28. Juli 2006

Schein und Sein

Wenn man sagt, daß etwas "erscheint", dann ist das doppeldeutig.

Auf der Bühne erscheint der Schauspieler. Dann ist er da. Er erscheint, das heißt: Er zeigt sich, er tritt auf. Man wird seiner "gewahr". Er ist es also wahrlich vorhanden.

Das Denkmal "erscheint" in diesem Sinn im Augenblick seiner Enthüllung. Man sieht dann, was drunter ist, unter der Hülle.

Diese, die Hülle, kann aber auch Schein verbergen. Es gibt Zaubertricks, bei denen ein Tuch über, sagen wir, einem Würfel liegt. Es ist aber gar kein Würfel unter dem Tuch, sondern es wird mittels eingezogener kleiner Stangen nur so geformt, wie wenn darunter ein Würfel ist. Der Würfel scheint da zu sein, ist es aber gar nicht.

Es kann also zum Einen etwas "erscheinen", das heißt sich so zeigen, wie es ist. Es kann aber auch "nur so erscheinen" und ist in Wirklichkeit ganz anders. Erscheinen und Schein, darin steckt eine fast ontologische Doppeldeutigkeit.



Im Nahohst-Krieg hat sich am vergangenen Dienstag ein Vorfall zugetragen, der zu einer Reaktion von Kofi Annan führte. Es gab darüber in den deutschen Medien eine ziemlich einhellige Berichterstattung, für die die Meldung im Hamburger Abendblatt repräsentativ ist:
Bei einem israelischen Angriff im Südlibanon sind vier unbewaffnete Uno-Soldaten getötet worden. (...) Uno-Generalsekretär Kofi Annan protestierte scharf gegen die Bombardierung des Beobachterpostens. Er warf Israel einen "vorsätzlichen Angriff" vor.
So ist es zum Beispiel auch in Spiegel-Online zu lesen, das titelt: "Getötete UNO-Beobachter - Annan wirft Israel vorsätzliche Attacke vor". Ähnlich berichteten die TV-Nachrichten.



Was hatte Annan gesagt? In der Berichterstattung der Washington Post:
In a statement, U.N. Secretary General Kofi Annan said he was "shocked and deeply distressed by the apparently deliberate targeting" of the "clearly marked U.N. post at Khiyam."
"Apparently" sagte er. Das wurde in der deutschen Berichterstattung ganz überwiegend entweder unterschlagen oder mit "offenbar" oder "offensichtlich" übersetzt.

So heißt es in dem verlinkten Spiegel-Online Beitrag im Text: "Uno-Generalsekretär Kofi Annan erklärte, er sei geschockt und zutiefst beunruhigt von dem 'offenbar vorsätzlichen' Angriff der israelischen Streitkräfte auf den Uno-Posten im Südlibanon." Die "Welt" übersetzte das "apparently" mit "offensichtlich". Nur wenige Medien wichen von dieser Übersetzung ab, wie zum Beispiel die "Süddeutsche Zeitung", in der Annans Formulierung mit "'anscheinend vorsätzliche(r)' Angriff" übersetzt wurde.




Was nun heißt "apparently"?

"To appear" heißt "erscheinen". Es kommt aus dem Altfranzösischen aparoir, dieses wiederum vom Lateinischen apparere, hervorgegangen durch Assimilation aus ad-parere. Parere, das heißt ebenfalls "erscheinen"; das ad- ist ein die Bedeutung unterstreichender Zusatz, der aber kaum etwas an ihr ändert. Folglich:
apparently
adv 1: from appearances alone; "irrigation often produces bumper crops from apparently desert land"; "the child is seemingly healthy but the doctor is concerned"; "had been ostensibly frank as to his purpose while really concealing it"-Thomas Hardy; "on the face of it the problem seems minor" [syn: seemingly, ostensibly, on the face of it]
2: unmistakably (`plain' is often used informally for `plainly'); "the answer is obviously wrong"; "she was in bed and evidently in great pain"; "he was manifestly too important to leave off the guest list"; "it is all patently nonsense"; "she has apparently been living here for some time"; "I thought he owned the property, but apparently not"; "You are plainly wrong"; "he is plain stubborn" [syn: obviously, evidently, manifestly, patently, plainly, plain]
Quelle: WordNet ® 2.0, © 2003 Princeton University; hier zitiert.


Da haben wir's: Mit "apparently" kann man etwas aussagen und nachgerade das Gegenteil. Wenn Annan von "apparently deliberate" sprach, dann kann er gemeint haben: Ganz offensichtlich absichtlich. Oder auch: Dem Anschein nach absichtlich.



Mit der rühmenswerten Ausnahme der "Süddeutschen Zeitung" und einiger weniger anderer Medien scheint diese Doppeldeutigkeit kaum einem Redakteur aufgegangen zu sein. Man wählte - ob nun aus Unkenntnis des Englischen oder aus einer Voreingenommenheit gegenüber Israel heraus - fast durchgängig diejenige Lesart, die Annan als Ankläger gegenüber Israel erscheinen ließ.

Dabei hätte man es mindestens seit Mittwoch besser wissen können.

Die Aussage, mit deren Exegese wir uns jetzt beschäftigen, machte Annan in Rom, am Vorabend der Konferenz, die sich dort traf, um die Situation im Nahen Osten zu beraten. Nach dem Ende dieser Konferenz gab es am Mittwoch eine Pressekonferenz, die CNN übertrug.

Annan wurde auf seine Äußerung angesprochen, und der ihn fragende Reporter implizierte in seiner Frage dasselbe, was in den deutschen Berichten behauptet worden war: Daß Annan Israel einen absichtlichen Angriff auf den UNO-Posten vorgeworfen habe.

Darauf reagierte Annan scharf und forderte den Journalisten auf, genauer zu zitieren. So habe ich es bei CNN gehört; allerdings habe ich ein Wortprotokoll dieser Pressekonferenz bisher nicht gefunden.

Die "Jerusalem Post" faßt aber die Bemerkung Annans richtig zusammen:
Annan issued a statement Tuesday night expressing "shock and deep distress" over what he called the "apparently deliberate targeting" of the UN observer post.
He seemed to soften the sharp language at a press conference after the Rome conference Wednesday, stressing that in his original statement he said the attack was "apparently deliberate."
"The statement said 'apparently deliberate targeting,'" Annan said, stressing that the word "apparent is important in this."


Daraus geht hervor, daß Annan das "apparently" nicht im Sinn von "offensichtlich", sondern im Sinn von "anscheinend" verstanden wissen wollte.

Aber in der deutschen Presse habe ich über diese Richtigstellung kaum etwas gefunden. So wenig, wie über die Stellungnahme des kanadischen Ministerpräsidenten Harper (bekanntlich war ein Kanadier unter den Opfern des Angriffs gewesen):
Harper indicated he did not agree with UN Secretary General Kofi Annan's characterization of the Israeli hit as "deliberate targeting" of UN personnel. "I certainly doubt that to be the case, given that the government of Israel has been co-operating with us in our evacuation efforts, in our attempts to move Canadian citizens out of Lebanon, and also trying to keep our own troops that are on the ground involved in that evacuation out of harms way. So, I seriously doubt that," he said.


Eine wichtige Meldung, sollte man meinen, eine Meldung vom Typus "Man Bites Dog". Ich habe eben noch einmal in Paperball nachgesehen, welche deutsche Medien sie gebracht haben. Genau zwei: die "Rheinpfalz" und "Köln.de".

Zwei Provinzmedien. Aber immerhin.