildet oder als Boche zu erkennen.

    Ähnlich ist es in vielen anderen Sprachen: Wenn man mit jemandem redet, dann redet man ihn auch an. Man redet sozusagen nicht in den Wind, ins Nichts hinein, sondern man "wendet sich" an jemanden. "S'adresser à quelqu'un" heißt das im Französischen; entsprechend "to address someone" im Englischen. Von Spätlateinisch ad-directiare, entstanden aus dirigere, hinwenden.

    Sir und Madam, Mijnfrouw und Mijnheer, Signor und Signora - in fast allen zivilisierten Völkern gibt es diese Anreden, die es uns erleichtern, höflich miteinander umzugehen.



    Nur im Deutschen nicht. Genauer: Nicht mehr. Wie in den anderen Sprachen gab es in Deutschland natürlich diese Anredeformen, die ursprünglich Höhergestellten vorbehalten gewesen waren, und die dann zu Formen des allgemeinen Umgangs miteinander wurden: Mein Herr, mein Fräulein, gnädige Frau.

    Aber dem Deutschen sind sie abhandengekommen. Wann, wie und warum das eigentlich geschah, weiß ich nicht genau.

    In den Zwanziger Jahren waren sie jedenfalls noch üblich, diese Anreden. "Sie existieren, mein Herr, dies kann ich nicht bestreiten" heißt es zum Beispiel in Hermann Hesses "Kurgast", erschienen 1925. Und wenn in dem Musical "Cabaret" ein Song den Titel "Mein Herr" trägt, dann ist das durchaus zeitangemessen.

    Ich vermute, daß diese Höflichkeiten in der Nazi-Zeit aus dem Deutschen verschwanden. Mag sein, daß auch die egalitäre Nachkriegsgesellschaft, in der die Klassen so durcheinandergewirbelt wurden, wie in kaum einem nichtkommunistischen Land Europas, das Ihrige dazu beigetragen hat.

    Jedenfalls waren Anreden wie "mein Herr" und "gnädige Frau" schon in meiner Kindheit in den fünfziger Jahren aus der Umgangssprache verschwunden. Nur noch Kellner benutzten sie, allenfalls der Maßschneider. Oder Verkäufer, die sich beim Kunden einschmeicheln wollten.



    Wie wurde die Lücke gefüllt? Erbärmlich, meist aber gar nicht.

    Das "mein" benutzte man nicht mehr, aber das "Fräulein" blieb zunächst noch erhalten. "Fräulein, darf ich Sie mal was fragen?", das war noch in den sechziger Jahren üblich. Im Hessischen gern ins gemütliche "Frolloische" transformiert. "Ei, Frolloische, was hawwe Se dann?" - so fragte der Hesse, wenn er um das Wohlergehen einer junge Frau besorgt war.

    Und "die Frollein", das war zu meiner Schulzeit die Lehrerin. Mit dem "die", das an die Stelle des grammatikalischen Geschlechts das natürliche Geschlecht setzte. Auch die verheiratete oder verwitwete ältere Lehrerin war "unsere Frollein". Und im Lokal rief man "Frollein!"; ungerührt selbst dann, wenn die Kellnerin vielleicht schon vielfache Großmutter war.

    Was hätte man auch sonst rufen sollen? "Bedienung!"? "Kellnerin!"? Alles unhöflich bis herabsetzend. "Frollein", das war immer noch das Höflichste, was man hatte.



    Und diese letzte Zuflucht der Anrede-Höflichkeit wurde uns Anfang der siebziger Jahre von der Frauenbewegung weggenommen.

    Es gab damals ja die seltsamsten sprachkritischen Bemühungen im Umfeld der "feministischen Linguistik". Im Englischen stieß man sich an "History" und forderte "Herstory". Und im Deutschen schien den Feministinnen das "-lein" beanstandenswert. Es gebe ja auch kein "Herrlein", argumentierten sie. Also weg mit dem "Fräulein". Auch die 16jährige "Auszubildende" (dazu hatte man die Lehrlinge befördert), auch die 18jährige Studentin hatten künftig Anspruch auf die Anrede "Frau".

    Damit hatten wir Deutschen, die wir uns auch in dieser Hinsicht demütig dem Feminismus unterwarfen, für Frauen unbekannten Namens endgültig keine Anrede mehr zur Verfügung; wie schon zuvor bei Männern.

    "Fräulein", das war auch ohne das "mein" oder das "gnädiges" gegangen. Aber man kann zu einer unbekannten Dame nicht einfach nur "Frau!" sagen. Dieses sozusagen nackte "Frau!" ist dem Fischer mit siener Fru vorbehalten und anderem Märchenpersonal. Und man kann ja nicht gut jemanden mit "Herr!" anreden. Es sei denn, man will ihn ärgern - wie Herbert Wehner, dem das "Herr!" noch aus alten Zeiten geläufig gewesen war und der es im Bundestag einsetzte, wenn er einem Konservativen eins auswischen wollte.



    Seither behelfen wir uns, wir Deutschen, mehr schlecht als recht, mit List und Tücke.

