26. Juli 2006

Die Deutschen und das Atom (4): Tschernobyl und die Folgen

Wie im dritten Teil beschrieben, hatte sich im Lauf der siebziger Jahre eine politisch sehr aktive "Anti-AKW-Bewegung" gebildet, die über die extreme Linke hinaus in die SPD, die Gewerkschaften und auch in das hineinwirkte, was ich das romantische Bürgertum genannt habe. Aber sie war eben doch auf diese Teile der Gesellschaft beschränkt, blieb also eine Minderheit. Die Leute, die vor Brokdorf randalierten und mit "Krallen" (einer Art Enterhaken) die Absperrungen zu überwinden versuchten, die Anti-AKW-Demonstranten im Bonner Hofgarten 1979, die zottelhaarigen Alternativen, die vor Gorleben ihre "Republik Freies Wendland" proklamierten - das waren keine Repräsentanten der Mehrheit der Deutschen, und es sah bis Mitte der achtziger Jahre nicht so aus, als könnten sie das jemals werden.

Das änderte sich schlagartig, innerhalb weniger Tage, als der atomare Unfall in Tschernobyl passierte. Ein Unfall, der sehr bald als "GAU" bezeichnet wurde, obwohl er genau das nicht war - der "größte anzunehmende Unfall", nämlich eine Kernschmelze, die zum Durchschmelzen des Reaktors führt. Das Wort "Gau" drang aber fast sofort in die Umgangssprache ein; bald sprach man vom "Gau" eines katastrophal geschlagenen Fußballvereins oder vom "Gau" einer Partei, die eine schlimme Wahlniederlage erlitt.



Ich kann mich noch gut an diese Tage erinnern, ähnlich wie an den Tag von Kennedys Ermordung, der Mondlandung, des Mauerfalls. Es gab zunächst Berichte aus skandinavischen Ländern von einem Anstieg der Radioaktivität, deren Quelle anfangs unklar blieb. Im Lauf dieses Tages - des 27. April 1986 - und der folgenden Tage wurden die Berichte immer bedenklicher. Die sowjetischen Behördern mauerten zunächst, bis schließlich die Wahrheit herauskam, daß es in einem sowjetischen AKW einen schweren Unfall gegeben hatte.

In den Tagen danach wurden immer neue Meßwerte mitgeteilt. Man begann sich ein Bild davon zu machen, wie sich eine "Wolke der Radioaktivität" aus dem Osten näherte und allmählich über Deutschland hinwegzog.

Das Szenario hatte alle Merkmale eines Katastrophenfilms. Die deutschen Behörden beschwichtigten zunächst - auch das kannte man aus diesen Filmen - und schwenkten dann (anders als zB in Frankreich, wo weiter abgewiegelt wurde) auf ein geradezu groteskes Überreagieren um.

So wurden Kinderspielplätze geschlossen. Landwirte wurden aufgefordert, Feldfrüchte unterzupflügen. Es wurde empfohlen, den Umstieg von der Winterfütterung mit Heu auf die Sommerfütterung zu verschieben. Die Milchproduzenten trennten die Molke von der Milch ab, weil sie als besonders strahlenbelastet galt. Diese Molke, die weniger strahlte als mancher Dünger, wurde verwahrt wie etwas Hochgiftiges. (Noch zehn Jahre nach Tschernobyl wurde sie in Bayern gelagert.) "Verstrahle Molke" wurde zum Sinnbild für die unsichtbaren Gefahren, die diese radioaktive Wolke über uns gebracht hatte.

Es gab zahllose Auftritte von ExpertInnen, die Empfehlungen gaben, was man essen durfte und was nicht. Es gab Eltern, die ihre Kinder tagelang nicht auf die Straße ließen. Als besonders gefährlich galt es, die Kinder auf Rasen spielen zu lassen, weil sich dort die Radioaktivität besonders gut niederschlagen konnte. In den Zeitungen erschienen täglich Meldungen über die aktuell gemessene Radioaktivität in den einzelnen Regionen, bei den einzelnen Produkten. "Becquerel" wurde zu einem Maß, das bald jedem so geläufig war wie Meter und Kilogramm.



Kurz, es war das Hereinbrechen eines Unsichtbaren Feindes. Kein GAU, aber ein Trauma. Und danach waren die Deutschen - ihre Mehrheit - wie verwandelt, was die Haltung zur friedlichen Nutzung der Nuklearenergie anging.

Die Warner, die AKW-Gegner hatten Recht gehabt, so dachten viele. Was die Haltung einer radikalen Minderheit gewesen war, wurde mehrheitsfähig.

Die Partei der Grünen, die 1983 ganz knapp die Fünfprozenthürde übersprungen hatte, erreichte bei den Bundestagswahlen 1987 mehr als acht Prozent. Wichtiger noch: In der SPD, die zuvor hinsichtlich der Kernenergie gespalten gewesen war, in der die Befürworter aber immer die Mehrheit gehabt hatten, erreichten die Kernkraftgegner nun sehr schnell eine große Mehrheit. Schon im August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag den "Ausstieg aus der Kernenergie", der dann 1989 in das Berliner Programm aufgenommen wurde.

Es war konsequent, daß die SPD und die Grünen, als sie 1998 die Regierung übernahmen, das umsetzten, was sie zuvor beschlossen und ihren Wählern angekündigt hatten: Den schrittweisen "Ausstieg aus der Atomenergie".



Es war, wie diese Folge von Beiträgen zeigen sollte, ein deutscher Sonderweg. Geprägt durch Besonderheiten der deutschen Geschichte, der deutschen Geographie.

Ein Weg, der drei spezifisch deutsche Ursachen gehabt hatte: Zuerst die in Deutschland ungewöhnlich starke Bewegung "Kampf dem Atomtod", eine Reaktionen auf die Niederlage im Zweiten Weltkrieg und die Atombombenabwürfe in Japan. Sodann die Entwicklung, die in Deutschland die weltweite Jugendrevolte Ende der sechziger Jahre genommen hatte, hinein in eine "Anti-AKW-Bewegung" als einem Instrument der Linksextremen, Anhänger zu mobilisieren und ihre Propaganda in die gesamte Linke hineinzutragen. Und schließlich die geographische Lage Deutschlands, aufgrund deren die Folgen des Atomunfalls von Tschernobyl besonders ernst genommen wurden.

Zusammen führte das dazu, daß die Frage der Nuklearenergie in Deutschland nicht unter dem Gesichtspunkt der technischen und ökonomischen Zweckmäßigkeit diskutiert wurde und wird, sondern als weltanschauliche, als moralische, ja als nachgerade religiöse Frage.

Insofern war dieses Thema repräsentativ für die Ideologisierung und Moralisierung der Politik, die Deutschland von den siebziger bis zu den neunziger Jahren geprägt hat und die in der rotgrünen Periode zwischen 1998 und 2005 kulminierte.

Jetzt verschwindet allmählich der Mehltau, der sich in dieser Zeit auf unser Land gelegt hatte. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das Thema Nuklearenergie auch in Deutschland, sogar in Deutschland, wieder vernünftig diskutiert werden kann.




Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker