14. Juli 2013

Das Eigentor in der Studie der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat eine Studie zur Kritik an »Gender Studies« veröffentlicht. Um den Inhalt in einem Satz zusammenzufassen: Glaubt man den Autoren der Studie, hat es noch nie eine seriöse Kritik an den »Gender Studies« gegeben.

Schon in der Einleitung werden die Kritikerinnen und Kritiker der »Gender Studies« unter anderem in die politisch »rechte Ecke« gestellt, den christlichen Fundamentalisten zugeordnet oder als frauenfeindliche Antifeministen eingestuft.

Die Autorin und die Autoren der Studie gestehen keiner Kritikerin und keinem Kritiker an den »Gender Studies« auch nur eine Spur von Legitimität zu. Im besten Fall wird die Kritik aus dem Zusammenhang gerissen, im schlimmsten Fall werden Personen und Aussagen denunziert.

­

Der Norweger Harald Eia wird in der Studie als »populärer Komiker« abqualifiziert, obwohl er ein graduierter Soziologe ist und für seine Serie »Hirnwäsche« mit einem Ehrenpreis für herausragende journalistische Arbeit ausgezeichnet wurde. Im Interview mit der F.A.Z. sagt Harald Eia unter anderem:

Ich bin nicht gegen Feminismus. Ich bin gegen schlechte Forschung. Ich wollte der Öffentlichkeit zeigen, wie dogmatisch manche Wissenschaftler in diesem Feld sind.

Ich finde es erschreckend, dass man anscheinend solche Selbstverständlichkeiten betonen muss, bevor man die Theorien und die Texte der »Gender Studies« kritisieren darf. Muss man sich von allen obskuren oder extremistischen Randgruppen einzeln distanzieren?

Ich bin kein Rechter.

Ich bin nicht frauenfeindlich.

Ich bin nicht antifeministisch.

Ich bin kein religiöser Fundamentalist —

— jetzt würde ich gern mit meinem Vortrag beginnen oder ist meine Redezeit schon zu Ende?

Nebenbei gesagt: Wenn ich je Gehör in einem Gremium der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten fände, würde ich dafür plädieren, Harald Eias Sendung zu übersetzen und in ARD oder ZDF zu senden – sie wird sicher Gegner und Befürworter haben, aber es wäre wenigstens eine Diskussion möglich.


Zurück zur Studie der Heinrich-Böll-Stiftung. Im Kapitel 4 sollen offenbar die Argumente der Kritikerinnen und Kritiker behandelt werden, die sich mit der wissenschaftlichen Methodik der »Gender Studies« befassen.

Der Autor Manfred Köhnen stellt Kritiker der »Gender Studies« als Personen in Frage (mehrfach findet man das argumentum ad personam). Er unterstellt den »Gender-Gegner_innen« außerdem:

  • ein eingeschränktes Verständnis von Wissenschaft
  • das Interesse am Erhalt »bestimmter Geschlechterverhältnisse«
  • den Ausschluss »ganzer Fächer und Themen« aus der Wissenschaft

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Strohmann-Argument von der wissenschaftlichen »Objektivität« als normativer Neutralität und Interesselosigkeit (S. 39). Wer stellt Objektivität in dieser Weise dar? Was soll das merkwürdig schlaffe Wort »Interesselosigkeit« bedeuten?


Wenn Manfred Köhnen eine Forderung der Gender-Kritiker Michael Klein und Heike Diefenbach wiedergibt, klingt das in seinem Beitrag (S. 45) so:

Die Forderung scheint zu lauten, dass Wissenschafter_innen interesselose und werturteilsfreie Akteure sein sollten, deren wissenschaftliche Beobachtungen nicht normativ begründet sein und die keine politische Stellung nehmen dürften.

Dann macht er sich mit Eifer an die Arbeit, um eine Forderung zu widerlegen, die er – höflich ausgedrückt – nur sehr vage wiedergegeben hat.


Am Ende seines Beitrags möchte Manfred Köhnen mit sehr weit hergeholten Autoritätsargumenten zeigen, dass die Vorgehensweise der »Gender Studies« wissenschaftlich sei. Er scheut sich dabei nicht, Anleihen bei Karl Popper und Max Weber aufzunehmen. Tatsächlich haben Karl Popper und Max Weber Ansprüche an Wissenschaft gestellt, die die Vertreter der »Gender Studies« nicht erfüllen wollen und nicht erfüllen können.


