22. Juli 2006

Orthographie, postmodern

Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, nähert sich Deutschland (und mit ihm Österreich und die Schweiz) einem historischen Datum: In gut einer Woche, am 1. August, wird die Neue Deutsche Rechtschreibung verbindlich für Schulen und für Behörden, und sie wird damit sehr wahrscheinlich auch von den meisten Medien übernommen werden. Für die nächsten Tage ist das Erscheinen des zugehörigen neuen Duden annonciert. Genauer: Des Werks Duden, Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, herausgegeben von der Dudenredaktion. Dudenverlag, Mannheim u. a., 2006. 1216 S., Preis 20 Euro. In die Buchhandlungen kommt es Anfang nächster Woche; die Fachleute haben bereits ihr Vorausexemplar erhalten.

Wie schön, könnte man sagen: Endlich ist das jahrzehntelange Gezerre vorüber. Es ist zwar ein ebenso überflüssiges wie mißratenes "Reformwerk" herausgekommen. Aber sei's drum. Schließen wir die Akte. Breiten wir den Mantel des Schweigens über den Bastard. Lassen wir den Vorhang fallen in diesem Schmierentheater. Vergessen wir die Sesselfurzer und ihre Kritiker - die schmalbrüstigen Befürworter des Reformwerks ebenso wie seine sprachgewaltigen Schmäher.



Ja, schön wär's. In der gestrigen FAZ aber liest man etwas anderes, aus der Feder des sehr kundigen Theodor Ickler, Professor für Deutsch als Fremdsprache, Träger des Deutschen Sprachpreises für seine Arbeiten zur Orthographietheorie, Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung bis Februar dieses Jahres, als er diesen unter Protest verließ.

Dieser Rat war ins Leben gerufen worden, um nach den immer lauteren Protesten gegen das reformatorische Werk, nach dem erfolgreichen Volksentscheid in Schleswig-Holstein, zu retten, was zu retten gewesen war.

Die schlimmsten Verballhornungen des Deutschen, welche die eifrigen Reformatoren sich ausgedacht hatten, sollten wieder rückgängig gemacht, das Ganze halbwegs schlüssig gemacht werden. Aber es kam nicht mehr heraus als die weise Entscheidung, daß die einen wie die anderen Recht haben. Wie in dem von Freud erzählten jiddischen Witz, in dem der Rebbe, als Richter tätig, dem Kläger Recht gibt und dem Beklagten. Und, von einem Dritten auf die Inkonsistenz hingewiesen, sagte: Du hast auch Recht.



Der Rat hat, schreibt Ickler, "in mühevollen Beratungsrunden die genannten Teile der Rechtschreibreform so weit repariert, daß zahlreiche sinnvolle Schreibweisen zumindest wieder zugelassen sind. Allerdings sollen die Reformschreibweisen von 1996 großenteils weiterhin nicht falsch sein. Dadurch ist eine Unmenge von "Varianten" entstanden, die der Duden nun durch dreitausend "Empfehlungen" wieder einzudämmen versucht."

Mit anderen Worten, man hat sich postmodern aus der Affäre gezogen: Man schlug sich nicht auf die Seite der Reformatoren. Man brachte aber auch nicht den den Mut auf, den ganzen Wahnwitz zu stoppen und wieder zur deutschen Rechtschreibung zurückzukehren, so wie sie (mit den gelegentlichen Veränderungen, wie sie in jeder lebendigen Sprache allmählich stattfinden) gegolten hatte, seit die deutsche Orthographie überhaupt vereinheitlich worden war.



Was jetzt kommt, klingt wie eine Satyre (ich erlaube mir diese Schreibweise): Der Duden ist jetzt bunt. So bunt wie die Regenbogenfahne der Alternativen aller Couleur, so bunt wie die Bunt-Alternativen Listen, die einst überall aus dem Humus herauswuchsen, den die Achtundsechziger hinterlassen hatten. Der erste postmoderne Duden wird in wenigen Tagen in den Buchhandlungen zu bestaunen sein. Im Vierfarbendruck!

Ickler schreibt über diesen Vierfarbendruck: "Er wird im Vorwort und in der Werbung als Vorzug herausgestellt, als wenn die Kunden Kinder wären, die sich an Buntem erfreuen und nicht wissen, daß Buntheit in diesem Fall nur das Ende der deutschen Einheitsorthographie signalisiert. Bei Zusammensetzungen mit wohl- zum Beispiel schwelgt der Duden in Schwarz, Rot und Gelb, weil er zwar die neuen Getrenntschreibungen (nicht weniger als 32 Beispiele!) in Rotdruck anführt, aber in Gelb die herkömmlichen Zusammenschreibungen empfiehlt. Nur bei wohlfühlen wird die neue Zusammenschreibung auch gleichzeitig zur Vorzugsschreibung erhoben. Das Ergebnis ist ein verwirrendes Bild, wie man es bisher von Rechtschreibwörterbüchern nicht kannte."



Die Dudenredaktion, so erfahren wir von Ickler, gibt eigenmächtig "Empfehlungen" - nicht etwa das, worauf sich der Rat für deutsche Rechtschreibung verständigt hatte, sondern mal das von diesem Empfohlene, mal die Schreibung der Revision von 2004, mal das, was die Reformatoren urprünglich mal ausgeheckt hatten.

Wer Absurditäten einen gewissen Reiz abgewinnen kann, der mag im einzelnen (oder von mir aus im Einzelnen) nachlesen, was Ickler an Beispielen für die Halbheiten und Widersprüche anführt, die dabei herausgekommen sind.

