4. Juli 2006

Zettels Meckerecke
Schizophren

Ulrike Herrmann hat in der heutigen "Tageszeitung" einen Kommentar, der den schlichten Titel "Kommentar von Ulrike Herrmann" trägt, mit einem kleiner darübergeschriebenen "Das Ende der Solidarität".

Ich meckere hier nicht über das, was Frau Herrmann zu den aktuellen Regierungsbeschlüssen schreibt, obwohl mir bei so subtilen wirtschaftspolitischen Einsichten wie "Irgendjemand muss die komplexen Staatsaufgaben finanzieren. Wenn Unternehmen und Spitzenverdiener entlastet werden, dann müssen eben die Konsumenten ran" schon ein difficile satiram non scribere in den Sinn kommt.

Also, nicht die inhaltliche Argumentation dieser Autorin, die immerhin die Leiterin der Wirtschafts- und Umweltredaktion der "Tageszeitung" ist, will ich in die Meckerecke stellen. Sondern ihre Verwendung eines Worts.



In dem Kommentar heißt es:
Der Regierungsdiskurs verläuft schizophren: Bei den Arbeitslosen muss erneut 1 Milliarde gespart werden, sonst droht angeblich der Staatsbankrott. Doch bei den Steuergeschenken für die Firmen agiert der Finanzminister, als würde er das Geld aus der Portokasse entnehmen.
Wenn ich die Autorin recht verstehe, dann empfindet sie es als widersprüchlich, als inkonsistent, vielleicht auch als ungerecht, daß einerseits bei den Arbeitslosen gespart werden soll und man andererseits die Steuern für Unternehmen senken will.


Sie nennt das aber nicht widersprüchlich, inkonsistent oder ungerecht. Sie nennt es "schizophren".



Schizophrenie ist eine schwere psychotische Erkrankung, eine der schwersten überhaupt. Sie tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf - von der Hebephrenie, die hauptsächlich Jugendliche befällt, deren Affektleben dann aus den Fugen gerät, bis zur Paranoia, dieser seltsamen Erkrankung, in der sich die subjektive Welt des Kranken gewissermaßen von unserer gemeinsamen Realität löst und sich mit bizarren, meist jedoch intern höchst konsistenten Inhalten füllt.

Was in aller Welt rechtfertigt es, Regierungsbeschlüsse, die man als widersprüchlich oder ungerecht empfindet, mit dem Namen dieser Geisteskrankheit zu belegen? Natürlich nichts. Es ist dumm, es ist falsch, es ist gedankenlos.



Dieser falsche Gebrauch des Worts "schizophren" ist freilich weit verbreitet. Woher er eigentlich kommt, weiß ich nicht.

Es wird behauptet, daß er auf den Essayisten T.S. Eliot zurückgeht. Passiert muß es jedenfalls irgendwann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein, denn Anfang dieses Jahrhunderts erst entstand das Kunstwort "Schizophrenie". Der Psychiater Eugen Bleuler hat es erfunden, als Ersatz für das auf Kraepelin zurückgehende "Dementia Praecox". Bald danach scheint sich der Glaube ausgebreitet zu haben, Schizophrenie habe etwas mit "Persönlichkeitsspaltung" zu tun.

Dieser Irrtum wird freilich durch das Wort nahegelegt, das vom griechischen schizein kommt, spalten. Bleuler nannte das, was Dementia Praecox geheißen hatte, Schizophrenie, weil die Erkrankung aus seiner Sicht dadurch gekennzeichnet ist, daß bestimmte psychische Funktionen nicht mehr richtig zusammenarbeiten - sich das Denken zum Beispiel vom Wahrnehmen löst. Mit "Persönlichkeitsspaltung" hat das nichts zu tun. Schizophrene sind keine gespaltenen Persönlichkeiten. Keine Multiplen. Nicht zwei Seelen wohnen, ach, in ihrer Brust. Sondern Beklemmungen, sehr oft furchtbare Angst, wilde, nicht zu bändigende Gedanken, fast immer von Stimmen vorgetragen.


Aber Schizophrenie, so glauben nun einmal viele Menschen, weil es doch "Spaltungsirresein" ist, bedeutet gespaltene Persönlichkeit. Und wie es so geht - Irrtum gebiert Irrtum, und so hat sich der schon in seiner klinischen Bedeutung falsch verstandene Begriff "schizophren" auch noch verselbständigt und wurde zum Synonym für "in sich widersprüchlich".



Daß die Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann das Wort "schizophren" so falsch verwendet, wie viele es tun, ist ihr sicherlich nicht speziell anzulasten. Sie hatte nur das Pech, daß mir anläßlich ihres Artikels dieses Meckerecken-Thema einfiel.

Daß sie allerdings die politische Unkorrektheit beging, für ihre abwertende Beurteilung der Regierungspolitik den Namen einer schweren Krankheit zu verwenden, - das muß sie mit ihren GenossInnen ausmachen.



PS: Um doch noch ein Wort zum Inhalt ihres Kommentars zu sagen, den der geneigte Leser ja vielleicht, dem Link folgend, gelesen hat - es ist Stammtischgerede. Wenn auch linkes.

Es mag schizophren klingen - aber "links" und "Stammtisch" passen durchaus zusammen.