Manfred Köhnen wirft den Kritikern der »Gender Studies« vor, dass sie sich zwar auf Karl Popper beziehen, dessen Kontrahenten Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno aber ignorieren. Er fasst Habermas' und Adornos Position so zusammen:

Dabei müssten nicht notwendigerweise alle Teilsätze empirisch prüfbar sein, solange die Theorie konsistent sei und Einblick in die gesellschaftliche Totalität biete.

In dem bekannten Originalzitat von Jürgen Habermas klingt das so:

Theorien sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren.

Karl Popper hat es treffend ins Deutsche übersetzt:

Theorien sollten nicht ungrammatisch formuliert werden, ansonsten kannst Du sagen, was Du willst.

In der Studie wird Barbara Holland-Cunz, eine Vertreterin der »Gender Studies«, als »Politikwissenschaftlerin« zitiert:

»Es gehört deshalb zu den zentralen Annahmen feministischer Wissenschaftstheorie jeglicher Herkunft, dass die offen parteiliche ›Sicht von unten‹ ‹better science› (Sandra Harding) produziert als der vermeintlich unparteiische herrschende Blick«

Wendet man das Wissenschaftsverständnis der »Gender Studies« auf die Astrologie an, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass die Astrologie eine vollwertige Wissenschaft ist: Sie hat einen syntaktisch verbindlichen Rahmen und eine konsistente Theorie. Sie erfüllt ein soziales Bedürfnis nach der Erklärung von Phänomenen. Fazit: Die Astrologie ist aufgrund ihres Theoriegebäudes und aufgrund ihres »Blicks von unten« eine better science.


Es gibt auch Parallelen zwischen »Gender Studies« und dem Werk des Trofim Denissowitsch Lyssenko. Lyssenko war ein russischer Biologe in der Zeit des Stalinismus. Er hat sich damals – ähnlich wie die »Gender Studies« – gegen die »herkömmliche« bürgerliche Wissenschaft gewandt. Er lehnte die Evolutionstheorie und die Genetik ab. Lyssenko stellte stattdessen folgende These auf:

Die Eigenschaften von Organismen werden nicht durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt.

Diese These kann man natürlich aufstellen. In einer freien Gesellschaft hätten sich Forscher an die Arbeit gemacht, um sie zu stützen oder zu widerlegen.

Aber zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung oder gar zu einem Wettbewerb unterschiedlicher Theorien kam es gar nicht: Lyssenko hat sich – mit Hilfe des stalinistischen Staates – die Definitionsmacht über ein ganzes Wissenschaftsgebiet angemaßt und alle Kontrahenten mundtot gemacht. Damit wurde die Biologie in der UdSSR für lange Zeit geschädigt.

Halten wir fest: Es ist für die Wissenschaft lebensnotwendig, dass bestimmte Denkansätze kritisiert und auch widerlegt werden können. Kritik bedeutet: Eine Aussage unter Würdigung der Pro- und Contra-Argumente zu bestätigen oder zu widerlegen.


Dazu ist es aber notwendig, dass die Aussagen klar und verständlich dargelegt werden. Karl Popper hat es als wichtigste Aufgabe jedes Wissenschaftlers angesehen, seine Forschung verständlich darzustellen. Er schreibt in »Gegen die großen Worte«:

Jeder Intellektuelle hat eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren. Dafür schuldet er seinen Mitmenschen (oder »der Gesellschaft«), die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten, klarsten und bescheidensten Form darzustellen (…). Wer's nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er's klar sagen kann.

Schauen wir uns unter diesem Aspekt ein typisches Zitat aus den angewandten »Gender Studies« an:

»Die Tatsache, dass mittlerweile die Rückbindung an materielle Gegebenheiten wieder stärker betont wird, ist nicht nur als Gegen-, sondern vielmehr als Weiterentwicklung der Dekonstruktion naturalistischer Gender- und Raumkonzeptionen zu verstehen. Damit einher geht eine Verbindung von topographischem und topologischem Fokus, die dazu führt, dass die materiell-räumliche Anordnung von Personen oder Dingen stets in Verknüpfung mit ihrer sozialen Relevanz und Position betrachtet wird.«

Um es höflich und mit den Worten Karl Poppers zu sagen: »Es ist das grausame Spiel, Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken.«


Am Ende seines Beitrags schießt Manfred Köhnen nach langem Anlauf ein wunderbares Eigentor. Er bringt ein Zitat von Max Weber aus der Schrift »Wissenschaftslehre«.