    Gut dran ist man noch beim Suchen nach einer Anrede, wenn jemand eine Funktion hat, die notfalls eine Bezeichnung hergibt: "Herr Ober", auch wenn's keineswegs der Oberkellner ist. "Herr Schaffner" im Zug, "Herr Doktor" in der Klinik, "Herr Professor" in der Uni. Bei Frauen verbleibt meist nur die Funktionsbezeichnung. Der Krankenhauspatient sagt: "Schwester, bringen Sie mir doch bitte einen Tee". "Schwester" heißt, faute de mieux, auch die Arzthelferin, selbst wenn ihr ein Keuschheitsgelübde nie in den Sinn gekommen ist. Und die Schubse im Flieger kann man mit "Stewardess" anreden. Anders als "Kellnerin" hat das nichts Herabsetzendes; das stammt vermutlich aus der Zeit, als man als Stewardess das Abitur haben mußte.

    Aber das sind Ausnahmen. Meist behilft man sich mit einer von zwei Notlösungen: Den Interjektionen und den Witzen.



    Interjektionen: Man stößt, statt jemanden anzusprechen, einen Ruf hervor. "Hallo!" wird der Kellner gerufen. "Sie da!" sagt man, wenn man jemanden auf sich aufmerksam machen möchte. Gäste in Restaurants veranstalten mehr oder weniger eindrucksvolle Pantomimen, wenn sie den Kellner rufen wollen, und erzeugen zur Untermalung nicht selten grunzende oder stöhnende Laute. In der jüngeren Generation sind Interjektionen wie "Ey!" zu hören, die aktuelle Variante des alten "Heh da!".

    Oder auch "Alter!", was uns zur zweiten Lösungsmethode bringt - mehr oder weniger witzig gemeinten Bezeichnungen für das Gegenüber. Im Arbeitsleben wird der Unbekannte gern mit "Meister" angeredet. "Junger Mann" und "Junge Frau" sind auch dann noch üblich, wenn dem Gegenüber schon die weißen Haare in den Nacken hängen. Kumpelhaft-Kräftiges ist ebenfalls beliebt, auch wenn das "He, Kumpel" selbst wohl eher aus der Mode gekommen ist. Aber ein herzliches "Ey, du Träne" oder "Du Penner" hört man schon mal.

    Und an einem Zimmer in einer Uni fand ich vor ein paar Jahren eine Notiz, durch die der Bewohner dieses Dienstzimmers einem anderen mitteilte, wo er aktuell zu finden sei. Anrede: "Du Arsch!".

    24. Juli 2006

    Randbemerkung: Gefahren und ihre Wahrnehmung

    An diesem Wochenende, liest man heute in Spiegel-Online, sind mindestens sieben Menschen bei Badeunfällen zu Tode gekommen.

    Bis Ende Juni waren es, laut dem DLRG-Sprecher Martin Janssen, bereits 250 Menschen in Deutschland, die beim Baden ertranken oder sonstwie umkamen. Das sind mehr Tote als in Jahren mit einem kühlen Sommer, aber nicht so sehr viel mehr. Im Durchschnitt sind es in der ersten Jahreshälfte ungefähr 175 Tote.

    In französischen Zeitungen gibt es eine Rubrik "Faits Divers", Vermischtes. Und im Sommer haben darin viele dieser Zeitungen eine Unterkategorie: "Les Noyades" - die Ertrinkungen. Täglich wird über die - sozusagen - neuesten Ertrunkenen berichtet, in einer festen Rubrik.



    Faits Divers - kleine, vermischte Meldungen. Man liest das, schüttelt den Kopf und ist nicht sonderlich erschüttert - es sei denn, der Unfall geschah in der eigenen Umgebung, oder das Opfer ist für den Leser aus einem anderen Grund persönlich interessant.



    Nehmen wir an, die sieben Toten des jetzigen Wochenendes wären nicht an unterschiedlichen Stellen ertrunken, sondern, sagen wir, alle zugleich bei beim Untergang eines Ausflugsdampfers ums Leben gekommen. Dann würde das nicht in einem kleinen Artikel erwähnt werden, sondern Schlagzeilen machen; uns vermutlich tagelang beschäftigen.

    Warum ist das so? Warum hängt unser Interesse, unser Mitgefühl, unser Entsetzen davon ab, ob Menschen an unterschiedlichen Orten sterben, oder gemeinsam am selben Ort?

  • Ein offensichtlicher Grund ist, daß das eine - die getrennten Einzelunfälle - häufig ist; während das andere - das gemeinsame Ertrinken einer Gruppe von Menschen - selten vorkommt. Nachrichtenwert hat das, was vom Gewohnten abweicht. Man Bites dog, nicht Dog Bites Man.

  • Zweitens regt ein solcher größerer Unfall aber - eben aufgrund seiner Größe - auch unsere Vorstellungskraft mehr an als der gewöhnliche Badunfall, bei dem jemand einen Herzschlag bekommt oder sich beim Kopfsprung das Genick bricht. Von einem "schrecklichen", gar einem "tragischen" Unfall sprechen wir meist erst dann, wenn eine größere Zahl von Opfern zu beklagen ist. Es sei denn, der Einzelunfall trägt spektakuläre Züge - weil dem Tod des Opfers vielleicht ein dramatischer Rettungsversuch vorausging, weil es sich um eine prominente Person handelt oder dergleichen.