Sein sarkastischer Kommentar zu dem besonders trüben Kapitel der Sondervorschriften lautet: "Man sollte die Lehrer davor warnen, bei Korrekturen den neuen Duden mit solchen wunderlichen Sondervorschriften zugrunde zu legen; sie könnten disziplinarische Schwierigkeiten bekommen."

Zumindest könnten sie, scheint mir, in Schwierigkeiten mit ihrem intellektuellen Gewissen kommen.

Icklers Fazit: "Man muß den Duden von 1991 zur Hand nehmen, um sich bewußt zu werden, wie sehr die Reform das Aussehen und den ganzen Charakter der Rechtschreibwörterbücher verändert hat. Sie stellen nicht mehr Tatsachen dar, sondern manipulieren die Sprache und versuchen den Wörterbuchbenutzer in eine bestimmte, politisch gewollte Richtung zu drängen."



Treten wir einen Schritt zurück. Betrachten wir nicht das Für und Wider einzelner orthographischer Regeln und Vorschriften, sondern fragen wir uns, was Orthographie - also das Schreiben gemäß einer Ordnung - eigentlich soll.

Das offensichtliche Ziel einer einheitlichen Orthographie ist nichts anderes als eben die Einheitlichkeit selbst. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fehlte diese Einheitlichkeit im Deutschen, während sie in anderen Sprache längst herbeigeführt worden war. In Frankreich zum Beispiel wacht seit 1635 die Académie Française über die Reinheit der Sprache überhaupt und über die Orthographie des Französischen im Besonderen. Die Vorstellung, daß diese Akademie alle möglichen Schreibweisen zuläßt und eine davon als ihre sozusagen unverbindliche, persönliche "Empfehlung" hervorhebt, würde einem Franzosen wie ein schlechter Scherz erscheinen.

Warum eine einheitliche Orthographie? Vorrangig natürlich, weil das der Verständlichkeit dient. Weil man dadurch weiß, was gemeint ist. Aber natürlich auch, weil die gemeinsame Rechtschreibung, die von allen mindestens durchschnittlich Gebildeten der betreffenden Sprachgemeinschaft beherrscht wird, Ausdruck ihrer kulturellen Zusammengehörigkeit ist. So, wie Kultur in allen Bereichen wesentlich darin besteht, Regeln zu schaffen und Normen zu setzen. (Daß Künstler sich mit Erfolg darin versuchen, diese Normen bewußt und spielerisch zu brechen, wie James Joyce und Arno Schmidt das mit den Regeln der Orthographie getan haben, ist eine andere Sache und widerspricht dem nicht).



Diese Einheitlichkeit der Rechtschreibung war mit der Einführung einer verbindlichen Rechtschreibung durch die Zweite Orthographische Konferenz 1901 erreicht. Seither gab und gibt es keinen Grund zu einer "Reform".

Der Gedanke, es gebe eine "bessere" und eine "weniger gute" Rechtschreibung, ist als solcher absurd. Die Rechtschreibung muß Regeln folgen, weil man sie sonst nicht erlernen kann. Welche das sind, ergibt sich aus der Geschichte der betreffenden Sprache. Manche Sprachen sind "orthographisch flach", dh. die Rechtschreibung folgt eng der Phonetik. Andere sind "orthographisch tief", dh die Regeln der Orthographie weichen sehr stark von der phonologischen Struktur der gesprochenen Sprache ab, wie im Englischen und im Französischen.

Weder im Englischen noch im Französischen hat man deshalb jemals ernsthaft eine "Reform" versucht; auch wenn das Käuze wie George Bernard Shaw verlangt haben. Warum im Deutschen?



Ich weiß es nicht. Ich weiß wirklich nicht, was in den Köpfen derjenigen vorgegangen ist, die in den sechziger und siebziger Jahren dieses Projekt einer "Rechtschreibreform" betrieben und schließlich politisch durchgesetzt haben.

Mag sein, daß es ein technokratisches Bestreben nach eine sozusagen verordneten - statt gewachsenen - Rechtschreibung war. Das Zurechtstutzen des Organischen, das Beherrschen und Kontrollieren als Motiv. Weg mit dem Historischen, dem Zufälligen, dem Widersprüchlichen - und her mit einer Orthographie, so logisch und in sich konsistent wie eine Programmiersprache. Die Hybris der Technokraten.

Mag sein - und ich vermute, das war das stärkere Motiv -, daß man die Sprache so "reformieren" wollte, wie man in jener Zeit die ganze Gesellschaft "reformieren" wollte. Mit dem Ziel, daß es keine "Bildungsprivilegien" mehr geben sollte. Eine Rechtschreibung, so einfach, daß auch der Dümmste sie erlernen kann - das mag vielen vorgeschwebt haben.

Weg mit dem "bürgerlichen Bildungsballast", das war ja damals eine verbreitete Parole. Die Schüler sollten möglichst wenig Zeit auf das Erlernen der Orthographie verwenden müssen, damit man sie umso eindringlicher "befähigen" konnte, "ihre Interessen zu erkennen" und dergleichen.



Alle diese Verstiegenheiten, diese Weltverbesserungs- phantasien sind glücklicherweise Geschichte. Diejenigen, die sie propagiert haben, gehen dem Ruhestand entgegen oder erfreuen sich seiner schon.

Nur diese vermaledeite Rechtschreibreform hat eine Eigendynamik entwickelt, die es offenbar aussichtslos macht, des Wahnsinns noch Herr zu werden.

Ein bunter Duden, mit einer Schreibweise für diesen und einer für jenen - das kommt mir vor wie ein Stück Apo-Verrücktheit im Einundzwanzigsten Jahrhundert. Fritz Teufel und Rainer Langhans sollten für die nächste Auflage das Vorwort schreiben.