25. Juli 2006

Ohne Anrede

Ungefähr 1960 bin ich beim Trampen nach Paris von einem amerikanischen Offizier mitgenommen worden, der auf dem Weg nach Fontainebleau war, damals noch das Nato-Hauptquartier in der Nähe von Paris. Er war zuvor in Vietnam als Ausbilder tätig gewesen und war - schon damals, noch vor Beginn des eigentlichen "Vietnam-Kriegs" - skeptisch hinsichtlich der militärischen Erfolgsaussichten gegen die Kommunisten.

Ich fand sehr interessant, was er über die Soldaten der Regierung von Saigon erzählte, die er hatte ausbilden sollen ("They don't drink milk!" war eine seiner vernichtendsten Kennzeichnungen). Vor allem aber habe ich in Erinnerung, wie er bejahte und verneinte. Wenn er mir zustimmte, dann sagte er "Yes, Sir!", und wenn er widersprach, dann sagte er "No, Sir!".

Ich fühlte mich dadurch irgendwie anerkannt, ja geradezu geehrt, mit meinen noch nicht zwanzig Jahren. Und es machte mich zum ersten Mal auf einen seltsamen Mangel der deutschen Umgangssprache aufmerksam: Wir können nicht anreden.



Im Französischen redet man Fremde mit Monsieur, Madame, Mademoiselle an. Und das tut man bei allen Gelegenheiten. Wenn ich in Frankreich eine Bäckerei betrete, dann grüße ich die Verkäuferin mit "Bonjour, Madame" und nicht einfach mit "Bonjour". Wenn ich einen Polizisten anspreche, um ihn etwas zu fragen, dann sage ich: "Pardon, Monsieur". Einfach nur Bonjour, Au revoir, Oui und Non zu sagen, ist unhöflich. Damit gibt man sich als entweder ungebildet oder als Boche zu erkennen.

Ähnlich ist es in vielen anderen Sprachen: Wenn man mit jemandem redet, dann redet man ihn auch an. Man redet sozusagen nicht in den Wind, ins Nichts hinein, sondern man "wendet sich" an jemanden. "S'adresser à quelqu'un" heißt das im Französischen; entsprechend "to address someone" im Englischen. Von Spätlateinisch ad-directiare, entstanden aus dirigere, hinwenden.

Sir und Madam, Mijnfrouw und Mijnheer, Signor und Signora - in fast allen zivilisierten Völkern gibt es diese Anreden, die es uns erleichtern, höflich miteinander umzugehen.



Nur im Deutschen nicht. Genauer: Nicht mehr. Wie in den anderen Sprachen gab es in Deutschland natürlich diese Anredeformen, die ursprünglich Höhergestellten vorbehalten gewesen waren, und die dann zu Formen des allgemeinen Umgangs miteinander wurden: Mein Herr, mein Fräulein, gnädige Frau.

Aber dem Deutschen sind sie abhandengekommen. Wann, wie und warum das eigentlich geschah, weiß ich nicht genau.

In den Zwanziger Jahren waren sie jedenfalls noch üblich, diese Anreden. "Sie existieren, mein Herr, dies kann ich nicht bestreiten" heißt es zum Beispiel in Hermann Hesses "Kurgast", erschienen 1925. Und wenn in dem Musical "Cabaret" ein Song den Titel "Mein Herr" trägt, dann ist das durchaus zeitangemessen.

Ich vermute, daß diese Höflichkeiten in der Nazi-Zeit aus dem Deutschen verschwanden. Mag sein, daß auch die egalitäre Nachkriegsgesellschaft, in der die Klassen so durcheinandergewirbelt wurden, wie in kaum einem nichtkommunistischen Land Europas, das Ihrige dazu beigetragen hat.

Jedenfalls waren Anreden wie "mein Herr" und "gnädige Frau" schon in meiner Kindheit in den fünfziger Jahren aus der Umgangssprache verschwunden. Nur noch Kellner benutzten sie, allenfalls der Maßschneider. Oder Verkäufer, die sich beim Kunden einschmeicheln wollten.



Wie wurde die Lücke gefüllt? Erbärmlich, meist aber gar nicht.

Das "mein" benutzte man nicht mehr, aber das "Fräulein" blieb zunächst noch erhalten. "Fräulein, darf ich Sie mal was fragen?", das war noch in den sechziger Jahren üblich. Im Hessischen gern ins gemütliche "Frolloische" transformiert. "Ei, Frolloische, was hawwe Se dann?" - so fragte der Hesse, wenn er um das Wohlergehen einer junge Frau besorgt war.