  • Es ist also offenbar eine Frage der Häufigkeit und eine Frage des spektakulären Charakters, wie sehr uns ein solcher Vorfall interessiert oder wie sehr er uns kalt läßt. So hat es auch die wissenschaftliche Risikoforschung ergeben. Wie man zum Beispiel hier nachlesen kann, überschätzen wir die Gefährlichkeit von Ereignissen, deren Wahrscheinlichkeit gering ist, die aber einen dramatischen ("katastrophalen" Charakter haben). Umgekehrt unterschätzen wir die Gefährlichkeit von solchen Ereignissen und Sachverhalten, die häufig auftreten, die aber nicht spektakulär sind.

    In einem drastischen Beispiel aus dem verlinkten Artikel: Das Risiko, daß ein Kind von einem Fremden auf dem Schulweg sexuell belästigt wird, ist extrem gering - viel geringer, als das Risiko für seine Gesundheit, wenn es nicht auf die Straße gelassen wird und aus Trägheit Fettleibigkeit entwickelt. Aber die Attacke durch einen Fremden ist eine schlimme, plastische Vorstellung, während ein schleichendes Risiko für die Gesundheit kaum wahrgenommen wird.



    Diese Eigenarten der Wahrnehmung von Gefahren haben massive praktische Konsequenzen. Denn die Politiker bemühen sich ja, just jenen Gefahren besonders sorgsam zu begegnen, die von ihren Wählern als besonders groß wahrgenommen werden.

    Kommt es zufällig einige Male nacheinander vor, daß ein Hund Kinder anfällt, dann löst das folgerichtig eine Welle von staatlichen "Hundeverordnungen" aus, samt Einrichtung einer wuchernden Bürokratie, deren es zu ihrer Durchsetzung bedarf. Tötet ein Junge mit einer Waffe, die er seinem Vater entwendet hat, in einem Amoklauf Menschen, dann wird alsbald die Waffenkontrollgesetzgebung verschärft.

    Diese Maßnahmen bleiben, die aus ihnen hervorgehende Bürokratie bleibt, wenn der Anlaß längst vergessen ist. So steuern wir auf immer mehr Fürsorge des Staats für "seine Menschen", auf immer mehr Gesetze, Verordnungen, Regularien zu, die uns vor den Risiken des Lebens schützen sollen.

    Und immer mehr Hirten wachen darüber, daß die wir, die beschützte Herde, keiner Gefahr ausgesetzt werden. Nur müssen wir, anders als diese Schafe, unsere Hirten auch noch alimentieren.

    23. Juli 2006

    Die Deutschen und das Atom (3): Die APO entläßt ihre Kinder

    Im ersten und im zweiten Teil dieser kleinen Serie ging es um den "Ausstieg" aus der Atomenergie als einem seltsamen deutschen Sonderweg; und es ging um die erste Phase seiner Vorgeschichte: Eine heftige, historisch wohlbegründete und sehr emotionale Ablehnung der Atombombe bei einer gleichzeitig ausgesprochen positiven Bewertung der Atomenergie, der man gerade in Deutschland besonders freundlich gegenüberstand, weil sie versprach, uns wieder an die Spitze des technologischen Fortschritts zu führen.



    Das war die allgemeine Stimmung bis Anfang der siebziger Jahre gewesen. Wie konnte sich innerhalb von gut zwei Jahrzehnten die Meinung der Deutschen so radikal ändern, daß der von der rotgrünen Koalition 1998, sofort nach dem Machtwechsel, verkündete und Mitte 2000 durch eine Vereinbarung mit der Industrie besiegelte "Ausstieg aus der Atomenergie" auf breite Zustimmung in der Bevölkerung bauen konnte?

    Es gab dafür zwei Ursachen. Die eine geht zurück auf das Ende der APO (der "Außerparlamentarischen Opposition") der späten sechziger Jahre, die gewissermaßen - sit venia verbo - freie Radikale hinterließ, die nach einer Bindung suchten. Die andere war der Atomunfall in Tschernobyl im April 1986.

    Das eine hatte zur Folge, daß eine politisch sehr aktive Minderheit gegen die Atomenergie agitierte und allmählich Anhänger bis hinein in die gemäßigte Linke gewann, auch bis hinein ins, sagen wir, romantische Bürgertum. Das zweite, der Unfall von Tschernobyl, führte sehr plötzlich und sehr nachhaltig dazu, daß die Position dieser linksextremen und grün-alternativen Minderheit zur Mehrheitsmeinung wurde.



    Anfang der siebziger Jahre sollte in Südbaden ein neues AKW gebaut werden; ursprünglich in Breisach und dann in Wyhl. Es gab die lokalen Proteste, die solche großindustriellen Bauvorhaben in ländlichen Gebieten oft begleiten. Die Winzer fürchteten um den Ruf ihres Weins. Diejenigen Südbadener, die vom Tourismus lebten, fürchteten um den Ruf der Region als einer beschaulichen ländlichen Gegend.

    Und sodann war dieses Murren, das sehr bald Formen von "Widerstand" annahm, auch ein Protest der eigensinnigen Alemannen gegen etwas, das ihnen von "denen da oben" aufoktroyiert werden sollte. Sie waren schon immer Dickköpfe gewesen, diese Südbadener, die nur nach großem Widerstand in den Südweststaat zu holen gewesen waren. Sie hatten schon immer etwas ungewöhnlich Bodenständiges, diese Leute im Dreyländereck, die seit Jahrhunderten auf drei Staaten verteilt lebten und die ihre landsmännische Identität umso mehr zu erhalten gewußt hatten.

    Also, sie protestierten. Sie wollten ihre schöne ländliche "von der Natur begünstigte" (nämlich ungewöhnlich warme) Gegend mit ihrem guten Essen, ihren freundlichen Bewohnern und ihrer alten Kultur nicht durch ein Atomkraftwerk verschandeln lassen. Verständlicherweise, berechtigterweise.



    Nun gab es in der gleichen Zeit eine tiefe Krise in der extremen Linken. Die Träume der APO waren damals zerstoben. Man hatte zu seiner großen Überraschung und Enttäuschung feststellen müssen, daß das "Establishment" nicht der "Papiertiger" war, als den man es durchschaut zu haben glaubte.

    "Die Arbeiter", dieses auserwählte Volk der APO-Intellektuellen, dachten nicht daran, sich der selbsternannten "Avantgarde" anzuschließen. Sie machten sich im Gegenteil lustig über die Revoluzzer. Sie glaubten der Bild-Zeitung mehr als den Aufklärern, die ihnen immer mehr auf den Pelz rückten, bis zu heroischen Taten wie dem Studienabbruch und Übertritt in eine Hilfsarbeiter- Tätigkeit, um näher an den Werktätigen zu sein.

    Aber das alles half nichts. Man kam nicht voran. Die "Bewegung" zerfiel. Es entstanden zahllose "Parteien", die meisten mit einem "K" im Parteinamen, wie KB, KBW, KPD/AO, KPD/ML. Daher wurden sie "K-Gruppen" genannt.



    Diese K-Gruppen nun waren damals, als die Südbadener sich zum Protestieren aufmachten, geradezu verzweifelt auf der Suche nach Themen, die es ihnen ermöglichen würden, doch noch erfolgreich "das Proletariat zu agitieren".

    Sie hatten große Hoffnungen auf Streiks gesetzt, mußten aber zu ihrer Enttäuschung immer wieder erleben, daß die Arbeiter zwar mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten wollten, aber nicht den Sozialismus. Und da war dann auf einmal diese Protestbewegung in Südbaden. "Spontaner Widerstand", der Traum jedes Revoluzzers.

    Kurzum, die lokale, alles anders als sozialistische Protestbewegung wurde von der militanten, immer noch von der Revolution träumenden Linken als der Hebel entdeckt, mit dem man die "Massen politisieren" würde können.



    Und sie waren über alle Maßen erfolgreich, die linken Agitatoren. Dazu trug nicht unerheblich der Umstand bei, daß etwa um die gleiche Zeit ein Buch publiziert wurde, das sich verkaufte wie warme Semmeln - Holger Strohms 1973 erschienener Bestseller "Friedlich in die Katastrophe", der schnell die sagenhafte Auflage von 400 000 verkauften Exemplaren erreichte. Was in der zerfallenden APO an Technikfeindlichkeit, an Kapitalismusfeindlichkeit, an Fortschrittsfeindlichkeit entstanden war, fand in diesem Buch gewissermaßen seinen Kristallisationspunkt.

    Es entstand die "Anti-AKW-Bewegung", die sich bald über Südbaden hinaus ausdehnte - Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf waren die weiteren Wirkungsstätten. Ob neuer Atommeiler, ob Wiederaufbereitungsanlage, ob Endlager - wo immer etwas geplant oder im Bau war, das die friedliche Nutzung der Nuklearenergie voranbringen sollte, waren nun die Gegner zur Stelle. Manchmal friedlich, meist aber mit mehr oder weniger großer Bereitschaft zum Gesetzesbruch, den man als "Gewalt gegen Sachen" als "passiven Widerstand", als "zivilen Ungehorsam" und dergleichen kaschierte.

    Das Ergebnis war, daß - zunächst in derjenigen Minderheit der Bevölkerung, die für diese Propaganda der Tat empfänglich war - die Angst, die bis dahin der Atombombe gegolten hatte, auf die Nukleartechnologie als solche übergriff.



    Ein Beispiel für die diese Agitation der Linksextremisten findet man in dieser Verlautbarung von 1977. "Das volksfeindliche Atomprogramm der Schmidt-Regierung muß fallen!" war eine der Parolen. Die mittlerweile genügend angeheizte Angst vor der Atomtechnologie sollte auf die Mühlen der Agitation gegen die "Volksfeinde" der sozialliberalen Koalition geleitet werden.

    Und natürlich blieb die Entdeckung, daß man mit dem Thema Nuklearenergie "die Massen erreichen" konnte, nicht nur den gelegentlich kriminellen Linksextremisten nicht verborgen, sondern sie erreichte bald auch die von ihrem ganzen Politikverständnis her verbrecherischen Linksextremisten wie die "Revolutionären Zellen" und die "Rote Zora".

    "Einige von uns haben sich an den drei Brokdorf-Demos und der Grohnde-Demo beteiligt. Um ehrlich zu sein, lag zu diesem Zeitpunkt unser Interesse an der Anti-AKW-Bewegung hauptsächlich darin, daß sich dort eine breite Militanz entwickelte, daß es dort Putz gab" kann man zB in bemerkenswerter Offenheit hier lesen. Das Zitat stammt aus diesem Werk über die kriminelle Linke; eine "bearbeitete und kommentierte Dokumentation der theoretischen Positionen und praktischen Aktivitäten der Revolutionären Zellen und der Roten Zora." (Einer WebSite, die offen und ohne erkennbare Kritik einer Apologie des politischen Verbrechens Raum gibt; das nur nebenbei).



