8. Juli 2006

Randbemerkung: Oder?

Ich kannte einmal einen Studenten, der fast jeden Satz mit einem "oder?" abschloß. Er zog dazu das Gesicht schief und lächelte verlegen. Die Botschaft war eindeutig: Scheinbar fragte er, ob man anderer Meinung sei oder ob der Sachverhalt nicht so sei, wie er ihn soeben dargestellt hatte. Aber seine Körpersprache und der Ton, in dem er sein "oder?" hervorbrachte, sollten sagen: Ich weiß ja, daß ich vielleicht Unrecht habe. Aber laß mich um Gottes willen mit einem Einwand in Ruhe!

Noch deutlicher wird diese doublespeakhafte Natur des "oder?", wenn es so ausgesprochen wird, wie das zB der Schweizer Kabarettist Emil tut: Mit einem drohenden Unterton, begleitet von einem strengen Blick.

Ich weiß nicht, ob das alle oder jedenfalls viele Schweizer so machen, aber denken könnte ich es mir schon, daß Emil da irgendwie repräsentativ für seine Landsleute ist. Mit dem "oder?", das eher so etwas wie ein "oder!?!!" ist, drückt er aus, daß es ja nicht jemand wagen soll, ihm zu widersprechen.

Er verwendet also ein Wort, das eigentlich das Gegenteil von dem beinhaltet, was er ausdrücken möchte. So, wie etwa das "Untersteh dich!", das früher Erzieher gern ihren Zöglingen entgegenschleuderten. Gemeint war, daß diese sich eben gerade nicht unterstehen sollten, das betreffende Untersagte zu tun.



Es ist ein seltsames Wörtlein, dieses "oder". Im Französischen heißt "ou" einerseits "oder", andererseits aber auch "wo". Eines der beiden hat allerdings einen accent grave. Aber welches? Schwer zu merken für den Schüler. Meine Französischlehrerin versorgte uns mit zwei Eselsbrücken, die beide so dämlich waren, daß ich sie nicht vergessen habe: "Auf dem wo sitzt ein Floh" und "In der Oder schwimmt kein Graf". Also, das ou ohne den accent grave ist es, das "oder" bedeutet.



Aber was bedeutet "oder"?

Die Logiker unterscheiden die "inklusive Disjunktion" und die "exklusive Disjunktion".

Wenn man nur von einer Disjunktion spricht, dann meint man die "große", die wir im Deutschen inzwischen, nach angelsächsischem Vorbild, oft durch "und/oder" ausdrücken. "A oder B" bedeutet für den Logiker also: A ist wahr, B ist wahr, oder beide sind wahr. (Wobei es eine interessante Frage ist, ob das "oder" in dieser Aussage seinerseits ein inklusive oder eine exklusive Disjunktion ist).

Diese inklusive Disjunktion ist äquivalent der Aussage: "Es ist nicht wahr, daß 'nicht A' und 'nicht B' wahr sind."

Man kann also eine Disjunktion durch Konjunktionen ausdrücken, indem man jede Aussage negiert, aus der Disjunktion eine Konjunktion macht und dann diese negiert.



Beispiel: "Was da im Garten singt, das sind Amseln oder Meisen", sagt jemand. er meint damit: Vielleicht sind unter den Sängern sowohl Amseln als auch Meisen, das soll nicht ausgeschlossen werden. Vielleicht sind es auch nur Amseln oder nur Meisen. Jedenfalls ist es nicht so, daß unter den Sängern keine Amsel und keine Meise ist.

Wenn aber ein Vogel vor unseren Augen hüpft und jemand sagt: "Das ist eine Amsel oder eine Drossel", dann schließt das nicht die Möglichkeit ein, daß beides zutrifft. Also handelt es sich um eine exklusive Disjunktion - "(A oder B) und nicht (A und B)".

(Eben fällt mir auf, daß am Anfang dieses Beitrags eine Disjunktion steht, von der ganz unklar ist, ob es sich um eine große oder eine kleine handelt: "Scheinbar fragte er, ob man anderer Meinung sei oder ob der Sachverhalt nicht so sei, wie er ihn soeben dargestellt hatte." Was ich meinte, das war eine große Disjunktion - der Student wollte scheinbar wissen, ob man anderer Meinung sei, oder ob vielleicht der Sachverhalt ... usw. Aber man könnte den Satz auch im Sinn einer kleinen Disjunktion verstehen: Der Student setzte schon voraus, daß man etwas auszusetzen habe. Und wollte nur noch wissen, ob man denn anderer Meinung sei, oder aber ob der Sachverhalt ... usw.)



Wir sehen: In der Logik ist alles klar und übersichtlich. Es handelt sich entweder um eine kleine oder eine große Disjunktion, und beide sind eindeutig definiert. Sobald wir uns aber in die Gefilde der Umgangssprache begeben, geraten wir auf schwankenden Untergrund.



In Spiegel-Online liest man im Augenblick in einem Beitrag über unseren Jungfußballer Lucas Podolski:
Die Fifa ernannte den Stürmer zum besten Nachwuchsspieler des Turniers. Der 21 Jahre alte Angreifer, der bisher drei WM-Treffer zu verbuchen hat, setzte sich unter anderem gegen den Portugiesen Cristiano Ronaldo oder den argentinischen Mittelfeld-Star Lionel Messi durch.
Gegen wen nun? Gegen Ronaldo oder gegen Messi? Hier paßt weder die große noch die kleine Disjunktion. Sondern es liegt schlicht eine Konjunktion vor: Er hat sich offensichtlich gegen Ronaldo und Messi durchgesetzt.

Und gegen andere. Und da scheint diese seltsame und falsche Verwendung des "oder" ihre Ursache zu haben:

Podolksi hat sich nicht gegen Ronaldo oder Milsi durchgesetzt, sondern gegen Ronaldo und Milsi. Er hat sich aber auch noch gegen die Spieler X, Y und Z durchgesetzt. Und aus dieser Gruppe, gegen die er sich durchgesetzt hat, greift unser Autor zwei heraus. Er könnte Ronaldo oder Milis nennen, oder eben auch noch den Spieler X oder Y.



Mit anderen Worten, wir haben es - mal wieder - mit einer Verwechslung, genauer einer Konfundierung, einer Vermengung, der Sprachebenen zu tun. Der Autor bringt eine Aussage über den beschriebenen Sachverhalt (er setzt sich gegen Ronaldo und Milsi durch) mit einer Aussage über dessen Beschreibung (man könnte Ronaldo oder Milsi als Beispiel nennen) durcheinander.

Und solche Vermengungen der Sprachebenen können üble Folgen haben. Wie etwa bei dem Satz:

Dieser Satz ist falsch.