Und "die Frollein", das war zu meiner Schulzeit die Lehrerin. Mit dem "die", das an die Stelle des grammatikalischen Geschlechts das natürliche Geschlecht setzte. Auch die verheiratete oder verwitwete ältere Lehrerin war "unsere Frollein". Und im Lokal rief man "Frollein!"; ungerührt selbst dann, wenn die Kellnerin vielleicht schon vielfache Großmutter war.

Was hätte man auch sonst rufen sollen? "Bedienung!"? "Kellnerin!"? Alles unhöflich bis herabsetzend. "Frollein", das war immer noch das Höflichste, was man hatte.



Und diese letzte Zuflucht der Anrede-Höflichkeit wurde uns Anfang der siebziger Jahre von der Frauenbewegung weggenommen.

Es gab damals ja die seltsamsten sprachkritischen Bemühungen im Umfeld der "feministischen Linguistik". Im Englischen stieß man sich an "History" und forderte "Herstory". Und im Deutschen schien den Feministinnen das "-lein" beanstandenswert. Es gebe ja auch kein "Herrlein", argumentierten sie. Also weg mit dem "Fräulein". Auch die 16jährige "Auszubildende" (dazu hatte man die Lehrlinge befördert), auch die 18jährige Studentin hatten künftig Anspruch auf die Anrede "Frau".

Damit hatten wir Deutschen, die wir uns auch in dieser Hinsicht demütig dem Feminismus unterwarfen, für Frauen unbekannten Namens endgültig keine Anrede mehr zur Verfügung; wie schon zuvor bei Männern.

"Fräulein", das war auch ohne das "mein" oder das "gnädiges" gegangen. Aber man kann zu einer unbekannten Dame nicht einfach nur "Frau!" sagen. Dieses sozusagen nackte "Frau!" ist dem Fischer mit siener Fru vorbehalten und anderem Märchenpersonal. Und man kann ja nicht gut jemanden mit "Herr!" anreden. Es sei denn, man will ihn ärgern - wie Herbert Wehner, dem das "Herr!" noch aus alten Zeiten geläufig gewesen war und der es im Bundestag einsetzte, wenn er einem Konservativen eins auswischen wollte.



Seither behelfen wir uns, wir Deutschen, mehr schlecht als recht, mit List und Tücke.

Gut dran ist man noch beim Suchen nach einer Anrede, wenn jemand eine Funktion hat, die notfalls eine Bezeichnung hergibt: "Herr Ober", auch wenn's keineswegs der Oberkellner ist. "Herr Schaffner" im Zug, "Herr Doktor" in der Klinik, "Herr Professor" in der Uni. Bei Frauen verbleibt meist nur die Funktionsbezeichnung. Der Krankenhauspatient sagt: "Schwester, bringen Sie mir doch bitte einen Tee". "Schwester" heißt, faute de mieux, auch die Arzthelferin, selbst wenn ihr ein Keuschheitsgelübde nie in den Sinn gekommen ist. Und die Schubse im Flieger kann man mit "Stewardess" anreden. Anders als "Kellnerin" hat das nichts Herabsetzendes; das stammt vermutlich aus der Zeit, als man als Stewardess das Abitur haben mußte.

Aber das sind Ausnahmen. Meist behilft man sich mit einer von zwei Notlösungen: Den Interjektionen und den Witzen.



Interjektionen: Man stößt, statt jemanden anzusprechen, einen Ruf hervor. "Hallo!" wird der Kellner gerufen. "Sie da!" sagt man, wenn man jemanden auf sich aufmerksam machen möchte. Gäste in Restaurants veranstalten mehr oder weniger eindrucksvolle Pantomimen, wenn sie den Kellner rufen wollen, und erzeugen zur Untermalung nicht selten grunzende oder stöhnende Laute. In der jüngeren Generation sind Interjektionen wie "Ey!" zu hören, die aktuelle Variante des alten "Heh da!".

Oder auch "Alter!", was uns zur zweiten Lösungsmethode bringt - mehr oder weniger witzig gemeinten Bezeichnungen für das Gegenüber. Im Arbeitsleben wird der Unbekannte gern mit "Meister" angeredet. "Junger Mann" und "Junge Frau" sind auch dann noch üblich, wenn dem Gegenüber schon die weißen Haare in den Nacken hängen. Kumpelhaft-Kräftiges ist ebenfalls beliebt, auch wenn das "He, Kumpel" selbst wohl eher aus der Mode gekommen ist. Aber ein herzliches "Ey, du Träne" oder "Du Penner" hört man schon mal.

Und an einem Zimmer in einer Uni fand ich vor ein paar Jahren eine Notiz, durch die der Bewohner dieses Dienstzimmers einem anderen mitteilte, wo er aktuell zu finden sei. Anrede: "Du Arsch!".