    Fassen wir zusammen: Sieht man von der "Friedensbewegung" ab, so waren die linksextremen Agitatoren nirgends so erfolgreich wie beim Thema Nuklearenergie. Aber es war doch auch wieder nur ein Erfolg, der auf das linksalternative und bürgerlich-romantische Spektrum beschränkt blieb.

    Daß aus dieser Minderheitenposition eine breite Überzeugung der Deutschen wurde, hat seine Ursache in dem Unfall von Tschernobyl. Damit befaßt sich der vierte und letzte Teil dieser kleinen Serie.



    Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker
  • 22. Juli 2006

    Orthographie, postmodern

    Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, nähert sich Deutschland (und mit ihm Österreich und die Schweiz) einem historischen Datum: In gut einer Woche, am 1. August, wird die Neue Deutsche Rechtschreibung verbindlich für Schulen und für Behörden, und sie wird damit sehr wahrscheinlich auch von den meisten Medien übernommen werden. Für die nächsten Tage ist das Erscheinen des zugehörigen neuen Duden annonciert. Genauer: Des Werks Duden, Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, herausgegeben von der Dudenredaktion. Dudenverlag, Mannheim u. a., 2006. 1216 S., Preis 20 Euro. In die Buchhandlungen kommt es Anfang nächster Woche; die Fachleute haben bereits ihr Vorausexemplar erhalten.

    Wie schön, könnte man sagen: Endlich ist das jahrzehntelange Gezerre vorüber. Es ist zwar ein ebenso überflüssiges wie mißratenes "Reformwerk" herausgekommen. Aber sei's drum. Schließen wir die Akte. Breiten wir den Mantel des Schweigens über den Bastard. Lassen wir den Vorhang fallen in diesem Schmierentheater. Vergessen wir die Sesselfurzer und ihre Kritiker - die schmalbrüstigen Befürworter des Reformwerks ebenso wie seine sprachgewaltigen Schmäher.



    Ja, schön wär's. In der gestrigen FAZ aber liest man etwas anderes, aus der Feder des sehr kundigen Theodor Ickler, Professor für Deutsch als Fremdsprache, Träger des Deutschen Sprachpreises für seine Arbeiten zur Orthographietheorie, Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung bis Februar dieses Jahres, als er diesen unter Protest verließ.

    Dieser Rat war ins Leben gerufen worden, um nach den immer lauteren Protesten gegen das reformatorische Werk, nach dem erfolgreichen Volksentscheid in Schleswig-Holstein, zu retten, was zu retten gewesen war.

    Die schlimmsten Verballhornungen des Deutschen, welche die eifrigen Reformatoren sich ausgedacht hatten, sollten wieder rückgängig gemacht, das Ganze halbwegs schlüssig gemacht werden. Aber es kam nicht mehr heraus als die weise Entscheidung, daß die einen wie die anderen Recht haben. Wie in dem von Freud erzählten jiddischen Witz, in dem der Rebbe, als Richter tätig, dem Kläger Recht gibt und dem Beklagten. Und, von einem Dritten auf die Inkonsistenz hingewiesen, sagte: Du hast auch Recht.



    Der Rat hat, schreibt Ickler, "in mühevollen Beratungsrunden die genannten Teile der Rechtschreibreform so weit repariert, daß zahlreiche sinnvolle Schreibweisen zumindest wieder zugelassen sind. Allerdings sollen die Reformschreibweisen von 1996 großenteils weiterhin nicht falsch sein. Dadurch ist eine Unmenge von "Varianten" entstanden, die der Duden nun durch dreitausend "Empfehlungen" wieder einzudämmen versucht."

    Mit anderen Worten, man hat sich postmodern aus der Affäre gezogen: Man schlug sich nicht auf die Seite der Reformatoren. Man brachte aber auch nicht den den Mut auf, den ganzen Wahnwitz zu stoppen und wieder zur deutschen Rechtschreibung zurückzukehren, so wie sie (mit den gelegentlichen Veränderungen, wie sie in jeder lebendigen Sprache allmählich stattfinden) gegolten hatte, seit die deutsche Orthographie überhaupt vereinheitlich worden war.



    Was jetzt kommt, klingt wie eine Satyre (ich erlaube mir diese Schreibweise): Der Duden ist jetzt bunt. So bunt wie die Regenbogenfahne der Alternativen aller Couleur, so bunt wie die Bunt-Alternativen Listen, die einst überall aus dem Humus herauswuchsen, den die Achtundsechziger hinterlassen hatten. Der erste postmoderne Duden wird in wenigen Tagen in den Buchhandlungen zu bestaunen sein. Im Vierfarbendruck!

    Ickler schreibt über diesen Vierfarbendruck: "Er wird im Vorwort und in der Werbung als Vorzug herausgestellt, als wenn die Kunden Kinder wären, die sich an Buntem erfreuen und nicht wissen, daß Buntheit in diesem Fall nur das Ende der deutschen Einheitsorthographie signalisiert. Bei Zusammensetzungen mit wohl- zum Beispiel schwelgt der Duden in Schwarz, Rot und Gelb, weil er zwar die neuen Getrenntschreibungen (nicht weniger als 32 Beispiele!) in Rotdruck anführt, aber in Gelb die herkömmlichen Zusammenschreibungen empfiehlt. Nur bei wohlfühlen wird die neue Zusammenschreibung auch gleichzeitig zur Vorzugsschreibung erhoben. Das Ergebnis ist ein verwirrendes Bild, wie man es bisher von Rechtschreibwörterbüchern nicht kannte."