Der Anarchist kann nach Max Weber ein guter Wissenschaftler sein, weil er in den bestehenden Grundanschauungen Probleme erkennt, die von den etablierten Wissenschaftlern nicht mehr erkannt werden. Max Weber schreibt:

Denn der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis.

Wendet man dieses Zitat auf die »Gender Studies« an, dann müsste dort der Zweifel ausdrücklich erlaubt sein und kritische Wissenschaftler müssten in die Forschung einbezogen werden. Der Autor zitiert Max Weber, ohne sich bewusst zu machen, dass die »Gender Studies« schon den kleinsten Zweifel an ihren Ansätzen und Theorien mit dem Bann belegen.


Einige abschließende Worte – im Ernst und ohne jede Ironie: Mir ist bewusst, wie lange es gedauert hat und mit welchen Opfern es verbunden war, bis Frauen in den westlichen demokratischen Staaten in allen Rechten und Pflichten gleichberechtigt waren.

Man muss es sich deutlich vor Augen halten: Im Kampf um das Frauenwahlrecht und um die gesellschaftliche Gleichberechtigung wurden in Europa und in den USA Frauen mit allen Mitteln verfolgt. Einige bezahlten für ihre Überzeugungen und ihr Engagement mit ihrem Leben. In großen Teilen der Welt werden Frauen auch heute noch noch brutal unterdrückt, wenn sie für ihre Gleichberechtigung eintreten.

Höchsten Respekt verdienen also die Frauenrechtlerinnen, die einen jahrhundertelangen Kampf um Gleichberechtigung geführt haben. Kein überzeugter Demokrat, kein überzeugter Liberaler kann das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen.

Deshalb ist ein Feminismus im Sinne des Eintretens für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auch heute notwendig – damit es in unserem Teil der Welt zu keinem Rückschritt kommt und damit das Ziel der Gleichberechtigung irgendwann in allen Ländern erreicht sein wird.

Aber gleichzeitig muss man deutlich auf die Absurdität eines »Über-Feminismus« oder »Genderismus« hinweisen, der nur den Interessen einer gut vernetzten Elite dient, die sich inzwischen sehr weit von der Realität entfernt hat. Das soll an einem weiteren Beispiel gezeigt werden.


In einer Studie des Gunda-Werner-Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung zur »Feministischen Netzpolitik« postuliert die Autorin Kathrin Ganz:

Die politische Perspektive, die in dieser Studie zur Bewertung aktueller netzpolitischer Konflikte angelegt wird, wird als »queer-feministisch« bezeichnet. Diese versteht Geschlecht als wirkmächtige, sozial konstruierte Kategorie im Rahmen einer hegemonialen Geschlechterordnung, die auf einer hetero-normativen, naturalisierten Vorstellung von binärer Zweigeschlechtlichkeit basiert.

Ihr zufolge gibt es nur zwei Geschlechter, die sich in ihrer körperlichen Erscheinung und sozialen Existenzweise unterscheiden und in ihrem sexuellen Begehren aufeinander bezogen sind. Körper, Existenzweisen und Formen des Begehrens, die dieser normativen Ordnung nicht entsprechen, gelten als unnatürlich, anormal und krank.

Die Praxis und der gesunde Menschenverstand zeigen, dass die deutsche Gesellschaft schon lange nicht mehr »heteronormativ« im Sinne dieser Definition ist: Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung sind heute rechtlich und gesellschaftlich in nahezu allen Belangen gleichgestellt – und das ist auch richtig so.

Die Vorstellungen von der Zweigeschlechtlichkeit sind erst recht nicht »naturalistisch«: Sexuelles Begehren und Fortpflanzung sind in unserer Gesellschaft weitgehend entkoppelt. Es gibt viele Arten von Verhütungsmitteln, es gibt einen hohen Grad an sexueller Aufklärung, es gibt die Fortschritte der modernen Medizin …

Die Gesellschaft ist heute im Grunde toleranz-normativ: Wer eine nicht-heterosexuelle Beziehung öffentlich als »unnatürlich, anomal oder krank« bezeichnet, der macht sich damit zum Außenseiter. In den Medien werden solche Aussagen allenfalls noch als Kuriosum dargestellt, aber als Meinungsäußerung überhaupt nicht mehr ernst genommen.


Auch wenn man über den Grad der Aufklärung und der Toleranz im Detail diskutieren mag: Die »queer-feministische« Perspektive ist in dieser absoluten Form in keiner Weise haltbar. Weil die Autorin aber diese spezielle elite-feministische Weltanschauung zum Nonplusultra erhebt, wundert es nicht, dass in der Studie ohne Begründung solche Aussagen wie auf S. 14 zu finden sind:

Auf den ersten Blick erscheint dieser Themenbereich für feministische Auseinandersetzungen mit Netzpolitik wenig herzugeben. Ein Blick in die feministische Rechtwissenschaft zeigt aber, dass das Gegenteil der Fall ist: Auch das Urheberrecht ist grundlegend vergeschlechtlicht. So stellt Ann Bartow fest: „Copyright laws are written and enforced to help certain groups of people, largely male, assert and retain control over the resources generated by creative productivity. Consequently, the copyright infrastructure plays a role [...] in helping sustain the material and economic inequality between man and women“ (Bartow 2007: 551f.).

Hier kann man ein typisches Argumentationsmuster »queer-feministischer« Autorinnen erkennen. »Auf den ersten Blick« scheint das Thema neutral zu sein, aber die Perspektive der »queer-feministischen Wissenschaft« ist so überzeugend, dass man sie gar nicht mehr begründen muss: Das Urheberrecht ist eine »historisch männliche Konstruktion« und benachteiligt Frauen!

Das werden erfolgreiche Autorinnen wie J. K. Rowling, A. Christie oder auch E. L. James sicher mit Interesse lesen. In Wahrheit ist es doch so: Jemand bringt ein Werk auf den Markt, an dem mehr oder weniger Leute Interesse haben. Das Urheberrecht gibt der Autorin oder dem Autor die Möglichkeit, aus unterschiedlichen Lizenzen die passende zu wählen. Die Kopien des Werkes müssen nicht für Geld verkauft werden – das Werk kann auch unter eine Public-Domain- oder CC-Lizenz gestellt werden. Darin gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Autorinnen und Autoren.

Um das Urheberrecht zu verstehen, braucht niemand eine »feministische Rechtwissenschaft« und so verquere Ausdrücke wie »Vergeschlechtlichung«. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass »feministische Rechtwissenschaftlerinnen« die Welt nur deshalb aus einer »queer-feministischen Perspektive« betrachten, weil sie gar keine andere Perspektive kennen oder weil sie dem Wettbewerb aus den Weg gehen wollen. Also werden nichtssagende Zitate aus solchen »Studien« an das große genderistische Zitierkarussell gehängt …

Aus ihrer »queer-feministischen« Perspektive beklagt die Autorin auch, dass Kochrezepte oder Strickanleitungen im Urheberrecht nicht berücksichtigt werden. Das stimmt nicht: Die Darstellung eines Rezeptes (mit Foto und Anleitung) in einem Kochbuch fällt selbstverständlich unter das Urheberrecht. Niemand darf das Rezept aus dem Kochbuch kopieren und einfach ins Netz stellen. Andererseits kann man ein Kochrezept nicht zum Patent anmelden – aber das betrifft natürlich Köchinnen und Köche gleichermaßen …

Das oben zitierte Diktum über die angeblich überlegene »feministische Wissenschaftstheorie« kann vermutlich noch an vielen anderen Beispielen widerlegt werden. Treffend ist hier ausgerechnet ein Zitat von Jürgen Habermas:

[Die Theorien] erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt.

Dieser Satz muss den feministischen Wissenschaftstheoretiker*Innen täglich wie ein rotes Tuch vorkommen …


Es ist im Übrigen interessant, dass in der Studie der Heinrich-Böll-Stiftung nicht auf mögliche Interessenkonflikte hingewiesen wird. Man könnte doch die Frage stellen: In welchem Maße profitiert diese Stiftung von Fördergeld oder anderem Steuergeld, das für »Gender Studies« ausgegeben wird?


Quellenangabe: Die Sätze von Karl Popper und Jürgen Habermas sind zitiert aus der Schrift »Gegen die großen Worte« [in: »Auf der Suche nach einer besseren Welt«, Serie Piper, München und Zürich 1989, S. 100 und 110ff].


Stefanolix

© stefanolix. Für Kommentare bitte hier klicken.