1. Februar 2017

Schulz und der Doppelpass - Ein Gedankensprung

Zu Martin Schulz wurde schon alles gesagt, und zwar fast wirklich von jedem (natürlich auch vom Verfasser dieser Zeilen). Eine Auseinandersetzung mit dem bisweilen zum Vorschein gekommenen Nasenrümpfen über die früheren persönlichen Probleme des SPD-Kanzlerkandidaten erübrigt sich genauso wie der Hinweis, dass ein gelernter Buchhändler in dem Dickicht aus vollendeten und abgebrochenen Akademikern einen erwünschten Vielfaltsakzent setzen könnte und dass ein ehemaliger Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt den vom rauen Klima der Außenwelt abgeschirmten Gewächsen aus den Parteitreibhäusern an praktischer Regierungserfahrung überlegen sein dürfte.
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Anders formuliert: Der an Schulz gerichtete Vorwurf, dass sein Werdegang nicht dem Baukasten des Polit-Apparatschiks entsprungen ist, disqualifiziert sich von selbst. Was man dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments dagegen sehr wohl vorhalten kann, ist der (weitgehende) Nichtgebrauch der dem Straßburger Gremium seit dem Vertrag von Lissabon zustehenden Rechte und eine Orientierung seines Handelns an den (nebulosen) Interessen des Staatenverbundes statt an den Interessen der Bürger der Mitgliedstaaten. Deshalb war Schulz nach Ansicht des Verfassers ein schlechter Parlamentspräsident.

Man muss Mely Kiyak konzedieren, dass sie in ihrem auf ZEIT-Online erschienenen Beitrag zu Martin Schulz nicht in die Falle des Herumwühlens in der ferneren Vergangenheit des SPD-Hoffnungsträgers tappt. Ihr ist auch darin zuzustimmen, dass das bisher von Merkels Herausforderer Gehörte allzu farblos und altbacken wirkt. Kiyaks Begründung dieses Verdiktes lädt hingegen zur Kritik ein, für deren Zwecke nur ein Punkt, allerdings ein charakteristischer, herausgegriffen werden soll. So beschwert sich die Journalistin darüber, was Schulz in seiner Ansprache an das Parteivolk nicht gesagt hat:
Das Wort Gerechtigkeit tauchte gefühlt in jeden [sic!] Satz der Inaugurationsrede auf. Das Wort Wahlrecht für Menschen, die vor drei (!!!) Generationen einwanderten, kein einziges Mal.
Einer Kolumne, die den Titel "Kiyaks Deutschstunde" trägt, mag man oberlehrerhafterweise den falschen, wohl auf einem Vertippen beruhenden Kasus ankreiden. Von größerem Gewinn erscheint indessen eine Reflexion über die Phrase "Menschen, die vor drei Generationen einwanderten". Sind damit diejenigen Immigranten gemeint, die zu einem Zeitpunkt, der nun drei Generationen zurückliegt, in dieses Land gekommen sind oder (auch) deren Nachkommen? Was hindert diese Menschen daran, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen und damit das Wahlrecht zu erwerben?

Wenn man Kiyak folgt, ist diese Frage falsch gestellt, denn der korrekte Weg zu einer Stimmbeteiligung der Einwanderer geht ihrer Ansicht nach über den Doppelpass, den sie in einem Atemzug mit "Minderheitenrechten" nennt, oder - so kann man ihre Ausführungen verstehen - über eine Verleihung des Wahlrechts auch an eingesessene Ausländer.

Letzteres würde dem inhaltsleer daherkommenden Merkel'schen Diktum von den "Menschen, die hier schon länger leben" einen konkreten juristischen Sinn einhauchen. Und es ist tatsächlich diskutabel, dass ein in Deutschland domizilierter Ausländer zwar dem hiesigen Fiskus gegenüber einkommensteuerpflichtig ist, er jedoch nicht wählen darf. Dies ist ein Fall von taxation without representation. Aber: Das Grundgesetz unterscheidet nun einmal zwischen Deutschen und Nichtdeutschen und behält Ersteren im Einklang mit dem entsprechenden Usus (fast) aller Staaten das Wahlrecht vor.

Eine doppelte Staatsangehörigkeit ist ebenso wie die Staatenlosigkeit völkerrechtlich unerwünscht. Deshalb reservieren die meisten nationalen Rechtsordnungen den Doppelpass für bestimmte eng umgrenzte Fälle. Wenn ein vergleichsweise rezenter Migrationshintergrund für das Anrecht auf die zweifache Staatsangehörigkeit genügen soll, so geht es dabei um eine Privilegierung der Betroffenen und keinesfalls um ein Recht, mit dem ihrer Diskriminierung abgeholfen würde.

In den Fällen, die Kiyak im Auge hat, dürfte es bei realistischer Betrachtung häufig so sein, dass die eine Staatsangehörigkeit diejenige der emotionalen Verbundenheit und die andere, in casu die deutsche, bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen zu dienen bestimmt ist. Freilich: Man kann die Meinung vertreten, dass eine Staatsangehörigkeit nichts weiter als die völkerrechtliche Spielart einer Automobilclub-Mitgliedschaft darstellt. Dann braucht man sich aber auch nicht zu wundern, wenn viele der eigenen Mitbürger nicht die geringste Identifikation mit dem Land aufbauen, dessen Pass sie gleichwohl besitzen.

Noricus

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