    Die Dudenredaktion, so erfahren wir von Ickler, gibt eigenmächtig "Empfehlungen" - nicht etwa das, worauf sich der Rat für deutsche Rechtschreibung verständigt hatte, sondern mal das von diesem Empfohlene, mal die Schreibung der Revision von 2004, mal das, was die Reformatoren urprünglich mal ausgeheckt hatten.

    Wer Absurditäten einen gewissen Reiz abgewinnen kann, der mag im einzelnen (oder von mir aus im Einzelnen) nachlesen, was Ickler an Beispielen für die Halbheiten und Widersprüche anführt, die dabei herausgekommen sind.

    Sein sarkastischer Kommentar zu dem besonders trüben Kapitel der Sondervorschriften lautet: "Man sollte die Lehrer davor warnen, bei Korrekturen den neuen Duden mit solchen wunderlichen Sondervorschriften zugrunde zu legen; sie könnten disziplinarische Schwierigkeiten bekommen."

    Zumindest könnten sie, scheint mir, in Schwierigkeiten mit ihrem intellektuellen Gewissen kommen.

    Icklers Fazit: "Man muß den Duden von 1991 zur Hand nehmen, um sich bewußt zu werden, wie sehr die Reform das Aussehen und den ganzen Charakter der Rechtschreibwörterbücher verändert hat. Sie stellen nicht mehr Tatsachen dar, sondern manipulieren die Sprache und versuchen den Wörterbuchbenutzer in eine bestimmte, politisch gewollte Richtung zu drängen."



    Treten wir einen Schritt zurück. Betrachten wir nicht das Für und Wider einzelner orthographischer Regeln und Vorschriften, sondern fragen wir uns, was Orthographie - also das Schreiben gemäß einer Ordnung - eigentlich soll.

    Das offensichtliche Ziel einer einheitlichen Orthographie ist nichts anderes als eben die Einheitlichkeit selbst. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fehlte diese Einheitlichkeit im Deutschen, während sie in anderen Sprache längst herbeigeführt worden war. In Frankreich zum Beispiel wacht seit 1635 die Académie Française über die Reinheit der Sprache überhaupt und über die Orthographie des Französischen im Besonderen. Die Vorstellung, daß diese Akademie alle möglichen Schreibweisen zuläßt und eine davon als ihre sozusagen unverbindliche, persönliche "Empfehlung" hervorhebt, würde einem Franzosen wie ein schlechter Scherz erscheinen.

    Warum eine einheitliche Orthographie? Vorrangig natürlich, weil das der Verständlichkeit dient. Weil man dadurch weiß, was gemeint ist. Aber natürlich auch, weil die gemeinsame Rechtschreibung, die von allen mindestens durchschnittlich Gebildeten der betreffenden Sprachgemeinschaft beherrscht wird, Ausdruck ihrer kulturellen Zusammengehörigkeit ist. So, wie Kultur in allen Bereichen wesentlich darin besteht, Regeln zu schaffen und Normen zu setzen. (Daß Künstler sich mit Erfolg darin versuchen, diese Normen bewußt und spielerisch zu brechen, wie James Joyce und Arno Schmidt das mit den Regeln der Orthographie getan haben, ist eine andere Sache und widerspricht dem nicht).



    Diese Einheitlichkeit der Rechtschreibung war mit der Einführung einer verbindlichen Rechtschreibung durch die Zweite Orthographische Konferenz 1901 erreicht. Seither gab und gibt es keinen Grund zu einer "Reform".

    Der Gedanke, es gebe eine "bessere" und eine "weniger gute" Rechtschreibung, ist als solcher absurd. Die Rechtschreibung muß Regeln folgen, weil man sie sonst nicht erlernen kann. Welche das sind, ergibt sich aus der Geschichte der betreffenden Sprache. Manche Sprachen sind "orthographisch flach", dh. die Rechtschreibung folgt eng der Phonetik. Andere sind "orthographisch tief", dh die Regeln der Orthographie weichen sehr stark von der phonologischen Struktur der gesprochenen Sprache ab, wie im Englischen und im Französischen.

    Weder im Englischen noch im Französischen hat man deshalb jemals ernsthaft eine "Reform" versucht; auch wenn das Käuze wie George Bernard Shaw verlangt haben. Warum im Deutschen?



    Ich weiß es nicht. Ich weiß wirklich nicht, was in den Köpfen derjenigen vorgegangen ist, die in den sechziger und siebziger Jahren dieses Projekt einer "Rechtschreibreform" betrieben und schließlich politisch durchgesetzt haben.

    Mag sein, daß es ein technokratisches Bestreben nach eine sozusagen verordneten - statt gewachsenen - Rechtschreibung war. Das Zurechtstutzen des Organischen, das Beherrschen und Kontrollieren als Motiv. Weg mit dem Historischen, dem Zufälligen, dem Widersprüchlichen - und her mit einer Orthographie, so logisch und in sich konsistent wie eine Programmiersprache. Die Hybris der Technokraten.

