6. Juli 2013

Höflichkeit


Heute bin ich im Supermarkt Zeuge einer kleinen Begebenheit geworden. Einem ältereren und dem Anschein nach schon etwas gebrechlichen Mann, der eine "Sechserpackung" mit Literflaschen Mineralwasser angehoben hatte und deren Kunststoffverpackung offenbar defekt war, fielen die Flaschen aus der Hand und verteilten sich auf dem Fußboden. Zwei sich in unmittelbarer Nähe  befindende Menschen, die dies ebenfalls gesehen hatten, wandten sich rasch ab. Einer von ihnen sagte noch "Oh!", bevor er ging. Meine Frau, wie meist, schneller und geistesgegenwärtiger als ich, war bereits hinübergeeilt und half dem Mann beim Aufheben der Plastikflaschen. Als ich beiden zur Hand gehen wollte, war das kleine Malheur bereits behoben. 
Zunächst ärgerte ich mich über die mangelnde Hilfsbereitschaft der anderen Einkäufer. Ich dachte an sozialpsychologische Befunde zur Verantwortungsdiffusion und zum altruistischem Verhalten, die besagen, daß die Bereitschaft, anderen in einer offensichtlichen Notlage zu helfen mit der Anzahl untätiger Zeugen abnimmt. Der konservativ denkende Teil in mir wollte gerade anfangen, innerlich die allgemeine "Verrohung der Sitten" zu beklagen, als ich innehielt: Der Mann hatte nicht um Hilfe gebeten.
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Ich bin maßgeblich in einer Zeit (70er Jahre) sozialisiert worden, in der es noch selbstverständlich war, Frauen die Tür aufzuhalten, älteren Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln den Sitzplatz anzubieten oder ihnen bei Mißgeschicken ungefragt zur Hand zu gehen. Damals handelte es sich dabei um einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens. Einen solchen Konsens gibt es heute nicht mehr. Gleichwohl: Es war bis weit in die 80er Jahre hinein ebenfalls üblich, -zumindest kam es häufig vor- daß alte Menschen, im Falle eines medizinischen Notfalls, von Ärzten, Sanitätern oder Polizeibeamten geduzt wurden; eine aus heutiger Sicht unglaubliche Mißachtung und Geringschätzung, in der sich wohl auch ein bestimmtes Bild von alten Menschen manifestiert hat:  Alte als primär abhängige, ihrer Autonomie beraubte Menschen. "Na, Opa, was haste wieder gemacht?" wird man heute von Rettungssanitätern erfreulicherweise kaum noch hören. 

Man kann wohl, insbesondere aus liberaler Perspektive, argumentieren, daß eine Hilfestellung, um die man nicht selbst gebeten hat, eine unzulässige Freiheitseinschränkung ist. Der paternalistische Staat, der uns seine "Hilfe" ungefragt aufdrängt, ist dem Liberalen schließlich auch deshalb unsympathisch bis verhaßt, weil der Bürger dadurch tendenziell zum abhängigen Mündel wird. Überhaupt ist es mit dem Altruismus, der keinesfalls mit Selbstlosigkeit zu verwechseln ist, so eine Sache. Zumindest ist er auf Reziprozität ausgerichtet und hat evolutionäre Gründe. Man hofft eben, sollte man je selbst in eine mißliche Lage geraten, ebenfalls Hilfe zu erhalten. 

Ein anderes psychologisches Phänomen ist das der Rollenzuschreibung. Im Falle ungefragter Hilfe definiert der Helfer den Hilfeempfänger als hilfsbedürftig, unabhängig davon ob er es tatsächlich ist. Die nonverbale Rückmeldung an den Hilfeempfänger lautet, daß dieser offensichtlich Hilfe brauche. Dieses Labeling hat wiederum Rückwirkungen auf das Selbstbild des Hilfeempfängers und sein zukünftiges Verhalten. Er entwickelt sich buchstäblich immer mehr zum Hilfsbedürftigen (auch durch mangelnde Trainings- und Übungseffekte wenn ihm bestimmte Mühen immer wieder abgenommen werden). Auf seiten des Helfers erfolgt dagegen oft genug die Selbstvergewisserung eigener Kompetenz und Autonomie, die der Kern des sogenannten "Helfersyndromes" ist. Man kann dies ohne weiteres im Erziehungsstil mancher Eltern beobachten, die mit ihrem überfürsorglich-verwöhnenden (letztlich aber kontrollierenden) Verhalten alles mögliche bei ihren Kindern fördern, aber nicht deren Autonomieentwicklung. Es spricht wohl einiges dafür, auch in Situationen wie der heute Morgen im Supermarkt, zunächst zu fragen, ob man helfen darf.

Andererseits bin ich davon überzeugt, daß Höflichkeitskonventionen, zu denen nun einmal auch das ungefragte Zur-Hand-Gehen gehören kann, ihren gesellschaftlichen Sinn haben; sie haben eine verhaltensregulierende Funktion, und erleichtern das Zusammenleben zwischen den Menschen. 

Als ich diese Überlegungen mit meiner Frau besprochen habe, meinte sie übrigens lapidar: "Ach was, es ist einfach selbstverständlich, alten Menschen zu helfen."

Stimmt auch wieder.



Andreas Döding


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