29. Januar 2017

Grundsätzliches (1): Heimat

Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!
[...]
Weh dem, der keine Heimat hat.

Friedrich Nietzsche, "Vereinsamt"

Die Geburt ist die Urkatastrophe des Lebens und wie der Tod eine Konstante desselben. Alle Menschen werden geboren, alle Menschen sterben. Deshalb hat jeder Mensch einen Geburts- und einen Todesort.

Mit dem Geburtsort sind wir zeit unseres Lebens auf gar nicht wunderbare, sondern bürokratische Weise verbunden. In so manchem offiziellem Dokument ist er verzeichnet, und auch diejenigen, die gleich nach ihrem Erblicken des Lichtes der Welt an andere Gestade verschifft werden und nimmermehr zurückkehren, bleiben durch ihre Personenstands- und Identitätsdokumente von der Wiege bis zur Bahre an denjenigen Erdenpunkt erinnert, an dem sie zum ersten Mal Festland betraten.
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Also hat jeder Mensch potenziell eine Heimat. Heimat. Wer nicht tief in der deutschsprachigen Tradition verankert ist, wird dieses Wort bei ausreichender Beherrschung unserer Zunge zwar verstehen, aber in all seinem Konnotationenreichtum gleichwohl nicht erfassen können. Es ist deshalb auch schlechterdings unübersetzbar, wenn man von den Möglichkeiten einer ungefähren Übertragung absieht, die nicht sämtliche mitschwingende Nuancen vehikuliert.

Was ist nun Heimat? "Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl", behauptet Stefan Kuzmany in einer Ausgabe seiner SPIEGEL-Online-Kolumne, die den Geist eines in hauptstädtischen Journalistenkreisen möglicherweise weitverbreiteten Kosmopolitismus atmet. Indes: Schon die Römer, ihres Zeichens Erzpragmatiker, prägten das Diktum "Ubi bene, ibi patria" - Wo mir wohl ist, ist mein Vaterland - und man kann sich nirgendwo so fremd fühlen wie an dem geographischen Punkt, dem man sich eigentlich zugehörig fühlen sollte.

Doch für viele Menschen ist die Heimat ein Dorf, eine Stadt oder eine eng umgrenzte Region. Und oft genug handelt es sich dabei just um den Ort oder die Gegend der eigenen Geburt. Im Diskurs der deutschen Intellektuellen waren Begriffe wie Vaterland und Heimat und das damit eng verbundene Patriotismus-Problem schon immer Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Nach Ansicht des Verfassers ist es typisch deutsch, von einem Extrem ins andere zu verfallen (und es ist genauso typisch deutsch, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was typisch deutsch ist): So oszilliert die Stimmung hierzulande zwischen Blut-und-Boden-Engstirnigkeit einerseits und überzeichnetem Weltbürgertum andererseits.

Wenn wir aber den Begriff Heimat für eine geographische Größe, der man sich besonders verbunden fühlt, reservieren: Wie nennen wir dann die soziale und die geistige Heimat?

Für die soziale Heimat eignen sich wohl Bezeichnungen wie Familie, Freundeskreis oder Peer-Group am besten. Man kann in einer fremden Stadt in einem fremden Land mit fremden Sitten und fremder Sprache sein, also an einem Ort, den man weder im geographischen noch im kulturellen Sinn als Heimat bezeichnen würde, aber sich doch geborgen fühlen, weil man von Menschen, die man gernhat, begleitet wird. Soweit man seine soziale Heimat auswählen kann, so zum Beispiel bei der Kür des Ehegesponses, gesellt sich Gleich und Gleich gern. Geographie und Kultur sind für die Konfiguration der sozialen Heimat also nicht irrelevant.

Intellektuell ist ein Mensch in einer Ideologie, einer Religion, einem Weltbild oder einem Konglomerat aus Ideen zu Hause. Der Verfasser dieser Zeilen hält es diesbezüglich mit Stefan Zweig: Seine geistige Heimat ist Europa. Wer dies als naive Eurotümelei missversteht, sollte sich an das lateinische Mittelalter erinnern (in dem zum Beispiel der vom Verfasser sehr verehrte Italiener Thomas von Aquin bei dem Deutschen Albertus Magnus studierte) oder sich vor Augen halten, dass es auch für einen frühneuzeitlichen Intellektuellen wie Aventinus zu den biographischen Selbstverständlichkeiten gehörte, an den Universitäten zu Ingolstadt, Wien, Krakau und Paris gelernt zu haben. Und wir erinnern uns, dass "das Maß aller Opern", Don Giovanni, nicht nur einen europäischen Wanderstoff behandelt, sondern auch in salzburgisch-venetischer Koproduktion entstanden ist.

Das Schöne an der Heimat ist, dass man sie, etwas kitschig formuliert, stets im Herzen mittragen kann: So bleibt ein Mainzer Mainzer, auch wenn er schon längst woanders singt und lacht. Und wer im Paradies zu Hause ist, braucht für den Neid nicht zu sorgen.

Noricus

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