    Mag sein - und ich vermute, das war das stärkere Motiv -, daß man die Sprache so "reformieren" wollte, wie man in jener Zeit die ganze Gesellschaft "reformieren" wollte. Mit dem Ziel, daß es keine "Bildungsprivilegien" mehr geben sollte. Eine Rechtschreibung, so einfach, daß auch der Dümmste sie erlernen kann - das mag vielen vorgeschwebt haben.

    Weg mit dem "bürgerlichen Bildungsballast", das war ja damals eine verbreitete Parole. Die Schüler sollten möglichst wenig Zeit auf das Erlernen der Orthographie verwenden müssen, damit man sie umso eindringlicher "befähigen" konnte, "ihre Interessen zu erkennen" und dergleichen.



    Alle diese Verstiegenheiten, diese Weltverbesserungs- phantasien sind glücklicherweise Geschichte. Diejenigen, die sie propagiert haben, gehen dem Ruhestand entgegen oder erfreuen sich seiner schon.

    Nur diese vermaledeite Rechtschreibreform hat eine Eigendynamik entwickelt, die es offenbar aussichtslos macht, des Wahnsinns noch Herr zu werden.

    Ein bunter Duden, mit einer Schreibweise für diesen und einer für jenen - das kommt mir vor wie ein Stück Apo-Verrücktheit im Einundzwanzigsten Jahrhundert. Fritz Teufel und Rainer Langhans sollten für die nächste Auflage das Vorwort schreiben.

    20. Juli 2006

    Stellung nehmen

    Konflikte reizen zur Stellungnahme. Je heftiger, je ernsthafter, je emotionaler ein Konflikt ist, umso mehr scheinen wir dazu zu neigen, das ganze Gewicht unserer Sympathie in eine der Waagschalen zu legen.

    Das ist so beim Sport. Die meisten, auch ich, haben sich auch bei denjenigen WM-Spielen, an denen die Deutschen nicht beteiligt waren, eine Seite ausgesucht, mit der sie "mitfieberten". Sonst wäre das Spiel ja nur halb so spannend gewesen. Im Endspiel war ich zB für Frankreich; entschieden und entschlossen.

    Das ist ebenso im täglichen Leben. Wenn in einer Gruppe - sagen wir, einer Schulklasse, einem Verein oder auch einem Internetforum - Streit ausbricht, dann sammeln sich alsbald Sympathisanten um die Streitenden. Um ihnen zuzusehen, in der Rolle des Publikums, das auch. Aber vor allem, um ihnen beizustehen. Am liebsten in Form von Fraktionen, die anfeuern und ausbuhen, deren Mitglieder sich allerdings ungern selbst den Fährnissen aussetzen, die mit solchen Konflikten einhergehen.



    Dieses Verhalten scheint tief verwurzelt zu sein. Vielleicht gehört es zu unserem archaischen Erbe aus der Zeit, als man nur überleben konnte, wenn man sich der einen oder der anderen Horde, dem einen oder anderen Clan anschloß. Man mußte "Farbe bekennen", also die Kriegsfarben der betreffenden Gruppe übernehmen, die einen als zugehörig kennzeichnete. Schutz bot nur die Gemeinschaft; selbst der Starke war nicht am mächtigsten allein.

    "In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod" heißt es in einem Gedicht des Barockdichters Friedrich von Logau, den Alexander Kluge im Titel eines Films von 1976 variierte. Das paßte zum damaligen Zeitgeist. Die siebziger Jahre - das war eine Zeit des Parteinehmens. "Bürger, laßt das Gaffen sein, kommt heraus und reiht euch ein" skandierte man bei Demonstrationen.



    Das tat man, solange man friedlich durch die Straßen zog. Zunehmend wurde freilich versucht, den Bürgern das Parteinehmen mit härteren, mit gewissermaßen steinharten Mitteln einzubleuen. Und die Strategie der RAF schließlich war im Kern ein Versuch, unsere, der Bürger, Parteinahme mit dem Mittel des Ermordens von Menschen zu erzwingen: Die "Charaktermasken" des Kapitalismus sollten mittels "individuellen Terrors" so in Bedrängnis gebracht, so in Furcht versetzt werden, daß sie mit immer mehr Repression reagieren würden. Schließlich, so dachte man es sich, mit offenem Faschismus.

    Und dann stünde die RAF bereit, um ihnen in einem blutigen Bürgerkrieg Widerpart zu leisten, unter dem Beifall und mittels der Unterstützung der "unterdrückten Massen". Der Massen, die man sozusagen in die politische Entscheidung hineingebombt hatte, in die Parteinahme. Das war die Idee. Das war die Strategie, die diese Leute ausgeheckt hatten, die die Menschen verachteten und für sich das Recht in Anspruch nahmen, über deren Leben und Gesundheit verfügen zu können.



    Intellektuelle neigen eigentlich nicht zur Parteinahme. Wissenschaftler sind darin geübt, auch die andere Seite einer Sache zu untersuchen, Theorien skeptisch zu prüfen, ihre Meinung im Licht neuer Ergebnisse zu ändern. Künstler produzieren, wenn sie gute Künstler sind, etwas, das aspektenreich, oft in sich widerspruchsvoll ist. Nur schlechte Künstler "setzen" einfach eine "Idee" um. Nur schlechte Lehrer fragen ihre Schüler: Was wollte uns der Autor damit sagen?

    Weil das so ist, müssen "engagierte Kunst" und "parteiliche Wissenschaft" von denjenigen, die sie wollen, ausdrücklich propagiert, oft mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden. Zu gewissen Zeiten, in gewissen Systemen hat man das versucht. Mit wenig Erfolg. Die großen Kunstwerke sind fast nie die engagierten, die parteilichen. Diese sind in der Regel zu eindimensional, um bedeutend sein zu können. Jedenfalls über ihre Zeit hinaus.

    Bei den Werken Brechts kann man das daran sehen, daß sie heutzutage kaum noch einen kreativen Regisseur reizen. Shakespeare, auch Schiller, selbst Aristophanes kann man auf immer neue Weise interpretieren. Brecht nicht. Denn er begann ja mit der Interpretation und baute sozusagen ein Stück darum herum. Glänzend "auf seine Art". Aber eine andere Art läßt es eben nicht zu. Es ist parteilich, nicht nur im politischen, sondern auch im ästhetischen Sinn.




    Dieser Beitrag wurde motiviert durch die aktuelle Situation im Nahen Osten.

    Im Bruderzwist zwischen Arabern und Juden ist ein neuer Krieg ausgebrochen (sofern sich eine Grenze zwischen Noch-nicht-Krieg und Schon-Krieg überhaupt noch sinnvoll ziehen läßt; siehe hier). Und es scheint so zu sein wie beim Fußball: Die meisten in Deutschland, obwohl doch mit ihren eigenen Interessen gar nicht tangiert, beziehen Stellung, ergreifen Partei.


    Die versierten Kommentatoren in den Medien lassen in der Regel nur durchblicken, auf welcher Seite sie stehen (die meisten nicht auf der Seite Israels). In den Kneipen, den Familien, auch in den Foren des Internet wird Klartext geredet: Man ist ganz überwiegend gegen Israel. Eine Minderheit ist prononciert für Israel. Tertium non datur, so scheint es.



    Ich bin nicht gegen Israel, überhaupt nicht. Mir erscheint dieses antiimperialistische Gequatsche, dieses antisemitische Ressentiment, das sich als Empörung über die "Überreaktion" Israels tarnt, erbärmlich. Da findet wieder mal der Schulterschluß zwischen den ganz rechten und den ganz linken Stammtischen statt. Man ist vereint im Antiamerikanismus. Also ist man auch vereint im "Antizionismus". Also ist man auch vereint in der Stellungnahme zur jetzigen Situation: Die bösen Israelis killen massenhaft unschuldige Zivilisten, obwohl ihnen doch nur ein paar Soldaten abhanden gekommen waren.

    Dieses Schlichtdenken wird genährt durch (und es nährt selbst wiederum) eine extremistische Presse, die hemmungslos parteilich ist; in der die Parteilichkeit zur Nachrichtenfälschung wird.



    Aber ich kann auch nicht für diejenigen Partei ergreifen, die sich Israel an die Seite stellen.

    Ich bin zwar emotional auf der Seite der Juden. Ich bewundere dieses Volk, das in Jahrtausenden eine Intelligenz, auch eine Weisheit hervorgebracht hat, die ihresgleichen suchen. Kurz, meine spontane Sympathie liegt bei Israel.

    Aber für eine Parteinahme reicht das nicht. Es ist ja nicht zu leugnen, daß Israel lange Zeit eine expansionistische Politik betrieben hat, die auf die Einverleibung von "Judäa und Samaria", also der Westbank, gerichtet gewesen war. Es ist nicht zu leugnen, daß am Beginn dieses Staats die Tätigkeit von terroristischen Vereinigungen wie der "Gruppe Stern" und der Irgun stand; daß Führer dieser Terroristen, wie Itzak Schamir und Menahem Begin, statt für ihre Taten vor Gericht gestellt zu werden, zu geachteten Staatsmännern wurden. Nicht anders als der Mau-Mau-Terrorist Kenyatta, nicht anders als der Terrorist Ho-Tschi Minh.



    Mir scheint, daß die Situation in Palästina ganz und gar verfahren ist. Die Chance einer Kooperation, die die Ressourcen Israels mit denen seiner Nachbarstaaten verbunden hätte, ist vertan. Sie ist hauptsächlich - siehe hier - deshalb vertan worden, weil die Araber in ihrer großen Mehrheit unfähig waren und sind, ihre eigene Unterentwicklung einzusehen und die Chance, die ein Frieden und eine Kooperation mit Israel ihnen für ihre dringend notwendige Modernisierung bieten würden.

    Nun wird es vermutlich so weitergehen, wie es in solchen verfahrenen Situationen immer weitergeht. Die "Erbfeindschaft" wird von Generation zu Generation weitergegeben. Frieden wird es, fürchte ich, erst geben, wenn soviel Blut geflossen ist, daß man es einfach nicht mehr ertragen kann.

    So war es zwischen den "Erbfeinden" Deutschland und Frankreich nach dem Zeiten Weltkrieg, dem der Erste Weltkrieg, der Krieg von 1870/71, die Napoléonischen Kriege vorausgegangen waren.


    Rund einhundertfünfzig Jahre hat es in diesem Fall gedauert, bis man sich der "Erbfeindschaft" entledigte. Warum sollte es zwischen den Israelis und den Arabern schneller gehen?